Sarah hatte recht behalten. Wir trafen jetzt mindestens einmal die Woche in unserem Zimmer aufeinander. Trotzdem fuhr ich jedes Mal kurz zusammen, wenn wir uns begegneten. Wie an jenem Dezembertag, als sie plötzlich im Türrahmen stand. Ich war gerade dabei, zu packen, um nachhause zu fahren.

»Wann geht dein Zug?«, fragte sie, ohne ein Hallo.

Mein Herz machte einen kleinen Satz. »In zwei Stunden.« Immer war ich ein bisschen überrascht, wenn ich ihr Gesicht sah. Weil es anders war als das in meiner Vorstellung. An den Details lag es nicht. Die gelangen mir alle gut. Sogar den kleinen Leberfleck konnte ich blind unter ihrem linken Auge platzieren. Aber sie, die mir hier gegenüberstand, war nicht die in meinem Kopf.

»Meiner in dreißig Minuten.«

Sarah kam rein und schloss die Tür hinter sich. Ihr Koffer stand schon griffbereit auf dem Stuhl, ausgebeult von seinem Inhalt. Auch sie würde gleich wieder zu einer Tochter werden.

Jedes zweite Jahr durften wir über die Feiertage zu unseren Familien fahren. Der Gedanke daran löste keine Freude in mir aus. Ich stellte mir den Küchentisch vor, das fehlende Gedeck für Bibi. Ich erinnerte mich an Schweigen und an die Eruptionen, mit denen das Schweigen dann brach. Nichts schrie in unserer Familie mehr nach Streit als ein Fest, an dem alle in Frieden zusammenkommen sollten. Nur unsere Nachbarn konnten das in Schach halten. Wenn man durch die dünnen Wände hörte, wie sie sich stritten, war Ruhe bei uns. So wie die waren wir schließlich nicht.

»Ich habe eigentlich gehofft, ich müsste arbeiten«, sagte Sarah. Sie hatte sich auf das Bett gesetzt und sprach mit meinem Rücken.

»Ich auch.«

Das schien sie zu verwundern. »Wirklich?«

Sie konnte dieses Gefühl in mir auslösen. Sie machte eine Pause, als zweifle sie daran, dass ich die Wahrheit sagte. Und ich begann selbst zu zweifeln, ob ich die Wahrheit sagte. Vielleicht wollte ich ihr einfach nur gefallen.

»Sehe ich aus wie die anderen, die so glücklich durch die Gegend spazieren?«

»Von hinten siehst du ganz glücklich aus.«

Ich musste lachen.

Eine große Hast hatte uns Schwestern in den letzten Wochen erfasst und durch die Klinik und das Haus getrieben. Aber es waren auch ein paar Beseelte drunter, denen konnte das pausenlose Schuften vor Jahresende nichts anhaben. In ihren ersten Monaten hier hatten diejenigen aus den glücklichen Familien noch Briefe beim Abendbrot vorgelesen, andauernd telefoniert, stolz von ihrem Heimweh erzählt. Nach und nach war es ihnen dann vergangen. Vor den Feiertagen kam die alte Angewohnheit allerdings verlässlich wieder.

»Viel Streit?«, fragte sie.

Ich nickte. Ich musste an den Frieden denken, an den tatsächlichen, unerklärlichen Frieden, der an den Feiertagen manchmal die Station füllte.

»Wir streiten auch, meine Mutter und ich. Wir streiten von früh bis spät. Dazwischen führen wir diese komischen Rituale aus, wir kochen zusammen, wir beten und zünden Kerzen an, weil … ich weiß nicht, warum, ehrlich gesagt. An den Feiertagen weiß ich nie, warum.«

»Weil es die Erde ist, aus der wir gemacht sind.«

Ich warf ihr über meine Schulter einen kurzen Blick zu. Sie lächelte. »Es ist einfacher hier«, sagte sie. »Wenn die anderen weg sind, kann ich arbeiten. Dann steht niemand zwischen mir und meiner Arbeit.«

»Arbeitest du deshalb immer nachts?«

»Unter anderem, ja. Ich mag die Nacht.«

»Ich nicht. Sie macht mir Angst.«

»Mir macht der Tag Angst.«

Mein Koffer war längst gepackt, so ordnete ich die Dinge neu. Ich schob das Necessaire von einer Seite auf die andere. Ich rollte meine Socken ineinander, dann rollte ich sie wieder aus. Ich wollte unbedingt meine Hände beschäftigt halten.

Sie scharrte mit den Füßen auf dem Boden. Kurz dachte ich, dass sie auch nervös war, dass ihr Körper sich in meiner Gegenwart genauso fremd und unbeholfen fühlte wie meiner in ihrer.

»Ich möchte dich etwas fragen«, sagte sie. Ich packte meine beiden Strickjacken wieder aus, faltete sie neu zusammen, legte die Ecken aufeinander, so dass sie ganz genau passten. Es war lächerlich, dachte ich. Gleich würde sie merken, wie lächerlich ich war.

»Darf ich?«, fragte sie mit Nachdruck.

Ich musste etwas sagen, fiel mir auf. »Natürlich.«

Aber sie fragte nichts. Es blieb still im Zimmer. Also drehte ich mich zu ihr um. Sie hatte den Kopf gesenkt.

Gleich wird sie mir sagen, dass sie geht, dachte ich plötzlich. Wie meine alte Zimmernachbarin wird sie mir sagen, dass sie in ein anderes Leben aufbricht. Und ich habe nichts, womit ich sie dazu bewegen kann, es nicht zu tun.

»Bleibst du mit mir hier?« Sie sagte es so leise, dass ich es fast nicht verstand. »Bleiben wir hier?«, sagte sie noch einmal, als ich nichts darauf erwiderte, dieses Mal lauter. »Wir packen unsere Sachen wieder aus. Wir rufen zuhause an und sagen, dass wir arbeiten müssen.«

Unmöglich, dachte ich. Ihr Vorschlag war unmöglich. Ich sollte also den Zug ohne mich fahren lassen, den nächsten, den übernächsten, bis keine Züge mehr fuhren. Ich sollte hören, wie die anderen zu ihren Familien oder zur Arbeit aufbrächen, eine nach der anderen, bis das Haus ganz leer wäre.

Nur wir müssten nirgendwohin, niemand würde auf uns warten, wir hätten nichts zu erledigen.

»Das geht nicht«, sagte ich.

»In Ordnung.« Sie kam zu mir herüber, öffnete den Schrank und zog ihren Mantel vom Bügel. »Du hast recht.« Sie streifte ihn über. »Es war eine dumme Idee, nicht? Wir haben schließlich unsere …« Sie suchte nach dem richtigen Wort.

»Pflichten?«

Sie griff nach ihrem Koffer. »Mach’s gut, Meret. Bis bald.«

»Bis bald.«

Und sie wäre gegangen, hätte ich da nicht zu lachen angefangen. Als sie mir ohne einen letzten Blick ihren Rücken zuwandte, brach es aus mir heraus. So absurd erschien es mir in diesem Moment, dass wir beide jetzt nachhause fahren würden, obwohl es plötzlich die Möglichkeit gab, es nicht zu tun. Wie konnte es schwieriger sein zu bleiben, als zu gehen?

»Geht es dir gut?« Sie runzelte die Stirn.

»Bleib.« Ich japste nach Luft. »Bitte bleib.«