Ich wachte an ihrem Bett auf. Ich konnte mir später nicht erklären, wie es passiert war. Ich erinnerte mich, dass sie meine Hand gehalten hatte. Ich war bei ihr geblieben, nur ein paar Minuten sollten es sein. Dann musste mich die Müdigkeit überwältigt haben. Ich brauchte einen Moment, bis ich verstand, wo ich war, bis es auch in meine steifen Füße und Hände einsank. Ich war davor nie am Bett einer Patientin eingeschlafen. Das war nichts, was eine Schwester tat.
Sie hatte die Augen offen. Den Kopf zu mir gedreht blickte sie mich an. Zwischen uns auf dem Tisch lagen die Karten, unberührt seit letztem Abend. Vor den Fenstern war es noch dunkel.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte ich. Meine Stimme klang belegt vom Schlaf.
Sie blinzelte nur. Ich sah sie mir von Nahem an. Sie war ruhig, schwitzte nicht. Ihr Atem ging regelmäßig. Ich fühlte ihren Puls. Das Mittel wirkte also. Warum sie nicht schlief, wusste ich nicht.
Eine Strähne fiel mir ins Gesicht. Als ich sie mir hinters Ohr strich, merkte ich, dass meine Haare offen waren. Ich fasste mit der Hand hinein, suchte nach dem Knoten, den ich jeden Morgen band und mit dem ich vor ein paar Stunden eingeschlafen war. Ich fand ihn nicht. Die Haare waren durcheinander, als hätte jemand entschlossen an ihnen gezogen.
Etwas in meinem Magen schlug dumpf auf. Dann stieg die Übelkeit hoch.
Zähl, befahl ich mir. So hatte man es mir beigebracht. Zählen, die Hand an der Brust, das Herz spüren, das darunter schlug, und dabei weiteratmen, durch die Übelkeit durchatmen. Ich zwang mich, an meine Füße zu denken. Sie trugen mich. Sie hatten mich noch nie im Stich gelassen.
Sie sah mich bei alledem an. Lag in diesem Bett und sah mich an. In ihren Augen war kein Ausdruck. Keine Antwort darauf, was hier vor sich ging.
Als die Übelkeit langsam schwand, regte sie sich. Sie drehte sich auf die Seite, zu mir.
»Bitte«, sagte sie leise.
Ich schüttelte den Kopf. Kein Bitten, nicht an mich.
»Beschreiben Sie es mir.«
»Was?«
»Das, was sie einschläfern. Mein Vater hat gesagt … es ist wie ein Tumor. Es wächst. Es ist krank und …«
»Schlafen Sie.«
»Ist es so?«
»Ja, es ist so.« Wenn sie es wollte, war es so. Ein Tumor, davor fürchtete man sich schließlich. Mehr als vor dem Eingriff. »Er könnte Sie eines Tages blind machen. Taub. Könnte Ihnen die Sprache nehmen. Bis Sie eine dieser hoffnungslosen Gestalten sind, die ihren eigenen Namen nicht mehr wissen. Man vergisst Sie. Man hört auf, Sie zu besuchen. Man gibt Ihnen nicht eine Minute mehr als das Allernötigste an Zeit. Wollen Sie das, Frau Ellerbach?«
Sie atmete ein. Sie hielt die Luft an.
»Marianne«, sagte sie schließlich und blies die Luft aus, »ich heiße Marianne. Ich will, dass du mich Marianne nennst.«