Der erste Weg: zu den Umkleiden. Hinter dem Eingang die Treppe runter, dem feuchten Geruch nach, am Geländer festhalten, ja nicht auf den Stufen ausrutschen. Gefühlt war der Regen immer da, klopfte von draußen ans Gebäude, füllte die drückende Luft im Raum, kroch in die Wände. Auch die anderen, die sich vor uns fertig gemacht hatten, waren noch hier. Ich roch ihren Schweiß. Ich spürte die Wärme ihrer Körper.

Es waren noch ein paar Stunden bis zu Mariannes Eingriff, als ich die Umkleide aufsuchte. Ich wollte mich duschen und mir die Haare wieder richten. Manchmal, in den verlorenen Stunden zwischen Mitternacht und Morgen, saßen hier die Schwestern, die den Abgrund gesehen hatten. Sie kamen nicht weg. Sie dachten, wenn sie nur lange genug sitzen blieben, dann könnten sie den Abgrund hier zurücklassen, ihn zusammen mit ihrer Uniform einfach abstreifen.

Aber nicht heute. Heute war ich alleine. Kein Auf- und Zuschlagen der Spinde, kein Abstreifen der Kleidung, der Schuhe, kein Aufrollen der Strümpfe. Wir zogen sie vor jeder Schicht über die Knie, prüften sie dabei auf Laufmaschen, auf Flecken. Wir banden uns gegenseitig die Schürzen. Wir überprüften uns gegenseitig die Gesichter. Der Spiegel konnte einen belügen. Eine andere Schwester konnte das nicht.

Ich warf meine Uniform in den dafür vorgesehenen Korb und stieg unter die Dusche. Ich stellte das Wasser so heiß, dass es auf der Haut brannte. Ich dachte daran, dass Sarah jetzt arbeitete, im linken Seitenflügel, dass sie wach war, wie ich, dass ihr Herz schlug, wie meins.

Es gab sie hier nicht. Nicht wirklich. Nur in mir drin. Ich trug sie mit mir durch diese Räume. Aber ich begegnete ihr nie auf diesen Fluren, nie in dieser Umkleide. Ich bemühte mich, dass das so blieb. Trotz der Dienstpläne, die unsere Zeiten in der Klinik sauber voneinander trennten, wähnte ich sie hin und wieder in meiner Nähe. Ich glaubte, ihren schwarzen Haarschopf zu erkennen, eine Spur ihres Geruchs, einen Ausläufer ihrer Stimme. Schnell ging ich dann weiter. Ich hätte nicht einmal gewusst, welcher ihr Spind war. Ich wollte es nicht wissen.

Die Haare. Auskämmen. Hochstecken. Ich suchte nach der kleinen Büchse, wo ich die Klammern aufbewahrte. »Hier«, hatte Sarah gesagt und sie mir nach einer unserer ersten gemeinsamen Nächte in die Hände gedrückt. »Behalte sie. Denk an mich, wenn du sie benutzt.«

Ich öffnete die Büchse. Ein schwarzes Haar wand sich um eine der Klammern. Immer da, wenn ich den Deckel aufklappte. Anfangs war es mir wie ein Andenken vorgekommen, das einzige, was ich aus einem flüchtigen Traum hatte retten können. Aber wieder und wieder hatte ich seither unser Zimmer betreten und Sarah darin vorgefunden.

Sie war da. In diesem Moment glaubte ich, sie würde es immer sein.

Die Haube befestigen. Mich im kleinen Spiegel anschauen, von vorne, von den Seiten, sichergehen, dass alles richtig saß.

Ich klappte die Büchse wieder zu. Marianne brauchte jetzt meine Aufmerksamkeit. Ein neues Leben wartete auf sie. Noch lag es ein Stück von ihr entfernt. Weit war es nicht.