Ein Schuh lag auf dem Boden. Ein einzelner Schuh, umgestoßen, wie in einem schlechten Theaterstück. Sein Anblick empfing mich, als ich nach einer langen Schicht in unser Zimmer kam. Vor Schreck rutschte mir die Tasse aus der Hand. Sie zerschepperte auf dem Boden.

»Hallo«, sagte der Kopf, der unter der Bettdecke auftauchte, »das wäre aber nicht nötig gewesen.«

Ich versteinerte. So stand ich da, während Sarah mein Gesicht studierte und darauf wartete, dass ich mich als Mensch zu erkennen gab. »Ich bin es«, sagte sie nach einer Weile. Sie zeigte mit dem Finger auf sich. »Deine Zimmernachbarin. Sarah. Wir haben uns letztens gesehen, für … zwei Minuten, wenn ich mich recht erinnere. Weißt du noch?«

Sarah. Ich wiederholte ihren Namen in meinem Kopf. Wo er ja oft gewesen war in den vergangenen Wochen. Nach unserem letzten Zusammentreffen war ich mir sicher gewesen, ich müsse mich nun wieder an ihre Abwesenheit gewöhnen. Ich hatte mich damit zu trösten versucht, wie aufregend die Arbeit in der Klinik gerade war. Dass wir einer Zukunft entgegenblickten, die Hoffnung bereithielt. Eigentlich war es gut, dass ich in diesem Zimmer ungestört sein konnte, allein mit dem Tag, mit den Eingriffen.

»Ich weiß«, sagte ich mit stockender Stimme, »natürlich weiß ich, wer du bist.«

Sie schlug die Decke zurück. Ohne den Blick von mir zu lösen stand sie auf, kam zu mir und kniete sich auf den Boden, um die Scherben der Tasse zusammenzusammeln.

»Nein!«, rief ich aus.

»Doch«, sagte sie, »ich hab dich schließlich erschreckt.«

»Dein Schuh.« Sie war mir zu nah. Ich wollte ihr zur Hand gehen, aber sie war mir zu nah. »Dein Schuh hat mich erschreckt.«

Sie sah sich um, bis sie ihn entdeckte. »Ich verstehe. Entschuldige, aber ich musste etwas werfen.«

»Ja.«

»Du musst nie etwas werfen?«

Eine gute Frage. »Ich würde manchmal gern«, gab ich zu. Dann fiel mir ein, wie ich stattdessen in mein Kissen schlug, reinbiss, in das Kissen hineinschrie. Ich war keine Schuhwerferin. Wenn sie rausmusste, ließ ich meine Verzweiflung an einem Kissen aus. Wie das kleine Kind, das ich einmal gewesen war.

»Ich hole kurz was zum Aufwischen.«

Sie ging aus dem Zimmer, und ich blieb stehen, blieb einfach stehen, wo ich war, wie eine Salzsäule. So hatte ich mich anfangs in der Klinik oft gefühlt. Zur Salzsäule erstarrt, wenn ich Menschen in ihrer Hilflosigkeit erlebte. Ich hatte davor nicht gewusst, wie hässlich Hilflosigkeit sein konnte. Wenn die älteren Schwestern mir in den Nacken zischten. Wenn sie mir aus der Hand rissen, womit ich gerade zugange war. Lag das nicht weit hinter mir?

Sarah kam zurück, ihr Lächeln streifte mich, als sie an mir vorbeiging. Mit einem Lappen wischte sie die verschüttete Flüssigkeit auf und verließ dann wieder das Zimmer. Ich schaffte es, mich aus meiner Erstarrung zu lösen. Ich ging die paar Schritte auf mein Bett zu, wo ich mich hinsetzte und den Schuh anstarrte. Für einen Moment war ich verwirrt, wie nach einem Traum.

»Du wolltest einen Tee trinken, nicht?« Sarah kam herein und öffnete die Schublade ihres Nachttisches. Ein paar kleine Flaschen stießen dabei klirrend aneinander. »Aber vielleicht ist dir nach etwas Stärkerem? Wir haben noch gar nicht darauf angestoßen, dass wir hier zusammenwohnen.«

»Wir haben uns auch erst zweimal gesehen.«

»Das stimmt.« Sie nahm eine der Flaschen aus der Schublade, zog zwei Schnapsgläschen heraus und füllte sie bis zum Rand. Eins davon reichte sie mir.

»Auf uns«, sagte sie und prostete mir zu.

»Auf uns«, sagte ich und kippte den Schnaps in einem Zug herunter, um ihn nicht zu verschütten. Der Alkohol brannte mir im Rachen. Eine Weile saßen wir da, drehten die kleinen Gläschen zwischen unseren Fingern hin und her.

»Ich werde ab jetzt häufiger hier sein.« Sie schenkte uns beiden nach. »Obwohl, häufiger ist relativ bei den Nachtschichten. Und du? Immer tagsüber? Im fünften Stock, stimmt’s?«

Ich nickte. Sie musste Dinge über mich aufgeschnappt haben. Beschwerden der anderen wahrscheinlich; dass ich zum Spaßen kein Talent hatte, meine Schuhe nie ordentlich abklopfte, mich von meiner Schwester zu unmöglichen Zeiten anrufen ließ und vom Klingeln des Telefons selbst nicht aufwachte. Wer lange genug im Wohnheim lebte, über den sprach man nur noch, wenn es Beschwerden gab.

»Mach dir keine Sorgen.« Sie trank das Glas wieder in einem Zug aus. »Ich hab kein Interesse daran, die ganze Zeit über die Arbeit zu reden. Wenn man den anderen hier zuhört, könnte man meinen, es gäbe sonst nichts im Leben.«

»Was gibt es denn sonst in deinem Leben?«

»Nun …« Sie lächelte ertappt. »Hauptsächlich Arbeit.«

»Im dritten Stock bist du?«

Sie nickte.

»Und wie ist es da?«

»Es ist …« Sie sah an mir vorbei zum Fenster. »Ich muss mich noch umgewöhnen.«

»Ist es schlimm mit den älteren Schwestern?«

»Nein. Das ist es nicht. Es war nur anders vorher. Freier. Ich bin zu den Leuten nachhause gefahren und hab geholfen, ihre Kinder sicher zur Welt zu bringen. Das war … so nah. Jetzt steht immer die Klinik zwischen mir und den Frauen.«

»Warum bist du weggegangen?«

Sie sah wieder zu mir. »Warum fragst du so viel?«

Ich verstummte schlagartig.

»Erzähl lieber von dir.«

»Ich mag es auf meiner Station. Es ist …«

»Von dir!«, rief sie lachend aus, »du sollst von dir erzählen, nicht von dieser Klinik!«

»Ach so.« Aber mir fiel plötzlich gar nichts mehr ein.

»Wir haben uns über Wochen hinweg nicht gesehen«, sagte ich stattdessen. Ich sagte nicht: Ich dachte, du meidest mich. Wir haben uns so verlässlich verpasst. Ich dachte, du bist nicht wie wir, du schläfst nicht, ein Leben ist dir zu wenig, du führst Dutzende.

»Ich weiß.« Das Lachen verschwand aus ihrem Gesicht. »Ich konnte nicht …« Sie sah auf ihre Hände. »Ich wollte nicht in dieses leere Zimmer kommen. Die letzten Monate waren schwierig.« Sie schenkte sich ein drittes Mal ein und vergaß mein Glas dabei. »Ich habe meine freien Tage gesammelt, um zu meiner Mutter zu fahren. Manchmal … hab ich auch bei den anderen Nachtschwestern geschlafen. Aber es ist besser geworden. Ich werde ab jetzt eine bessere Zimmernachbarin sein.«

Ich musste an unsere letzte Begegnung denken. Sie hatte die Tür hinter sich geschlossen, und etwas war von ihr abgefallen. Ihre Fassung. Vielleicht war sie da nicht aus der Klinik gekommen.

Sie hatte ein gebrochenes Herz. Jetzt sah ich es. Ein dritter Schnaps darauf, den sie mit geschlossenen Augen runterstürzte.

Ich wollte nicht überrascht sein. Schwestern trafen sich mit Männern, das wusste ich. Wenn ihnen die freien Stunden dazu fehlten, nutzten sie freie Minuten, zitierten Besagte in nächste Nähe zum Haus oder stahlen sich im Krankenhaus in einen toten Winkel. Manche Schwestern verließen ihren Beruf für die Männer. Gingen fort, wie meine alte Zimmernachbarin. Trotzdem glaubte ich, dass einige darüber erhaben waren. Die älteren Schwestern, die hier im Haus lebten oder sich in der Stadt kleine Wohnungen teilten. Jene alten Jungfern, die abends die Zeitung lasen und Jüngere dazu veranlassten, zu verkünden: »Nie werde ich so wie die!« Aber mir schien ihr Leben nicht schlecht.

»Was ist passiert?« Es ging mich nichts an. Ich wollte alles darüber wissen. Ich würde mitleiden, lächeln, Tröstendes sagen, wie eine gute Zimmernachbarin. Ich würde nicht enttäuscht darüber sein, dass Sarah gewöhnlich war, was die Angelegenheiten des Herzens anbelangte.

»Es wurden Entscheidungen getroffen. Für ein anderes Leben.« Sie stellte ihr Glas weg. Sie schüttelte den Kopf. Kein Wort mehr darüber. »Liest du mir was vor?«

»Vorlesen?« Sie hatte es gesagt, als wäre es Routine zwischen uns.

»Irgendwas. Lieber nichts Trauriges. Danach ist mir gerade nicht.«

Ich sah auf ihren Bücherstapel. »Nein, nichts davon.« Sie stieß die Bücher mit der Hand vom Nachttisch. »Das ist alles deprimierender Mist.«

Ich dachte an das Buch von Bibi. Das ging nicht. Der Schnaps, und mit ihm der Mut, waren außer Reichweite.

»Ich möchte einfach gerne eine Geschichte hören. Mach dir doch nicht so viele Gedanken drum. Oder hast du keine Bücher hier?«

»Ich habe ein Kinderbuch.«

»Ein Kinderbuch?« Sie stieg wieder unter die Decke. Ich biss mir auf die Lippe. Gleich wird sie mich auslachen, dachte ich.

»Das ist genau das Richtige.« Sie streckte sich. »Dein altes Kinderbuch?«

»Das meiner Schwester.«

Ich stand auf und ging zum Schrank. Dort zog ich Bibis Lieblingslektüre unter meinen zusammengelegten Kleidern hervor. »Sie wollte das immer und immer wieder hören. Sie ist fünf Jahre jünger als ich.« Meine Zunge wurde locker. »Als Kind ist sie schlafgewandelt. Meine Schwester, sie … ich glaube, sie hatte Angst vor dem Schlaf. Sie konnte sich später nicht dran erinnern, dass sie durch die Wohnung gewandert ist, aber sie war danach ganz erschöpft. Also, vielleicht hat sie gewusst, dass sie nicht schläft wie alle anderen und einfach daliegt, sondern dass sie Distanzen zurücklegt und Treppen steigen will, und dieses Buch hier war das Einzige, womit man sie zurückholen konnte. Eine Geheimwaffe. Unsere Geheimwaffe.«

Sarah streckte ihre Hand aus. »Zeig mal«, sagte sie. Während der Wasserfall an Worten in meinem Kopf nachhallte, fuhr sie mit den Fingern über die alten Seiten, die Klebestreifen entlang, die das Buch zusammenhielten.

»Wie heißt deine Schwester?«

»Bibiana. Bibi. Es gibt auch Wilm, meinen Bruder.«

»Bei uns gibt es nur meine Mutter und mich.« Sarah klappte das Buch wieder zu. Sie reichte es mir und schloss die Augen, verschränkte die Hände über dem Bauch.

»Bereit.«

Als ich wieder aufwachte, lag das aufgeklappte Buch neben mir. Der Morgen erwartete mich. Sarah schlief noch tief. Oder schlief sie erst jetzt? Sie war immerhin eine Eule, der Morgen läutete üblicherweise ihren Feierabend ein. Wie hatte ich all diese letzten Stunden mit ihr verpassen können?

Dann fiel es mir wieder ein, das gebrochene Herz. Dass sie über so etwas nicht erhaben war. Statt Enttäuschung spürte ich einen heftigen Ärger auf die unbekannte Person, die dafür verantwortlich war.

Ich nahm das Buch und legte es auf ihren Nachttisch. Dann sammelte ich die anderen Bücher auf, die sie am Abend runtergestoßen hatte. Den Schuh würde ich nicht anfassen. Er sollte auf mich warten, bis ich wiederkäme. Oder bestenfalls für immer hier liegen.

Ich blieb einen Moment bei ihr stehen. Einen Moment hatte ich. Ich würde mich danach beeilen müssen, aber ich wollte sie anschauen. Ihr einen Moment lang beim Atmen zuschauen. Beim Träumen vielleicht; ihre Lider flackerten.

Die Füchsin soll dir gute Gesellschaft leisten, schrieb ich auf ein abgerissenes Stück Papier und steckte es als Lesezeichen in das Kinderbuch. So tat ich es ihr auf den Nachttisch.

Als ich am Abend nachhause kam, lag auch auf meinem Kopfkissen ein Buch. Der Klappentext kündigte die Geschichte eines jungen Mannes an, der gerne spazierte und dabei über die Welt nachdachte. Daneben eine zusammengefaltete Nachricht.

Was Menschen tun, die weniger arbeiten. S.