Die Gesetze unserer Wohnung:
Bevor du hereinkommst, zieh die Schuhe aus.
Häng die Jacke hinter die Tür.
Wasch dir die Hände. Mit Seife. Mit der Bürste, wenn du Dreck unter den Nägeln hast. Sonst macht es jemand anderer für dich. Und du weißt, wie sich das anfühlt.
Ruf kein Hallo in den Gang, verkünde nicht: Ich bin DAAAA, wie du es aus den anderen Wohnungen im Haus hörst. Begrüße deine Mutter und deinen Vater, indem du zu ihnen gehst und ihnen ins Gesicht schaust. Oder schau zumindest ihre geschlossene Zimmertür an.
Die Einzigen, die ihre Zimmertür schließen dürfen, sind deine Eltern.
Dein Vater darf sie auch vor deiner Mutter schließen.
Iss, wenn Essen da ist.
Unter der Woche wird beim Essen nicht geredet.
Die Reihenfolge für das Badezimmer: dein Vater, deine Mutter, dein Bruder; was du mit deiner Schwester aushandelst, ist eure Sache.
Alles hat seinen Platz, nicht nur die Schuhe vor der Tür. Jeder Gegenstand. Jeder von euch.
Wenn es kippt, sei schnell und wende dich unauffällig ab.
Wenn du die Sekunde verpasst hast: Dreh dich nicht weg, duck dich nicht, geh nicht aus der Tür. Und sag deiner Schwester, auch wenn du es ihr schon hundertmal gesagt hast, es bringt nichts, die Decke über den Kopf zu ziehen. Halt einfach hin. Halt hin und warte, bis es vorüber ist. So geht es schneller. Es wird sich beruhigen. Es beruhigt sich immer.
Sag Auf Wiedersehen, bevor du gehst.
Du darfst nie im Streit auseinandergehen.
Meine Schwester spielte ein Spiel. Sie nahm die Spannung in der Luft, griff nach ihr mit beiden Händen und zog sie lang.
Meine Schwester war aufmerksam. Ihr entging kein Augenzucken, kein Stirnrunzeln, sie wusste immer ganz genau, wann es kippte. Wir alle wussten es. Eigentlich hatten wir auch die Fähigkeit, es aufzuhalten. Meistens zumindest. Wir sahen es kommen. Wir wussten, wann wir lieber stumm nickten, obwohl alles in uns schrie, wann wir uns lieber bewegten, obwohl alles in uns regungslos sein wollte, und wann wir zu Stein wurden, obwohl unsere Beine versuchten davonzukommen. Es war nicht schwer. Wenn man weiß, wie es geht, ist es nicht schwer. Eine Familie versteht man. Sie ist wie eine Impfung.
Meine Schwester spielte ein Spiel. Sie sagte: »Wisst ihr, dass die Nachbarin gestern nackt gekocht hat? Schaut mal! Vielleicht macht sie es heute wieder!« Sie stand vom Esstisch auf und schob den Vorhang zur Seite, dieses sorgfältig angebrachte Stück Stoff, das uns zu etwas Besserem machte als die da drüben. Zwei Meter trennten unsere beiden Küchenfenster. Eine Mutter lebte dort mit ihrem erwachsenen Sohn. Sie kochten viel und gefährlich, dauernd brannte etwas an. Dann öffneten sie das Fenster und füllten den gesamten Lichtschacht mit dichtem Rauch. Genauso stritten sie auch. Viel und laut, und dann öffneten sie das Fenster und ließen ihren Ärger hinaus.
»Bibiana!«, rief mein Vater. »Zieh sofort den Vorhang wieder zu!« Bibi aber blieb regungslos stehen, sie nahm die Spannung in der Luft und zog sie lang, sie saß die Minute aus, in der mein Vater immer ungeduldiger wurde, in der ihm die Wut vom Bauch in den Kopf schoss und ihm die Finger zitterten. Er ließ die Gabel fallen. Das war das letzte Zeichen für meine Schwester, es noch abzuwenden. Sie ließ die Gelegenheit vorbeiziehen. Mein Bruder versuchte einzugreifen, er nahm ihr den Stoff aus der Hand und zog den Vorhang wieder zu. Aber das waren nicht die Hände, die mein Vater sehen wollte. Es wurde still in der Küche. Mein Vater stand auf, er beugte sich über den Tisch, holte aus und schlug meiner Schwester ins Gesicht. Der Schlag knallte und das Besteck klirrte, weil mein Vater nie schlagen konnte, ohne mit seinem Körper noch woanders anzustoßen. Die Welt war einfach zu klein für ihn, sogar für seine Ohrfeigen.
»Jetzt setz dich ordentlich hin«, sagte er. Meine Schwester überlegte. Wollte sie das Spiel weiterspielen? Im Großen und Ganzen steckte sie es gut weg. Ihr Körper war anders als meiner. Sie konnte es als Auszeichnung empfinden, geschlagen zu werden. Nicht wie ich, für die es leidig war, aber unvermeidbar. Eine Verfehlung hat Konsequenzen, das weiß doch jede. Meine Schwester reizte unseren Vater gern. Sie wollte nicht nur geschlagen werden, wenn sie aus Versehen eine Verfehlung begangen hatte. Er sollte wissen, dass es ihre Entscheidung war, wenn er die Kontrolle verlor. Sie hasste die Situationen, in denen sie sich doch besann und er dann sagte: »Jetzt hättest du dir fast eine eingefangen.« Das war eine Beleidigung für sie. Das ertrug sie kaum.
Heute war es genug. Heute hatte sie nicht die Kraft, um weiterzuspielen. Ich sah das. Sie war meine Schwester, ich kannte sie seit ihrem ersten Tag auf dieser Welt. Der Schlag hatte sie erschöpft. Sie setzte sich hin. Ihre rechte Wange glühte rot von ihrem kleinen Triumph.