Der Doktor wusste nicht, warum es misslang. Erst nach dem Eingriff konnte er damit beginnen, es auseinanderzunehmen und sich so einer Gewissheit anzunähern. Währenddessen war es eine Sekunde, losgetreten von einem Wort, das Marianne gesagt hatte, ein Wort ohne Sinn und Zusammenhang, während sie dabei war, eine Karte zu legen — dann kippte es. Etwas in ihren Augen verlöschte. Wir bekamen es nicht zurück. Ein Abgrund tat sich auf.
Es war fast Nacht, als ich nach dem Eingriff das erste Mal ihre Seite verließ. Eine andere Schwester nahm meinen Platz am Bett ein, damit ich zur Toilette gehen konnte. Auf dem Gang war die übliche, trügerische Ruhe eingekehrt. Der Tag hatte sich schlafen gelegt, und die Nacht, mit ihren eigenen Kapriolen, war noch nicht ganz angebrochen.
Ich stieß die Tür auf und trat ins stille Dunkel. Ich war alleine. Es kam selten jemand her und zum Pinkeln oder gar für ein größeres Geschäft eigentlich nie. Wir hatten uns angewöhnt, es zu halten. Diese Toilette war für andere Dinge gedacht.
Ich ging, ohne Licht zu machen, zum Fenster und öffnete es weit. Mit geschlossenen Augen stützte ich die Arme auf das Fensterbrett und ließ mein Gesicht von der Kühle streicheln. So saß ich für ein paar Atemzüge.
Ich hatte mir Bilder bewahrt, für Momente wie diesen, wenn sich der Abgrund auftat.
Bibi, die mir ein kleines Radio zum Geburtstag schenkt. Sie hat es aus einer Mülltonne gerettet und eigenhändig repariert. Wilm und ich. Wir klauen im Keller der Nachbarn Marmelade, nachdem uns die Eltern für die Nacht aus der Wohnung gesperrt haben. Sarah, die mir ihren Mantel um die Schultern legt. Ihr Geruch, der mich ganz umschließt. Wie ich weiß, es wird gut werden. Es wird alles gut werden.
Da stand ein Stuhl in Mariannes Zimmer, wie in jedem Zimmer. Nach dem Eingriff saß ich dort. Es gab sie und sie allein. Ich war von all meinen anderen Pflichten entbunden worden. Meine Pflicht war es, da zu sein und sie keinen Moment aus den Augen zu lassen. Ich verstand nicht, warum es sich wie eine Bestrafung anfühlte.
Immer wieder zeigte ihr Körper für einen Moment seine Lebendigkeit. Er stöhnte, schwitzte und zuckte. Das waren übliche Nachwirkungen. Das hätte mir Hoffnung geben können, wäre ich leichtgläubig gewesen. Immerhin hielt es mich beschäftigt. Dazwischen lag Marianne lange, viel zu lange einfach da, war weder wach noch schlief sie, und ihre Augen blickten nirgendwohin. In diesen Phasen bei ihr zu sitzen war das Schwerste.
Als die übliche Schicht endete, brachte man mir Äpfel, ein paar Brote und Kaffee. So wurde es Nacht. Abgesehen von dem einen Gang zur Toilette verließ ich das Zimmer nicht.
Marianne war wertvoll. Ich erkannte es nicht nur daran, dass sie all meine Zeit bekam. Ich sah es an der Sorgfalt des Doktors, mit der er sie an den Händen nahm und mit ihr sprach. Schließlich sah ich es auch an seiner Verzweiflung. Er ließ es sich kaum anmerken. Er schluckte heiser. »Das ist ein Unglück«, sagte er. »Das sollte nicht passieren.« Und dann: »Es gibt Rückschläge. Wir dürfen uns nichts vormachen. Es wird besser und zwischendurch viel, viel schlimmer.« Das war seine Triebfeder: Die Rückschläge werden sich am Ende auszahlen; sie sind der logische Preis des Fortschritts. Er konnte sich an sie halten. Und eigentlich sollte das auch meine Triebfeder sein. Aber als ich die Worte wiederholte, sie leise zu mir selbst sagte, in diesem Zimmer mit Marianne führten sie geradewegs zurück an den Abgrund. Ich verstummte.
Er schrie nicht. Er warf keine Gegenstände um, wie es andere Ärzte taten, wenn ihr Ärger so groß wurde, dass nur ein kurzer Gewaltausbruch sie davon befreien konnte. Der Doktor befolgte das Diktat der Stille genauso gewissenhaft wie wir. Aber ich sah es an seinen verschränkten Armen. Ich sah es an dem Nicken, das sein ständiger Begleiter war. Nickend leuchtete er ihr in die Augen. Nickend sprach er sie an. Nickend sagte er: »Ich komme in dreißig Minuten wieder.«
Wie ich blieb er in dieser Nacht in der Klinik. Er schloss seine Bürotür und verbat sich jede Störung, außer es betraf den Zustand seiner wertvollen Patientin. Vielleicht hatte er die gleiche Fähigkeit wie manche der älteren Schwestern, die sich am Geländer festhielten, die Augen schlossen und ein paar Sekunden schliefen. Vielleicht telefonierte er mit dem Ellerbach und versuchte, ihn auf den Anblick der Tochter vorzubereiten.
Der Vater. Er hatte nicht gewartet. Dabei war das sein Versprechen gewesen. Ich konnte es bezeugen. Die Hand an der Wange seiner Tochter, als er sich verabschiedete. »Wenn du aufwachst, werde ich da sein.«
Da stand ein Stuhl an Mariannes Bett. Wir warteten darauf, dass der Vater kam oder die Mutter oder einer der Brüder, mich bat aufzustehen, um sich an meiner Stelle zu ihr zu setzen.
Wir warteten.
Kurz bevor sie in den Operationssaal gebracht wurde, hatte ich ihr gesagt: »Marianne, du bringst diesen Eingriff hinter dich, und dann spielen wir unsere Partie zu Ende.« Es war wichtig, sich etwas für das Danach aufzuheben. Ich machte das bei allen so.
Während des Eingriffs hatten wir ein anderes Spiel gespielt. Ein einfacheres, bei dem sie nicht in Panik geraten konnte, weil es ihre Möglichkeiten in dem Moment überstieg. Das erste Spiel, das ihr der Bruder beigebracht hatte, der Bruder, der Löcher in seine Anzüge brannte und Gläser fallen ließ und der genauso abwesend blieb wie der Rest der Familie. Nur Blumen schickten sie. Blumen und Karten, die gute Besserung wünschten. Nach und nach füllten sie das Zimmer.
Ich löste jeden Morgen die Nachtschwester ab und verbrachte meine gesamte Schicht in Mariannes Zimmer. Wir waren die meiste Zeit alleine. Der Doktor kam morgens, mittags und nachmittags kurz herein. Er untersuchte Marianne. Er sprach mir Mut zu. Dann ging er wieder und machte die Tür hinter sich zu.
Ich war froh über jede Aufgabe. War dankbar, wenn ich eine zweite Schwester benötigte und sie vielleicht noch einen Moment länger im Zimmer blieb als nötig. Die Stunden, in denen Mariannes Körper nach nichts verlangte, weder Nahrung noch Pflege benötigte — sie blieben eine Prüfung für mich.
Ich las ihr aus den Büchern vor, die sie mitgebracht hatte. Eine Geistergeschichte und ein Buch über Habichte. Ich konnte es vor mir sehen: Marianne, die sich gern gruselte. Marianne, die Greifvögel liebte, die stundenlang ausharrte, um sie beim Jagen zu erwischen. Diese Marianne hatte nichts gemein mit der Frau, die jetzt in diesem Bett lag.
Zwischen den Buchseiten fand ich Fotos. Ich hielt sie ihr dicht vor die Augen. Eins zeigte sie mit ihren Brüdern, sie waren alle noch Kinder. Eins zeigte sie mit einer anderen Frau, beide lachend, man erkannte vor lauter Lachen kaum die Gesichter. Ihre Zimmernachbarin? In der Stille des Zimmers verstieg ich mich zu Spekulationen.
Ich gab ihr alles in die Hände, auch das Kartenspiel. Ich leitete ihre Finger an, die Oberfläche ihrer Besitztümer zu erfühlen. Die Haut musste sich erinnern. Die Haut erinnert sich immer.
Jede Schicht schloss ich mit einem Besuch im Büro des Doktors ab. Ich berichtete ihm von den Stunden an Mariannes Bett. Ich wiederholte, was ich der Nachtschwester zur Übergabe gesagt hatte.
Er hörte mir zu. Er machte sich Notizen. Aber er selbst war nicht anwesend. »Sie können jetzt gehen.« So verabschiedete er sich jeden Abend, meist ohne von seinen Notizen aufzusehen. Nur einmal legte er den Stift ab, als ich schon stand. Er faltete die Hände. »Fahren Sie zu ihrer Zimmernachbarin?«
Mir wurde sofort heiß. »Meine Zimmernachbarin?«
»Ja. Sie teilen sich doch Ihr Zimmer, nicht?«
Ich nickte. Er hatte mich noch nie nach dem Wohnheim gefragt.
»Sagen Sie ihr, sie soll ein Auge auf Sie haben.«
Er sah wieder auf seine Notizen.
»Das ist alles.«
Ich drehte mich um und ging aus seinem Büro. Ich schloss die Tür hinter mir. Auf der Treppe zur Umkleide musste ich mich kurz am Geländer festhalten. Fast wären meine Füße schneller gewesen als ich.
Marianne hätte sein Schlüssel sein sollen, sagte eine der älteren Schwestern.
Schlüssel zu was?
Zu Geld. Von anderen reichen Familien, die Heilung für ihre Problemfälle suchten. Und ihm damit mehr Forschung und mehr Ansehen ermöglichten.
»Nein«, sagte ich, »darum geht es doch nicht.«
Sie nickte. Sie legte mir ihre Hand auf die Schulter. Ich hasste das an den älteren Schwestern. Ihre Erfahrung, die sie als Wissen verbuchten, ihre Überheblichkeit jemandem wie mir gegenüber, die noch an etwas glaubte. Das war ich ja: eine, die an etwas glaubte.