Sechseinhalb Jahre arbeitete ich in der Klinik, als der Doktor mich das erste Mal in sein Büro bat, »auf ein Wort«. Da war mir bereits zu Ohren gekommen, dass er einen neuartigen Eingriff durchführen wollte. Schwestern sagten, es sei ein radikaler Behandlungsansatz, um Menschen von seelischen Störungen zu heilen. Der Doktor habe diesen aus den psychiatrischen Anstalten in die Klinik gebracht, um ihn hier richtig weiterentwickeln zu können.
Ich hatte damals selten direkt mit dem Doktor zu tun. Ich unterstand den älteren Schwestern, und es waren sie, die mich anwiesen. Trotzdem wusste ich natürlich von seinen Eigenheiten. Ohne aufzublicken, erkannte ich ihn an seinem Gang. Er ging nicht gehetzt wie wir. Er hatte die Bestimmtheit eines Mannes, dessen Zeit als kostbar galt.
»Wie hat es Ihnen im Operationssaal gefallen?«, fragte er. In leichter Schieflage saß er auf dem Stuhl. Wir alle wussten, dass sein Rücken ihn plagte. Es war schließlich unabdingbar, so etwas über die Vorgesetzten zu wissen, um Situationen richtig lesen zu können. Jede Schwester verstand, was die hochgezogenen Schultern bedeuteten, die weißen Fingerknöchel am Rand des Klemmbretts. Sie hörte die kaum vernehmbaren Brüche in der Stimme, wenn sie nach etwas gefragt wurde. Sie hatte gelernt, sich dann nicht kleinzumachen. Aufrecht bleiben, unnötige Geräusche vermeiden, Hände ausschütteln, damit das Unbehagen den eigenen Körper nicht versteifen konnte.
»Sie meinen während meiner Ausbildung?«
Er blinzelte. Seine Art zu nicken, wenn der Schmerz zu groß für Bewegung war.
»Ich mochte es.« Das war nicht gelogen. Ich verstand, warum es Schwestern in diesen Zweig lockte. Im zweiten Ausbildungsjahr war ich bei Operationen dabei gewesen, eine davon unter der Führung des Doktors. Wie sehr hatte ich über die Taktung von allem gestaunt. Selbst der kleinste Handgriff war im Operationssaal vorgegeben. Und der Mensch auf dem Tisch, das, womit sich einige am schwersten taten, schlief.
»Sie haben nie überlegt zu wechseln?«
»Nein.«
»Warum?«
Ich erwiderte seinen Blick. Ich verstand das ehrliche Interesse darin nicht.
»Nun, Sie sind gründlich. Halten sich an Abläufe. Handeln schnell und besonnen, wenn es erfordert ist. Sie lieben die Medizin und glauben an Fortschritt. Das sagt zumindest die Stationsleitung über Sie. Und meiner Erfahrung nach hat die Stationsleitung immer recht.«
Er räusperte sich. »Da ist die Frage doch naheliegend, warum Sie nicht da sind, wo der Fortschritt passiert? Warum Sie auf Station arbeiten, wenn Sie im Operationssaal sein könnten.«
Die meisten Chirurgen neigten zum Jähzorn. Sie waren bekannt für ihre Ausbrüche und pflegten sie. Danach konnte man sich richten. Das Grobe und Laute folgt einfachen Regeln.
Mit dem Doktor war es anders. Ruhiger. Das hatte ich selbst so erlebt. Er fragte nach seinen Instrumenten, widmete sich seiner Patientin, gab Anweisungen, er wurde nie laut. Er schwitzte noch nicht einmal. Als ich damals aus dem Operationssaal gekommen war und mir die Hände wusch, stellte ich fest, dass ich zitterte. So ruhig war es die ganze Zeit gewesen, mein Körper wusste nicht, wohin mit sich.
»Ich würde die Feinheiten vermissen. Im Umgang mit den Menschen.«
»Erzählen Sie mir von diesen Feinheiten.«
Etwas in mir lachte. Ich presste die Lippen aufeinander, damit es drinblieb.
»Geben Sie mir ein Beispiel.«
Es war nicht üblich, dass ein Arzt nach unserer Arbeit fragte. Nicht so offen. Üblicherweise taten sie einiges, um zu kaschieren, dass sie unser Wissen benötigten.
»Sagen wir, eine Patientin ist zwischen Leben und Tod.« Ich rückte ein Stück vor auf meinem Stuhl. »Und ich weiß, so steht es in den Vorgaben geschrieben, dass ich sie mit ihrem Nachnamen anzusprechen habe, weil … die Vornamen sind für uns Schwestern reserviert.«
Seine Mundwinkel zuckten. Ein Lächeln? Kurz fürchtete ich es. Ich wollte nicht von ihm angelächelt werden. Ich wollte nicht, dass er mich mochte. Bislang hatte ich so etwas vermeiden können. Es endete selten gut, von einem Arzt gemocht zu werden.
»Aber ich werde diese Patientin nach ihrem Vornamen fragen. Oder ich werde ihren Vornamen den Akten entnehmen, wenn sie nicht Auskunft geben kann. Ich werde sie damit ansprechen, wenn ich sie versorge.«
»Warum?«
»Weil … ein Name eine Zuordnung ist. Etwas, mit dem sie sich durch die Welt bewegt. Aber ihr Vorname ist das, womit man nach ihr gerufen hat. Bevor sie überhaupt selbst sprechen konnte. Das ist in ihr drin. Tiefer als …« Ich verstummte. Diesen Gedanken vor ihm auszusprechen, fühlte sich plötzlich an, als hätte ich ein Geheimnis verraten. Ein kindliches Geheimnis. Der Doktor konnte es in der Luft zerreißen. Diese Macht hatte ich ihm gerade gegeben.
Er legte seine Hand auf die Brust. »Das heißt, sollte ich je halb tot hier liegen und Sie nannten mich Jonas, würden Sie mich damit zu den Lebenden zurückrufen?«
Ich sah auf den Tisch. Ein Foto von seinen Töchtern stand dort. Er brüllte immer in den Telefonhörer, wenn er sie anrief, als sei die Verbindung zu ihm nach Hause besonders schlecht. Man hörte ihn manchmal, beim Vorbeigehen durch die geschlossene Tür. Dann wusste man, dass es eines seiner Mädchen war, mit dem er gerade sprach.
»Ich würde Sie bestimmt nicht einfach Jonas nennen. Egal, in welchem Zustand.«
Er verschränkte die Arme. »Ich möchte mehr über diese Feinheiten wissen. Bald. Wir werden wieder sprechen.«
Das taten wir. Von da an bat er mich nach meiner Schicht häufiger in sein Büro. Er ließ mir Kaffee bringen. Er sagte, er interessiere sich für das Mitgefühl. Er glaube, es werde vernachlässigt, inwiefern die menschliche Komponente bei der Behandlung eine Rolle spiele. Darüber wolle er mehr in Erfahrung bringen.
Ich klärte ihn über die unterschiedlichen Haltungen der Schwestern auf. Dass bei vielen das Mitgefühl verpönt war. Dass andere es als gefährlich verurteilten. Dass wiederum andere der Überzeugung waren, es sei Hauptbestandteil unserer Arbeit. Es kam auf die älteren Schwestern an, wie die jeweilige Station geprägt war. Bei uns dominierte der Glaube daran, dass es etwas Gutes sei. Unabdingbar. So war ich geschult worden.
Wenn wir in seinem Büro saßen, fing er unser Gespräch fast immer mit einer Beobachtung an: »Ich habe gesehen, dass Sie sich nach Schichtende noch Zeit genommen haben, um für die Patientin einen Brief zu schreiben. Sie haben ihn zwar geschrieben, aber die Patientin musste ihn diktieren. Darauf haben Sie bestanden. Dabei wäre es Ihnen wahrscheinlich leichtgefallen, diesen Brief selbst zu formulieren.« Er sagte: »Sie merken sich Details. Eine Vorliebe für Milch im Tee. Eine Begeisterung für das Kino.« Seinen Beobachtungen folgte die immer gleiche Frage. »Wozu? Versuchen Sie mir das mal ganz grundlegend zu erklären. So, als hätte ich von gar nichts eine Ahnung.«
Ich gewöhnte mich an die Stunden in seinem Büro. Es war ein Ort, an dem ich Privilegien ausgehändigt bekam. »Was halten Sie davon, wenn ich Sie von Ihren Nachtschichten befreie? Dann sind Sie stets da, wenn ich Fragen habe oder Ihnen etwas zeigen möchte.«
Manchmal winkte er mitten in einem medizinischen Gespräch ab und fragte mich stattdessen nach meiner Familie. »Ein Wildfang«, diagnostizierte er, nachdem ich ihm das erste Mal von Bibiana und einem ihrer Streiche erzählt hatte, »meine Jüngste ist auch nicht zu bändigen. Die älteren Geschwister halten die Welt zusammen, und die Kleinen trampeln sie kaputt. Das scheint ein Naturgesetz zu sein.«
Er griff nach dem Telefon. »Ich würde mich gern zweiteilen, dann könnten wir unser Gespräch bis in die Nacht fortführen. Aber meine Tochter ist heute nicht zuhause. Die erste Nacht in ihrem Leben, die sie woanders verbringt, und ich habe ihr versprochen, dass sie trotzdem meine Stimme hören wird.« Er gab die Nummer ein. Er blickte auf den Tisch, für einen kurzen Moment seiner Gewissheiten beraubt. »Ehrlich gesagt bin ich selbst ein bisschen nervös. Sie schläft bei ihrer Tante, es ist nicht so, dass sie auf Weltreise wäre. Ich hoffe wirklich, die Leitung hält.« Er hob zum Abschied die Hand, und ich stand auf, ging aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter mir. »Hallo?!«, hörte ich ihn noch auf dem Flur brüllen.
Ich blieb stehen. Ich wollte nicht einfach in den Abend verschwinden. In diesem Büro, mit ihm, wurden Dinge möglich. Diese Dinge waren jenseits von allem, was ich alleine ausrichten konnte. Sie waren das Gegenteil von Hoffnungslosigkeit.
Er lachte. Er fragte seine Tochter, ob er ihr eine Geschichte erzählen solle. »Oder lieber die, die du schon hundertmal gehört hast? Na gut, meinetwegen …«
Ich setzte mich auf die Bank vor seinem Büro und wartete, bis er wieder aufgelegt hatte. Er bat mich nicht noch einmal herein. Auch daran gewöhnte ich mich, dass es immer er war, der unseren Gesprächen ein Ende setzte.