Meine Schwester weinte. Sie schämte sich nie für ihre Tränen. Mich machte das wütend. Mit Schleifpapier wollte ich ihr die Tränen von den Wangen wischen. Andere Male nahm ich sie in den Arm und hielt sie. »Weine nur«, sagte ich dann, und sie tat es hemmungslos, es schüttelte sie, sie gab Laute von sich wie ein verletztes Tier.
Da war ein Mann in unserer Straße, dem sie gefiel. Nichts Ungewöhnliches. Bibi lockte etwas aus den Menschen heraus. Sie lächelten Bibi an. Sie fassten ihr in die Haare. Sie sagten ihr, dass sie ein ganz besonderes Mädchen sei.
Der Mann wohnte drei Häuser weiter, im Erdgeschoss, mit seiner Frau und seinen zwei Mädchen. Wir sahen ihn oft. Er arbeitete spät, deshalb war er morgens und nachmittags zuhause. Das eine Fenster stand fast immer offen, er schien immun zu sein gegen Kälte, Regen und Wind.
Die Nachbarn mochten ihn. Sie blieben auf eine Zigarette vor seinem Fenster stehen. Sie reichten ihm Briefe herein, die er für sie übersetzte. Er beherrschte drei Fremdsprachen.
Seine Frau lebte einen anderen Rhythmus als er. Sie sahen sich nur ein paar Stunden am Tag. Meine Mutter meinte, das sei der Grund, weshalb sie sich so gut verstünden und am Wochenende Hand in Hand die Straße langgingen. Das machte sonst niemand über siebzehn.
Meine Schwester warf einmal zum Spaß Herbstlaub in das offene Fenster, ganze Armladungen voll davon, und natürlich flog ein Hundehaufen mit rein. Statt ihr die Ohren langzuziehen, lachte der Mann, belachte sie für ihre Frechheit, für die Reste des Hundehaufens, die an ihrer Hand klebten. Von da an grüßte er uns immer, wenn wir vorbeigingen.
»Was macht ihr so?«, fragte er.
»Wohin geht ihr?«, fragte er.
»Trottel«, sagte meine Schwester dann. »Denkt der, seine Töchter sind die Einzigen, die in die Schule gehen?« Sie winkte, ohne zu lächeln. Er liebte sie dafür. »Nichts geht über ein strenges Gesicht«, sagte er und zog sich wie zum Beweis die Mundwinkel nach unten. »Stimmt’s, Bibi?«
Meine Schwester ballte ihre Hände zu Fäusten. »Bibiana«, protestierte sie, »ich heiße Bibiana.«
»Aber wenn du jemanden liebhast, darf er dich Bibi nennen, ja?«
»Aber Sie hab ich nicht lieb.«
Wieder lachte er.
Wenn wir am Wochenende auf den Straßen spielten, tauchte der Mann hin und wieder plötzlich auf. Er spazierte vorbei, blieb stehen, rauchte eine Zigarette und winkte sein blödes Winken. Er störte mich. Ich wusste, ich interessierte ihn nicht, und er tat uns ja nichts. Er stand nur da, beobachtete uns und lächelte.
Ich wollte mich über ihn beschweren, aber irgendwie schien keine Stelle dafür geeignet zu sein. Wenn ich mich bei ihm direkt beschwerte, würde er uns garantiert zur Aussprache in die Wohnung einladen. Oder er würde seinerseits eine Beschwerde bei unseren Eltern einreichen, was wiederum die Gefahr barg, Hausarrest zu bekommen. Auch die Nachbarn kamen nicht infrage. Er stand hoch in ihrer Gunst, anders als wir Kinder. Überall sahen wir Dinge, die es nicht gab. Bibi mochte besonders sein — aber das war sie nicht zu ihrem Vorteil. Sie verstand das, selbst wenn sie keine Worte dafür hatte.
Sie schlug immer öfter Umwege vor. Wir mussten die halbe Strecke rennend zurücklegen, um es pünktlich in die Schule zu schaffen. Wilm machte das nur zweimal mit.
»Hör auf, dich so anzustellen«, rügte er seine Schwester. »Warum kannst du dich nicht normal verhalten? Was ist überhaupt los?«
Sie versuchte, es ihm zu erklären.
»Hat er dich beleidigt?«
»Nein.«
»Hat er jemand anderen beleidigt?«
»Nein.«
»Hat er etwas Dummes gesagt?«
»Nein.«
»Hat er dich angefasst?«
»Nein.«
»Dann …«
»Dann was?«
»Dann weiß ich auch nicht.«
»Ich auch nicht!«
»Dann hör halt auf.«
»Womit?«
»Dich anzustellen, das hab ich doch schon mal gesagt.«
Irgendwann schnitt sie sich die Haare ab. Mitten in der Nacht weckte sie mich, um mir ihr Werk zu zeigen. »Schau«, sagte sie, und ich erkannte im Dunkeln erst gar nichts. Sie nahm meine Hand und fuhr damit durch ihre kurzen Haare.
»Na, was sagst du, glaubst du, jetzt lässt er mich in Ruhe?«
Ärger. Ich sah den Ärger, den Bibi mit ihrer neuen Frisur provozieren würde. Ich sah die Haare, die überall im Badezimmer liegen mussten, die wir noch Tage, Wochen später in den unmöglichsten Ritzen finden würden. Wie sollten wir es erklären, wie die entscheidende Sekunde abpassen, um das Kippen zu vermeiden? Sagen, es seien doch nur Haare? Waren es ja auch. Konnten wir schlafen gehen, mit dem Wissen, der Morgen begänne mit einem Tosen, der Vater würde erst Bibi treten, dann mich, dann Wilm? Ich war müde, ich wollte nicht, ich war es leid, wegen Bibi gegrüßt zu werden, gefragt zu werden, wohin ich ging, wegen Bibi getreten und geschubst zu werden.
Ich ohrfeigte sie. Ich schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. »Wegen dir!«, rief ich aus und merkte gar nicht, wie laut ich war. Sie ging nicht in Deckung. Sie duckte nicht einmal ihren Kopf. »Wegen dir, du Miststück!« Miststück, das war sie, wenn man wütend auf sie war, das schrie mein Vater, das schrie meine Mutter, das sagten auch manchmal die Menschen, denen sie ja eigentlich gefiel. Das konnte in Verachtung umschlagen. Das ging manchmal schnell.
Bibi verstand. Sie sagte nicht »bitte«, sie sagte nicht, »es tut mir leid«, das sagten nur ihre Geschwister, nur wir bettelten, nur wir versuchten, uns zu verstecken, nur wir hofften, dass die anderen geprügelt wurden, nimm Bibi, nimm Wilm, nicht mich.
Sie weinte. Ich konnte sie hören, als ich danach auf dem Klo die Haare zusammensammelte, sie lagen überall, immer war alles durcheinander wegen ihr, die jetzt schluchzte und nach Luft rang und gleich das ganze Haus aufwecken würde. Wegen ihr war das.