Ich trug mein Kleid. Das Kleid, das ich immer trug, wenn ich nachhause fuhr. Ich war eine Tochter darin. Ich hatte Sorge dazu getragen, seine Löcher geflickt, den Reißverschluss ersetzt, ich war in ihm nie woanders hingegangen als zu meinen Eltern.
Die anderen Kleider waren für ein anderes Leben. Für eine andere Meret.
Als ich im Zug zu meinen Eltern saß, spielte ich mit dem Stoff zwischen meinen Fingern. Es war der Sommer, kurz bevor wir mit den Eingriffen begannen. Der Sommer vor Sarah, als ich noch nichts von ihrem Gesicht wusste, nichts von den Dingen, die sie hinterließ.
Mein Vater hatte einen Herzinfarkt gehabt. Man rief mich an, als schon sicher war, dass er leben würde, »natürlich lebt er«, hatte meine Mutter am Telefon gesagt, und ich hörte die Brüche in ihrer Stimme, welche die Angst der letzten Stunden da reingeschlagen hatte.
Ich war eine Tochter. Ich war mir sicher gewesen, ich würde das immer bleiben, es gäbe kein Leben, in dem ich das nicht mehr war.
»Was für ein Zufall«, sagte Wilm beim gemeinsamen Abendessen, rieb sich die Hände und sah seine Schwester dabei an.
»Was soll es sonst sein?« Bibi war müde, wie wir alle. Sie musste es sein. Bis vor ein paar Tagen war sie auf Reisen gewesen. Vor einem halben Jahr aufgebrochen und jetzt das erste Mal zuhause. Zwei Nächte in ihrem alten Bett, als unser Vater vor ihrer Zimmertür einen Herzinfarkt erlitt.
»Ich hab immer gesagt, sie wird mich eines Tages ins Grab bringen.« Das hatte mein Vater mir im Krankenhaus zugeflüstert und dabei gelächelt. Am meisten liebte er Bibi, wenn er in ihrer Abwesenheit über sie sprach.
Er war bleich gewesen. Ich sah sein weißes Gesicht vor mir, während wir zusammen aßen, meine Mutter, Wilm, Bibi und ich. Wir hörten den Terz der Nachbarn. Das Essen war kalt. Wir zwangen es in kleinen Bissen runter.
»Du bist nicht alleine auf der Welt«, sagte Wilm. Er starrte wieder auf seinen Teller.
Sie erwiderte nichts darauf. Auch unsere Mutter tat, als habe sie nichts gehört. Darin war sie gut. Das hatte sie uns allen beigebracht. Irgendwie musste man in dieser Wohnung mit ihren zwei Zimmern, ihrer Küche, wo Wilm geschlafen hatte, bei seinen Besuchen weiterhin schlief, schließlich zurechtkommen. Sie verdiente unseren Dank.
»Sag wenigstens, dass es dir leidtut.«
Bibi hatte ihren Bruder immer bedingungslos geliebt. Als sie klein war, vielleicht zwei, schrie und tobte sie manchmal so heftig, dass meine Eltern sie in der Küche einsperrten. In der Küche, mit all ihren Töpfen und Gläsern und Tellern. Aber Bibi fügte nur sich selbst Schaden zu. Sie lief gegen Schränke, gegen die Tür. Sie haute auf die Tischkante. Sie trat den Ofen. Sie verlor gegen alle Möbelstücke. Wilm tröstete sie später. Er nahm sie in den Arm. Er legte seine Hand auf die schmerzenden Stellen. »Was war das?«, fragte er dann. »Der Tisch? Der war aber böse zu dir, das werde ich ihm heimzahlen.«
»Es tut mir nicht leid.«
Als Bibi das sagte, stand meine Mutter auf. Sie ging auf Toilette, wir hörten die Spülung, danach ihre Zimmertür, die zufiel. Wilm legte seine Gabel ab. Er nahm einen Schluck aus seinem Glas, holte aus und schüttete seiner Schwester das restliche Wasser ins Gesicht.
»Prügeln sollte man dich.«
»Wenn du meinst.«
Dann stand auch er auf. Er blieb einen Moment vor Bibi stehen und sah auf sie runter, und ich hielt die Luft an, es war so still, es war wieder so still in dieser Küche. Sie sah zu ihm hoch. Sie erwiderte seinen Blick, ohne Regung darin, das war wichtig, es durfte nichts in einem drin sein, wenn man unbeschadet bleiben wollte.
Er gab auf. Ich sah, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, als er sich von uns abwandte und die Küche verließ. Weil es kein Zimmer gab, in das er sich hätte zurückziehen können, knallte schließlich die Wohnungstür. Kurz spürte ich, wie ich ihm hinterherwollte. Ich wollte ihn in den Arm nehmen und trösten, ich wollte ihm sagen, dass Bibi es nicht so gemeint hatte, nie so meinte.
»Ich bin froh, dass du da bist«, sagte ich.
»Ich bin froh, dass er nicht tot ist«, sagte sie.
Ein plötzliches Rumpeln in der Nacht hatte meine Schwester geweckt. Als sie aus dem Zimmer gekommen war, um nachzusehen, lag er schon auf dem Boden. Auch unsere Mutter war wach geworden. Sie telefonierte nach einem Krankenwagen. Es war nicht knapp. Aber es hatte sich so angefühlt.
Ich streckte die Hand aus und fuhr Bibi durch die Haare. Sie wehrte sich nicht. Lange hatten wir davor im Dunkeln gelegen, beide wach, beide schlafend gestellt, beide wissend.
»Er denkt, es ist meine Schuld«, sagte sie.
»Das ist Blödsinn, Bibi.«
»Mein Bruder hasst mich.«
Ich wollte das abschmettern, aber sie kam mir zuvor. »Kannst du dich an den Abend erinnern, als ich davongerannt bin?«
Welcher von den vielen, wollte ich fragen und verkniff es mir.
»Er hat mich eingefangen wie ein Tier. Wie einen davongelaufenen Hund! Er hat mich auf den Boden gedrückt. Ich hasse dich!, hat er gesagt.«
Ich erinnerte mich. Ich war dabei gewesen. »Du hast es zuerst gesagt«, wendete ich ein. Sie hatte ihm sogar ins Gesicht gespuckt.
»Aber ich hab es nicht so gemeint. Ich hab ihn nur in dem Moment gehasst.«
Ja, sie hasste einen mit ganzer Kraft, mit ihrem ganzen Körper. Sie hatte auch mich schon so gehasst. Eine Eruption, die einem in die Gedärme fuhr. Und dann war es vorbei. Kein Hass, der in diesem Körper zurückblieb und zu faulen begann wie bei allen anderen.
»Ich werde morgen wieder aufbrechen.«
»Wohin?«
»Weiterreisen. Ich will noch so viel sehen.«
»Davor besuchst du noch Papa.«
»Natürlich.« Sie sagte es ohne Zögern. Zögern würde sie erst morgen vor der Klinik, das Gepäck schon geschultert, damit sie es sich notfalls anders überlegen und gehen konnte.
»Bibi, möchtest du nicht langsam irgendwo ankommen?«
»Wozu die Eile, ich bin doch nicht fünfzig.«
»Ich bin auch nicht fünfzig. Trotzdem ist es schön, etwas Festes zu haben. Einen Ort, wo man hingehört. Eine Aufgabe.«
»Eine Aufgabe«, wiederholte sie, und ich hörte ihre leise Belustigung. »Weißt du was, auf dem Papier bist du vielleicht nicht fünfzig, aber in dir drin, da bist du längst fünfzig, da bist du achtzig, wenn wir ehrlich sind.«
Ich zog sie an den Haaren.
»Aaaah!«, rief sie mit falscher Panik aus. »Schon wieder Strafe, Hilfe! Immer nur Strafe in diesem Haus!« Sie lachte. Eine Weile lagen wir dann schweigend da. Ihr Atem ging irgendwann regelmäßiger, ich dachte kurz, sie schläft.
»Er hat noch was gesagt, bevor sie ihn mitgenommen haben.«
Wenn wir den Schlaf lange genug verscheuchen, kriegen uns die Alpträume nicht, die Geister nicht, und wir haben geschenkte Stunden, die uns ganz allein gehören — das war ein Gesetz, das nur in unserem Zimmer galt.
»Er hat meinen Namen gesagt: Bibi, Bibi, Bibi. Wie eine hängen gebliebene Platte. Und dann hat er gesagt: Es tut mir leid, Bibi. Verzeih mir, Bibi.«
Bibi. Er hatte sie nie so genannt. Seine Tochter hieß Bibiana.
»Hast du?«
»Ja«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Ich hab mich dran gehalten. Du darfst nie im Streit auseinandergehen.«