Ich sollte mein eigenes Werkzeug sein. Der Doktor ging davon aus, dass das genügen würde. So brachten wir die ersten Eingriffe hinter uns.
Die Patientinnen wurden in einen Zustand versetzt, der ihnen das Bewusstsein ließ, aber die Schmerzen nahm. Sie saßen mit nach hinten geneigtem Oberkörper auf dem Operationsstuhl. Der Doktor und seine beiden Assistenten standen an ihrem Kopfende, ich ihnen gegenüber, so, dass mich die Patientinnen immer sehen konnten. Ich stimmte Lieder an. Ich buchstabierte Wörter mit ihnen. Ich erfand einfache Rätsel, die sie lösen sollten.
Meine fünfte Patientin war jung. Achtzehn Jahre, sagte der Pass, den sie in ihrem kleinen, leichten Koffer bei sich trug. Sie hatte ein paar Wochen in einer Jugendarrestanstalt gesessen, bevor sie zu uns kam.
Das Gespräch mit dem Doktor über den bevorstehenden Eingriff fiel kurz aus. Sie stellte keine Fragen. Als ich nach seiner Verabschiedung noch bei ihr blieb, sagte sie: »Gehen Sie ruhig. Sie werden bestimmt woanders gebraucht. Es ist schon gut.«
Sie aß kaum am Abend vor dem Eingriff. Nur zögerlich trank sie vom bereitgestellten Wasser, als wäre jeder Schluck zu kostbar für sie. Unter der Bettdecke verwahrte sie die gefaltete Kleidung, mit der sie zu uns gekommen war. Es lag nichts anderes in ihrem Koffer, was sie hätte anziehen können.
Das Gefühl des Fehlens verfolgte mich an diesem Abend. Das Fehlen von Dingen, das Fehlen von Menschen, welches die junge Frau umgab. Es hatte sie niemand in die Klinik begleitet. Selbst ihre Zimmernachbarinnen waren ihr keine Gesellschaft. Sie, mit ihren vollen Koffern, mit ihrer Aussicht auf Besuch, wollten sich mit der Einsamkeit nicht anstecken.
Am nächsten Tag nahm ich Bibis Buch mit zur Arbeit. Es hatte mich schon oft getröstet, wenn mir meine Schwester fehlte. Sollte dieser Trost nicht übertragbar sein?
Sie wollten lachen über mich im Operationssaal, aber der Doktor ließ es ihnen nicht durchgehen. Ich sah ihre Blicke, als ich das Buch öffnete und die Patientin bat, mir zu sagen, was sie auf den Bildern sehe. Ich erinnere mich an ihre Aufmerksamkeit. An ihre Ruhe. An die Blicke um uns, die kurz verwundert waren und sich dann abwandten.
Es war der erste Gegenstand. Der Anfang der blauen Schachtel. Von da an füllte ich sie rasch und nutzte sie für jeden Eingriff. Der Doktor lobte mich dafür. Er brachte selber Dinge für die Schachtel mit, wie das Kartenspiel. Er hatte es auf einer Reise erstanden. Es war so schön, es stach aus allen anderen Gegenständen heraus.
Bibis Buch nutzte ich nur für diese eine Patientin. Sie hieß Vera. Ich sollte mir ihren Namen nicht merken, sollte mir keinen der Namen merken. Trotzdem blieb er mir. Vier schlichte Buchstaben in einem Pass, der bewies, dass es sie gab.
Ich ließ das Buch noch bei ihr, bis sie entlassen wurde. Dann nahm ich es zurück ins Schwesternwohnheim und legte es wieder in meinen Schrank. Es war nicht für die Klinik bestimmt, dachte ich. Sein Ort war in diesem Zimmer, bei mir. Solange das Buch in diesem Zimmer war, war auch Bibi da.