»Nein.« Sie nahm die Karten zusammen und mischte sie wieder. Sie sagte nur dieses eine Wort. Keine Bitte, kein Verhandeln. Sie war eine Ellerbach, sie entschied. Vielleicht nicht zuhause, nicht unter ihren Brüdern, sicher nicht unter ihrem Vater. Aber hier gab es nur sie und mich.
»Sie müssen schlafen«, sagte ich. Und fügte sicherheitshalber noch an: »Der Doktor verlangt es so.«
»Dann schlafen Sie auch hier.«
Zweimal hatte ich mich schon zu verabschieden versucht. Nach der fünften Runde gesagt, dass ich schlafen gehen müsse. Und sie hatte nur den Kopf geschüttelt, die Karten gemischt, neu ausgeteilt.
Seit sechzehn Stunden war ich in der Klinik. Ich hatte den gesamten Morgen damit verbracht, Karten zu spielen. Später war ich anderen Pflichten nachgekommen. Trotzdem musste ich weiter stündlich nach Marianne Ellerbach sehen. Ich musste sicherstellen, dass sie nicht doch noch die Nerven verlor. Verzögerungen brachten diese Gefahr mit sich.
Sie schwitzte. Ihr Körper wusste, was ihm bevorstand. Tropfen auf der Stirn, unter dem Kinn, im Nacken, sein Versuch, Fieber zu erzeugen und damit alles auszutreiben, was wir eingeflößt hatten. Bald käme jemand mit einem Mittel für die Nacht. Darauf wartete ich. Schlaf würde den Körper beruhigen. Wer schläft, sagen die Mittel, ist nicht in Gefahr.
Die letzte Runde war an mich gegangen. Mit der aufkommenden Müdigkeit schien ich besser zu werden in unserem Spiel. Mein Gewinnen weckte ihren Ehrgeiz. Aber ich konnte nicht absichtlich eine falsche Karte legen, das wäre ihr sofort aufgefallen.
»Mögen Sie Ihre Zimmernachbarin?«, fragte sie.
»Ja.« Der Gedanke an Sarah flutete mich mit plötzlicher Wärme. Ich merkte, wie ich errötete. Sie konnte es nicht sehen. Das Licht erleuchtete nur den Tisch, wo unsere Karten lagen. Vielleicht konnte sie es spüren. Spürte die Wärme unter meiner Haut und wusste, was sie bedeutete.
»Ich mochte meine auch.«
»Wirklich?«
»Das glauben Sie mir vielleicht nicht. Wie gesagt, sie war fürchterlich unbeholfen mit Worten. Sie wusste überhaupt nicht, wie man jemanden … manipuliert. Beleidigt. Wie man jemandem unter die Haut kriecht, ohne ihn zu berühren.«
Anders als du, dachte ich.
»Und sie hat es mit mir ausgehalten. Dafür hat sie eigentlich einen Orden verdient.«
»Ich bin mir sicher —«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, wer ich bin.«
Sie sagte es mit einer Sicherheit, die mich erstaunte. Was war mit mir? Ich wusste auch, wer ich war. Ganz besonders, wenn ich diese Uniform trug. Ich konnte mich auf mich verlassen. Es war anders, wenn ich sie abgestreift hatte. Es herrschten dann andere Gesetze.
»Zu warm.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Hier drin ist es viel zu warm.« Sie legte ihre Karten ab, schlug die Decke zurück und stand auf. Eine Sekunde trugen ihre Füße sie, dann schlug der Schwindel zu. Sie streckte ihre Hand aus, suchte nach Halt, und ich sprang auf, packte sie unter der Achsel, half ihr, auf den Beinen zu bleiben.
»Ich will das Fenster aufmachen.«
Ich führte sie ums Bett herum. Ich hielt ihr Gewicht in meinen Armen. Alles an ihr war gespannt, wie eine Feder. Als sie am Fenstergriff rüttelte, legte ich meine Hand auf ihre, zeigte, wie man erst stoßen, dann ziehen musste, um ihn drehen zu können.
Mit den Fingern fuhr sie durch die kühle Nachtluft. Sie zeichnete Figuren ins Dunkel. Sie war mir so nah, ich spürte ihren Herzschlag, vernahm den abgestandenen Geruch, roch die Angst, die irgendwo darunter schwelte.
Sie zuckte kurz. Ich sah sie sich meinem Griff entwinden, auf das Fensterbrett steigen und springen. Erschrocken japste ich nach Luft.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte sie.
»Nichts.« Ich schüttelte das Bild ab. »Ich will weiterspielen.«
Sie nickte.
Eine Karte nur legte sie ab, als die Tür aufging und die Schwester mit dem Mittel für die Nacht hereinkam.
»Schneller«, wurde sie von Marianne angewiesen, »ich möchte die Runde noch zu Ende spielen.« Die Schwester warf mir einen Blick zu. Ich war es gewohnt. Manche verstanden das mit der blauen Schachtel und der Zeit. Manche nicht. Manchen, wie der Schwester, die jetzt vor uns stand, war jede Minute verhasst, die der Doktor mir gab. Er hatte sich nicht in unsere Arbeit einzumischen. Er sollte eine Schwester nicht Karten spielen lassen. So etwas führte nur zu dummen Gedanken.
»Das war’s schon. Gute Nacht.« Die Schwester ging. Ich wartete ab, was meine Patientin als Nächstes tun würde. Die nahm die Karten noch einmal kurz in die Hand. Die Konzentration in ihren Augen begann sich aufzulösen. Gleich würde sie einschlafen. Gleich würde ich aufstehen, gehen, das Zimmer und seinen Geruch für die Nacht zurücklassen.
»Wenn es nicht wehtun wird …«, sagte sie, und aus ihrer Stimme wich die Lebhaftigkeit. Sie legte die Karten zurück auf den Tisch, »was wird es dann? Alle sagen mir, ich werde nichts spüren, aber …«
»Sie brauchen keine Angst zu haben.«
»Ich habe keine Angst.« Sie schloss die Augen. »Morgen werde ich verschwinden.«
»Ihre Wut wird verschwinden«, berichtigte ich sie.
»Ja.« Sie suchte mit der Hand auf der Bettdecke. Ich überlegte, wonach, wollte schon aufstehen und zu ihren Sachen gehen, ehe sie meine Finger fand und sie festhielt. »Meine Wut wird verschwinden.«
Dann schlief sie ein.