Fahr bis zum grünen Haus. Ich warte dort um halb acht auf dich.

Sie hatte die zusammengefaltete Nachricht in meinen Spind geschoben. Ich fand sie, als ich mich für den Heimweg bereitmachen wollte.

Wir würden einander unsere freien Tage mitteilen; das hatten wir uns am sechsundzwanzigsten Dezember, kurz vor dem Einschlafen, versprochen. Es war ihr Vorschlag gewesen. Seither verabschiedeten wir uns nach ein paar gemeinsamen Stunden: »Bis Dienstag.« »Bis Samstag.« »Bis in zehn Tagen.« Es waren flüchtige Stunden. Ich hatte sie bei mir, ich blinzelte, und sie war wieder fort.

Ich warte dort um halb acht auf dich. Ich starrte auf ihre Worte. Dann besann ich mich und griff nach meiner Uhr. Zwanzig nach sieben.

So schnell war ich sonst nur, wenn ich während meiner Schicht den Abgrund gesehen hatte. Ich steckte ihre Nachricht in mein Strumpfband, warf die Uniform ab, zog Kleid, Strickjacke und den Mantel über und stieg in meine Schuhe. Ich stieß die Tür auf, donnerte sie den nächsten Schwestern entgegen, entschuldigte mich hastig, ohne stehen zu bleiben. Dann raste ich los, raste durch den Wald, vertraute meinen Händen, dass sie im richtigen Moment abbremsten, vertraute meinem Rad, dass es nicht ins Straucheln kam. Es gelang, natürlich. Dieser Weg war längst in mich übergegangen.

Als ich ihre Umrisse an der Kreuzung sah, kehrte das Flirren in meinem Magen zurück. Sie hatte ihre Arme auf dem Sattel aufgestützt und beobachtete mich.

»Da bist du ja«, sagte sie. Wieder lächelte sie nicht. Lächelte nie, wenn wir uns begrüßten, als könnten erst die Minuten miteinander diese Regung in ihr aufbrechen.

»Es tut mir leid«, japste ich.

Sie legte ihre Hand auf meine. »Atme doch erst mal.«

Ich merkte, wie mir die Knie zitterten. Meine Sicht trübte sich. Kurz fürchtete ich, von einer Ohnmacht überwältigt zu werden.

»Hier.« Sie reichte mir eine Flasche Wasser. Ich trank, bis mein Körper sich wieder beruhigte. »Es gibt einen Ort, den ich dir zeigen möchte. Es ist nicht weit. Kommst du mit?«

Jetzt lächelte sie. Lächelte in der Dunkelheit, als wüsste sie ganz genau, dass ich überallhin mitkommen würde, dass ich gar keine Wahl hatte.

Während wir durch die Straßen fuhren, blickte ich auf das nächtliche Treiben. Ein paar Leute waren unterwegs, ihre Schuhe klackerten auf dem Pflasterstein, ihre Stimmen stiegen an den Hauswänden hoch, gelöst und angeheitert. Ich hoffte, dass Sarah nirgendwo reingehen wollte. Das Licht würde meine Hast, meine Müdigkeit und den Tag, der überall an mir haftete, gnadenlos offenbaren.

Wir hielten vor einem Restaurant. Ich kannte es. Hatte mich schon einmal mit den Schwestern um einen der Tische geschart und billigen Alkohol getrunken. War so erleichtert gewesen, als wir endlich aufbrachen und ich durch die Nacht zurück zum Wohnheim fahren konnte. Hatte meine alte Zimmernachbarin dafür geliebt, dass sie die unsichtbare Trennlinie zwischen unseren Betten nie übertrat, dass ihr Vergnügen so wenig bedeutete, dass ihr Herz in all den Jahren nur zweimal zu Bruch ging. Nicht wie bei den anderen, wo es ohne Unterlass brach, ein störanfälliges Organ, immer nur gerade so zusammengeflickt, bevor der Nächste es wieder auseinanderriss.

»Kommst du?« Sarah legte mir ihre Hand auf meine Schulter, und ich spürte plötzlich das Loch in meinem Magen, ein Nichts, das ihren Berührungen standzuhalten versuchte.

Ich ließ mich von ihr mitziehen. Uns wurde ein Tisch zugewiesen, Sarah wartete, bis der Kellner weggegangen war, dann flüsterte sie: »Lass deinen Mantel an. Steh auf.« Sie hakte sich bei mir unter, führte uns zu den Toiletten und stieß dort die Tür zum Notausgang auf.

»Hoch«, sagte sie, und ich gehorchte, ohne nachzufragen, begann zu glauben, dass ich vielleicht träumte und eigentlich noch schlafend in der Umkleide lag. Nur im Traum stieg ich durch dieses Treppenhaus, berührte seine nackten Wände, weil das Geländer leicht ruckelte, mit ihr in meinem Rücken.

Wir gingen hinaus ins Freie.

»Schau«, sagte Sarah. Sie drehte mich sachte zur Seite und deutete auf das Gebäude gegenüber. Einige Stockwerke über uns ragte es weiter in den Himmel. Auf der glatten Fassade spiegelte sich der Nachthimmel.

»Erkennst du es wieder?«

Sie hatte Brot mitgebracht, einen Wein und zwei Gläser. Wir tranken schweigend, während die Wolken auf der Fassade vorbeizogen, kurz den Mond zeigten und ihn wieder verschluckten. Es war kalt auf dem Dach. Die Kälte pfiff durch die Luft, fand jede freie Hautstelle und kroch durch die Kleider.

»Wo kommst du her?«, fragte ich irgendwann, als ich meine Finger schon kaum mehr spürte. Es gab keine Fotos in unserem Zimmer, die irgendeinen Anhalt boten. Auch ich hatte bis auf meine neue Zeichnung nichts aufgehängt. Das Bild von mir mit meiner Familie lag sicher verstaut in der Schublade. Bislang war fast jede meiner Nachfragen im Sand verlaufen.

»Meine Mutter war achtundvierzig, als ich zur Welt kam«, sagte sie. »Stell dir vor. Sie war fast ihr ganzes Leben lang alleine. Sie wäre es auch lieber geblieben.«

»Das stimmt doch nicht.«

»Natürlich stimmt das.« Sie schenkte uns noch mal nach. »Aber ist das schlimm? Ich glaube nicht.«

Sie rückte etwas auf. Nicht für sich, dachte ich, denn sie war ja immun, sie fror nie. Sie hatte mir an Heiligabend ihren Mantel um die Schultern gelegt und dabei nur ihr Nachthemd getragen. Sie ging barfuß durch unser Zimmer. Sie schlief und wand sich dabei aus der Decke, ich konnte ihre nackte Haut sehen, ich deckte sie zu, sie befreite sich wieder.

»Ich stamme von Geistern ab.« Sie fuhr sich durch die Haare. »Meine Großeltern, meine Tanten, ich habe niemanden von ihnen kennengelernt. Die sind alle vor meiner Geburt gestorben. Was meinen Vater anbelangt … es gibt kein Bild von ihm. Ich habe die Haare und den Mund meiner Mutter, aber was an mir von ihm ist und was Gott sich einfach so hat einfallen lassen …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß, dass er ein Tourist war. Es hat ihn versehentlich in die Gegend verschlagen. Etwas anderes hätte mich auch erstaunt. Es gibt nirgendwo so wenig zu sehen wie bei uns in der Gegend. Er ist zehn Tage bei meiner Mutter geblieben. Daraus bin ich entstanden. Meine Mutter hat das immer ein Wunder genannt.«

»Das ist schön.«

»Sie hat das nicht im Sinne von Glück gemeint.«

»Weißt du seinen Namen?«

»Maurice.« Sie zeigte mir ihre leere Hand. »Siehst du? Da ist fast nichts, für das ich ihn lieben kann.«

»Dich gibt es doch.« Ich wollte meine Hand auf ihre legen. Es waren nur ein paar Zentimeter, die ich dafür überwinden musste. »Kannst du ihn nicht dafür lieben?«

Sie lächelte. Sie steckte ihre Hand wieder in die Manteltasche.

»Und du?«

»Ich habe dir schon viel erzählt.«

»Du hast gesagt, dass deine Schwester weggegangen ist?«

»Ja. Nachdem unser Vater seinen Herzinfarkt hatte.«

»Ein seltsamer Zeitpunkt.«

»Sie wird ja wiederkommen. Irgendwann. Wenn sie genug gesehen hat von der Welt.«

»Das kann nicht sein.« Sarah fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Dass man irgendwann genug gesehen hat von der Welt.«

Auf dem Nachhauseweg machte sie plötzlich eine Vollbremsung. Sie stieg von ihrem Rad ab und beugte sich über einen Hocker, den jemand vor einer Hausfassade abgestellt hatte. Zum Mitnehmen stand auf dem Zettel, der darauf angebracht war.

»Schau mal«, rief sie aus. »Für uns!«

Ich konnte sie nicht davon abhalten. Sie versuchte, den Hocker erst auf dem Fahrrad zu befestigen, schulterte ihn dann, überzeugt davon, dass er in unser Zimmer gehörte, dass eine Pflanze darauf zu stehen hatte wie in einem ordentlichen Zuhause.

»Wer hat dein Herz gebrochen?«, fragte ich, als wir wieder in unserem Zimmer waren. In den Kleidern saßen wir auf unseren Betten. Mir rauschte das Blut in den Ohren, ich fühlte mich, als dürfte ich alles fragen.

Sie sah in ihren Tee hinein. Sie antwortete nichts, und die Sekunden begannen sich zu dehnen. Kälte breitete sich aus in meinem Magen.

»Es wird andauernd gebrochen«, sagte sie schließlich, »ich fahre in diese Klinik, und ich weiß, wenn ich zurückkomme, muss ich es wieder zusammenschrauben. Nicht immer. Es gibt Tage, an denen alles plötzlich Sinn ergibt, aber … du weißt, wie es ist. Wie sie zu den Patientinnen sind.«

»Nicht alle.« Ich war eine Spur zu laut. »Nicht alle sind so«, setzte ich leiser nach.

»Du meinst den Doktor auf deiner Station?« Sie stellte ihre Tasse ab. »Du meinst dich?«

Ihr Tonfall irritierte mich. Ich sagte nichts mehr. Sie sah es sofort. »Entschuldige«, sagte sie leise, »so wollte ich unseren Abend nicht beenden.«

Sie stand auf. Sie zog ihren Mantel aus. Sie hing ihn in den Schrank und streifte hinter der halb geöffneten Tür ihre restliche Kleidung ab. Knopf für Knopf kamen die Linien ihres Körpers zum Vorschein. Ihre linke Schulter. Ihre linke Brust. Der Rippenbogen. Der Hüftknochen. Die Linie darunter, die zwischen ihre Beine verwies.

Sie blickte zu mir. Ich fühlte mich ertappt, aber ich konnte nicht wegsehen. Ihre Augen fragten mich auch nicht danach. Sie musterten mich. Sie gingen in mich hinein.

»Ich habe mir einen gemeinsamen Moment in einem Zimmer gewünscht. Es gab uns nur draußen. Es gab mal ein paar Minuten hier, eine Stunde da, ich habe mich gefühlt wie ein Hund. Man gibt mir nur so viel zu essen, dass ich überlebe. Mein Hunger allerdings …«, sie zog ihr Nachthemd über den Kopf, »mein Hunger geht nie weg.«

Sie schloss den Schrank und kroch in ihrem Bett unter die Decke.

»Und du?«, fragte sie. »Wer hat dir das Herz gebrochen?«

»Niemand. Höchstens meine Schwester, als sie weggegangen ist.«

»Aber die kommt zurück.«

Ich nickte. »Die kommt zurück.«