»Haben Sie gar nichts anderes zu tun?«, fragte sie mich, während sie die Karten mischte.
»Sie sind meine Aufgabe«, sagte ich.
»Das hier?« Marianne Ellerbach blickte auf die beiden Stapel, die sie uns austeilte.
Ich nickte. Natürlich war es absurd, während einer Schicht mit einer Patientin Karten zu spielen. Aber so war es mir vom Doktor angetragen worden. Ein Notfall hielt ihn seit der Nacht im Operationssaal. Der Eingriff, der eigentlich an diesem Morgen stattfinden sollte, war auf den nächsten Tag verschoben worden. Also saß ich bei meiner Patientin. Meine Zeit gehörte ihr.
Das war die Macht des Doktors: Er konnte meine Zeit jemand anderem in die Hände geben. Er konnte uns auch von Einheiten befreien, die üblicherweise unsere Tage in der Klinik takteten: sieben Minuten für die Koffer. Acht Minuten, um ein Bett frisch zu beziehen. Vierzehn Minuten für die Körperpflege. Gottgegebene Einheiten, anfangs von den älteren Schwestern gestoppt, die einen tickenden Zeiger in sich drin hatten. Bis er auch in mir selbst zu wachsen begann.
»Wo wohnen Sie eigentlich?« Sie deckte die erste Karte auf. Seit ich ihr am Vortag von Bibi und ihrem Spiel erzählt hatte, fragte sie mich nach allen möglichen Dingen. Ich kannte die Neugier. Sie befiel die meisten, die in diesen Betten lagen. Und ich wusste, welche Art von Flucht sie damit erbaten. Also lieh ich mir Geschichten aus, die beim Abendessen im Wohnheim erzählt wurden. Ich lieh mir die Träume der Schwestern. Ich lieh mir ihre Männer. Oder ich erfand ein anderes Leben für meine Geschwister, so simpel, so befreit von allem, was sie ausmachte, dass ich mich jedes Mal danach schämte.
»Ich wohne in einem Schwesternwohnheim. Nicht weit von hier.«
»Mit geteilten Zimmern?« Sie hatte etwas an sich, ich wusste nicht, was es war. Geliehenes, Erfundenes zu erzählen, schien ihr gegenüber kaum möglich.
»Ja.«
»Ich habe für ein paar Jahre ein Internat besucht. Dort gab es auch geteilte Zimmer.« Sie war es also gewohnt, das Zuhause an einen anderen Ort zu bringen. Das hatte ich mir schon gedacht. So schnell waren ihre persönlichen Dinge arrangiert gewesen, wie ein Zirkuszelt, das mit geübter Hand abgebaut und wieder aufgespannt wird.
»Mochten Sie das?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich glaube schon. Manchmal hat es mich auch abgestoßen. Diese Nähe. Dieses ständige Beobachten. Ein paar Mädchen haben in Schubladen voneinander gewühlt, fremde Tagebücher gelesen. Und die Haare in den Duschen. Die kleinen Blutklumpen, die sich manchmal drin verfingen.« Sie rümpfte die Nase. »Man konnte nie vergessen, dass man einen Körper hat, weil alle … alle ständig einen Körper hatten.«
»Ja. So ist es bei uns auch.« Immer der warme Geruch auf den Toiletten. Ich hätte blind gewusst, wer vor mir da gewesen war. Schon bevor ich die Namen der anderen Schwestern kannte, war das so.
»Fahren Sie manchmal in die Stadt?«
»Hin und wieder, ja.«
»Und was machen Sie da?«
»Besorgungen.«
Kurz wirkte sie verunsichert. »Sie sind keine Nonne, oder?«
»Ich gehe auch aus.«
»Gut. Gut für Sie.«
Ich sehnte mich nicht nach den Restaurants und Tanzlokalen wie die anderen Schwestern. Nur selten ging ich mit. Dann war ich wie alle. Aber es war nicht meine Welt.
Marianne legte eine Karte. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie war kurz vor dem Gewinnen.
»Ich hab meiner Zimmernachbarin mal einen Zahn ausgeschlagen.« Sie sah wieder auf den Tisch.
»Weil Sie wütend waren.«
»Wir waren beide wütend. Ich war ein bisschen geschickter mit meinen Schlägen.«
Ich versuchte, ihr Gesicht zu lesen, die Augen, die Nase, die Mundwinkel, um zu verstehen, warum sie mir das erzählte.
»Sie hat mir den Zahn dann zum Abschied geschenkt.«
»Das ist … bizarr.«
»Sie war nicht gut mit Worten.«
»Und der Zahn hat was genau gesagt?« Ich legte die nächste Karte, ohne den Blick von ihr zu nehmen.
»Geben Sie sich doch Mühe!«, rief sie plötzlich aus. Sie nahm die Karte vom Tisch und drückte sie mir zurück in die Hand. Ich musste unweigerlich lachen. Das schien sie noch mehr zu verärgern.
»Meine Schwester hat das früher auch gemacht«, erklärte ich, »wenn sie wusste, dass ich sie gewinnen lasse.«
»Aber Sie lassen mich nicht gewinnen. Sie verlieren einfach.«
Sie tippte die äußerste Karte in meiner Hand an. »Probieren Sie es damit.«
Das tat ich. Ihr Ärger wurde weniger.
»Sie müssen sich um Ihre Schwester keine Sorgen machen«, sagte sie. Ich hatte ihr auf Nachfragen von Bibis Reisen erzählt. Von den Halb- und Fastkatastrophen, in die sie schon geschlittert war. »Eines Tages wird sie zurückkommen. Und dann kann sie auch behandelt werden.«
»Sie kommt nicht zurück.« Erst vor Kurzem hatte ich es das erste Mal ausgesprochen. Es lag noch immer komisch auf der Zunge, wie ein Fremdkörper.
»Natürlich kommt sie zurück. Was glauben Sie, wie oft ich abgehauen bin?«
»Nein, Sie verstehen das nicht. Sie hat sich verabschiedet. So wie man sich bei uns verabschiedet.«
»Man sagt Tschüss statt Auf Wiedersehen?«
»Man darf nicht im Streit gehen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie sind zu viel, Schwester.«