Ich erinnere mich so genau an diese drei Tage, als hätte ich Buch über sie geführt.
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich, wie Sarah ihren Koffer wieder ablegt. Ich kann hören, wie die Schritte vor unserem Zimmer langsam weniger werden. Ein letzter Stoß eilender Schwestern auf dem Weg zu ihren Familien, dann nur noch die Geräusche des Hauses. Das Gluckern seiner Leitungen in der Schreckenssekunde, da mir bewusst wurde, was wir getan hatten.
Ich ging nach unten zum Telefon und rief zuhause an. Wilm, der am anderen Ende der Leitung war, erzählte ich von einem Notfall in der Klinik. Ich war dankbar, dass er abgehoben hatte; meinen Vater anzulügen, wäre nicht annähernd so einfach gewesen. Danach zog ich mich um. Ich hängte das Kleid, das für die Tage mit meiner Familie gedacht war, wieder auf den Bügel und streifte eins der anderen über.
Unser Mut hatte uns hungrig gemacht. Wir untersuchten zusammen, was die Speisekammer hergab. An den Feiertagen war niemand da, der das Kochen für die dagebliebenen Schwestern übernahm, also schälten und schnitten wir Gemüse, wuschen Linsen, tasteten in der blinden Ecke hinter der Tür nach dem Speck, der dort für besondere Anlässe versteckt wurde. Das Radio befreite uns von ungeschicktem Schweigen. Wir lachten über die Klassiker, die es spielte.
Schwestern, die später zur Nachtschicht mussten, schauten vorbei und boten uns ihre Hilfe an. Sie deckten den Tisch und stellten Kerzen auf. Keine von ihnen arbeitete auf unseren Stationen, so stimmten wir beim Essen in ihre Klagen über den bevorstehenden Dienst mit ein. »Lasst stehen«, sagte ich, als wir nach dem abschließenden Kaffee alle aufstanden. Ich nahm ihnen das Geschirr aus der Hand. »Lasst stehen, hab ich gesagt!« Sie waren so erstaunt über meine Strenge, dass sie gehorchten.
Danach spülte ich in der Küche das Geschirr. Sarah trocknete ab und räumte alles weg. Durch die beiden Fenster über den Spülbecken sahen wir, wie die Schwestern draußen auf die Räder stiegen und davonfuhren.
Ich löschte das Licht, als wir fertig waren. Sarah stellte das Radio aus. Wir blieben noch ein paar Momente in der dunklen Küche stehen.
Ich erinnere mich, wie sie vorschlug, dass wir spazieren gehen sollten. »Ich finde dieses Gestrüpp im Speiseraum so traurig. Wollen wir uns die richtigen Festtagsbäume anschauen?«
Der Wald in der Heiligen Nacht.
Die Nadeln, die unter unseren Schuhen knacksten.
Das dunkle Haus, das uns empfing.
Ich erinnere mich an die Kälte, an das vergebliche Pochen der Heizkörper.
Ihre Frage: »Frierst du?«
Sie stand auf, ging zum Schrank und holte ihren Mantel hervor.
Das Gewicht der Wolle, als sie ihn mir um die Schultern legte. Ihr Kleidungsstück auf meiner Haut. Ihr Geruch, der mich ganz umschloss.
Da war ein Hunger. Leise und plötzlich.
Ich erinnere mich an zwei Monde. Einen am Himmel, einen an der spiegelnden Fassade des Hochhauses. Nur für einen kurzen Moment, als die Wolken sie mitten in der Nacht freilegten.
»Schau«, sagte ich.
Sie schlief schon.
Ich wachte als Erste auf. Ich sah sie an. Sie schlug die Augen auf, als hätte ich sie mit meinem Blick geweckt.
Wir krochen unter unseren Decken hervor. Wir tasteten mit den Füßen nach unseren Hausschuhen und traten auf den kalten Boden. Nur ich zuckte zusammen.
Sie folgte mir zur Toilette. Sie wusch sich das Gesicht, während ich mich erleichterte. Ich legte meine beiden ausgestreckten Handflächen an die Wand der Kabine. Mein Herz klopfte.
Unsere Blicke trafen sich beim Zähneputzen im Spiegel. Sie war Linkshänderin. Wie konnte mir das davor nicht aufgefallen sein. Rasch sah ich weg.
Sie ging erst in die Kabine, nachdem ich die Toilette verlassen hatte. Kurz wollte ich protestieren. Es war doch ungerecht, dass sie beim Pinkeln jetzt ihre Privatsphäre hatte.
Sie kam ins Zimmer, als ich mein Nachthemd abstreifte. Sie tat es mir gleich. Unbekleidet stand sie am äußersten Rand meines Blickfeldes. Sie zog ihre Strümpfe über die Beine. Sie wartete, bis ich eins meiner Kleider aus dem Schrank gegriffen hatte, dann nahm sie ihres.
Ich hielt den Stoff zwischen meinen Händen. Ich ging zurück zum Schrank. Dort hing mein Kleid, das ich gestern wieder abgelegt hatte. Das Kleid, in dem ich eine Tochter war, immer nur eine Tochter. Ein Kleid mit einem bestickten Kragen. Ich trug es nie hier im Haus, außer an den Tagen, wenn ich abreiste.
Ich nahm es hinaus. Ich hängte das andere zurück.
»Frohe Festtage«, flüsterte sie. Sie lächelte. Sie hatte selbst ihr bestes Kleid angezogen. Die Knopfleiste reichte von ihrem Hals bis zu ihren Knien runter.
Nur zwei ältere Schwestern saßen im Speiseraum und lasen die Zeitung. Sie sahen kurz auf und nickten uns zu. Dann wandten sie sich wieder ihrer Lektüre zu. Ist doch alles gut, sagte ich mir selbst. Wir machen hier nichts Verbotenes.
Wir nahmen uns ein Stück vom Kuchen, den jemand frühmorgens gebacken haben musste. Wir füllten unsere Tassen mit Kaffee und setzten uns an einen der Tische. Wir aßen schweigend.
Plötzlich schienen mir die kommenden drei Tage endlos. Stunden wie Sand am Meer, gefüllt mit nichts als unserer Anwesenheit. Ich blickte zu ihr. Sie sah so unbesorgt aus. Ich beneidete sie.
»Und jetzt?«, fragte ich, nachdem wir unser Geschirr in die Küche gebracht hatten.
»Komm, ich habe eine Idee.«
Wir holten unsere Mäntel. »Warte«, sagte sie, als ich zur Tür hinauswollte, »so können wir dort nicht aufschlagen.« Sie ging in die Knie und bürstete ihre Schuhe ab. Ein paarmal stapfte sie, Tannennadeln von unserem Abendspaziergang fielen aus ihren Sohlen auf die Fußmatte. Sie reichte die Bürste an mich weiter. Geduldig wartete sie, während ich den Dreck von Wochen runterbürstete.
»Jetzt sind wir bereit.«
Sie fuhr voraus. Ich folgte ihr durch die fast leeren Straßen, an der Reihenhaussiedlung mit den tiefen Dächern vorbei, dem grünen Haus, wo wir in Richtung Stadt abbogen. Auf den Gehsteigen waren ein paar wenige Menschen unterwegs.
Vor der Kirche am Markt hielten wir an. »Hier sind wir. Gehen wir rein?« Sie blickte auf eine Bank in der Nähe des Eingangs.
»Nein.«
»Mir gefällt es draußen auch besser.«
Wir stiegen von den Rädern. An uns vorbei strömten die Menschen zum Gottesdienst hinein. Wir setzten uns, sahen den spät Kommenden dabei zu, wie sie hineineilten. Der Letzte schloss die schwere Tür hinter sich.
Kurz war nichts als der Wind zu hören. Dann begann die Predigt. Wir lauschten den gedämpften Stimmen. Dem Gesang der Anwesenden. Sarah hatte die Augen geschlossen.
Es gab einen Chor in der Straße, wo ich aufgewachsen war. Daran dachte ich, während wir auf dieser Bank saßen. Ich wusste weder, wo in der Straße der Chor war, noch, warum es ihn gab. Ich wusste nur, ich hörte ihn manchmal im Zimmer von Bibi und mir. Spätabends, bei geöffnetem Fenster hörte ich ihn, als käme er aus einer anderen Welt, und ich schlief zu seinem Gesang ein.
Wir lagen auf unseren Betten und bestaunten die leeren Stunden. Wir leisteten den älteren Schwestern in der Küche Gesellschaft, die sich nach dem Abendessen einen Krimi vorlasen, und lachten mit ihnen über die hanebüchenen Wendungen. Wir schlichen durch das Haus, ohne festes Ziel.
Wir gingen die Sachen durch, die in der Kammer neben den Postfächern deponiert wurden, wenn eine Schwester sie nicht mehr haben wollte. Aschenbecher, die Anfang und Ende eines Lasters markierten. Unbenutzte Stifte und Papier. Eine schöne Strickjacke, ein neues Paar Schuhe von denjenigen Schwestern, die aus besserem Haus kamen und keine Verwendung dafür fanden. Sarah nahm die Strickjacke mit. Ich die Zeichnung von einer alten Frau, die Äpfel schälte. Zurück im Zimmer hängte ich das Bild über meinen Nachttisch.
Wir machten Pläne für das nächste Essen. Wir duschten, die Rücken einander zugewandt, so lange, so ausgiebig wie sonst nie. Minutenlang hielt ich meinen Kopf ins herausströmende Wasser. Sie stellte das Wasser auf kalt und schrie. »Du auch!«, rief sie durch den gekachelten Raum. Ich griff nach dem Hahn. Ich drehte ihn ganz nach links. Mir blieb der Atem weg, als das eiskalte Wasser sich über mich ergoss. Keuchend trocknete ich mich danach ab. Ich spürte ihren Blick auf mir, für einen kurzen Moment. Dann sah sie wieder weg.