Ich wusste, sie war da. Sie bemühte sich, leise zu sein, aber ein Körper, der einen anderen kennt, spürt seine Anwesenheit, auch im Schlaf. Ich schlug die Augen auf. Es war noch dämmrig draußen. Das Licht in diesen Junitagen war unerschöpflich.
»Sarah.«
Sie sah zu mir. Sie legte ab, was sie eben in die Hand genommen hatte. »Hallo«, sagte sie leise. »Ich wollte dich nicht stören. Du warst ganz weit weg.«
»Du darfst mich nicht schlafen lassen.« Ärger stieg in mir hoch. »Wenn du hier bist, dann darfst du mich nicht schlafen lassen.« Du darfst nicht zulassen, dass ich all diese Stunden mit dir verpasse.
»Was hast du?«
Ich spürte die Tränen erst, als sie ins Kopfkissen sickerten. Ich wischte mir schnell übers Gesicht.
Sarah kam und setzte sich zu mir ans Bett. Sie ignorierte es, dass ich sie mit der Hand abzuwehren versuchte. Sie kannte meinen Körper ja genauso wie ich ihren, sie sah, dass ich sie brauchte. Sie vergrub ihre Finger in meinen Haaren.
»Sagst du mir, was passiert ist?«
Ich brauchte einen Moment. Ich drückte mein Gesicht ins Kissen. Dann kam es aus mir heraus.
Der Eingriff. Das zusammenhangslose Wort. Der Abgrund. Das Zimmer, das ich nicht verlassen durfte. Die Blumen. Sarah hörte zu. Sie nickte. Es gab Pausen, in denen ich dachte, alles gesagt zu haben.
»Du warst nur in diesem Zimmer die letzten Tage?«
»Ja.«
»Und ihr ging es davor gut?«
»Nein, natürlich nicht …« Wieder kam ein Schwall. Ich versuchte Mariannes Wut zu beschreiben. Der lautlose Knall in ihrem Körper. Die Flut, die genauso verlässlich kam wie die Ebbe. Ich erzählte von anderen Patientinnen, von der Hoffnung und dem Frieden, wenn sie nach dem Eingriff die Augen öffneten.
Sarah wartete, bis auch die letzten Wörter draußen waren.
»Erinnerst du dich daran, was ich dir erzählt habe?«, fragte sie. »Über meine Freundin?«
»Ja.«
Wieder nickte sie. Obwohl sie mich noch berührte, schien sich in diesem Moment etwas in ihr von mir wegzubewegen. Ich spürte eine dumpfe Irritation.
»Du kannst schon sehen …« Sie zog die Hand aus meinen Haaren und fuhr sich über die Stirn, »dass das, was mit deiner Patientin passiert ist, nicht einfach nur ein Unglück ist. Dass es da vielleicht ein grundsätzlicheres Problem gibt. Mit der Art der Behandlung.«
Da war es wieder. Sie konnte es nicht lassen. Ich schloss die Augen. Ein plötzlicher Ärger über sie schwoll in mir an.
»Ich bin müde«, sagte ich.
»Also gut.« Sie rückte ein Stück von mir ab, stand aber nicht auf. Ich konnte hören, wie sie nach den richtigen Worten suchte, mehrmals ansetzte, den Kopf schüttelte, es von Neuem probierte.
»Ich kenne mich mit diesen Eingriffen nicht so aus wie du«, sagte sie schließlich, »deshalb muss ich von dir wissen, ob … und sei ehrlich mit dir selbst, ob es diesen Menschen danach wirklich besser geht?«
Ich schlug die Augen wieder auf. »Ja«, sagte ich. Ihr Blick war unnachgiebig. Die Falten, die sich über ihre Stirn zogen. Der Mund, der gleich weiter ausholen würde. So schnell konnte die Zärtlichkeit aus ihrem Gesicht verschwinden.
»Immer?«
Ich setzte mich im Bett auf. Sie würde mich nicht schlafen lassen. »Seit wann gibt es immer in unserem Beruf?«
»Du kannst bezeugen, dass deine Patienten danach ein besseres Leben führen?«
»Was fragst du mich?«
Etwas an ihr wurde ganz steif. Schwer kam mir ihr Körper plötzlich vor, wie er da auf meinem Bett saß. Ein Gewicht, das auch mich tiefer in die Matratze drückte.
»Ich habe den Eindruck, dass diese Eingriffe Schaden anrichten. Ich bin nicht die Einzige. Ich habe gelesen, dass Menschen damit ruhiggestellt werden. Frauen vor allem. Dass man Ihnen etwas von ihrem … Ich nimmt.«
»Nein«, sagte ich, »das ist nicht wahr. Das mag früher so gewesen sein. In der psychiatrischen Anstalt, vor … Jahren. Das hat mit dem, was wir tun, überhaupt nichts mehr zu tun. Wir stellen niemanden ruhig. Was heißt das überhaupt, etwas vom Ich nehmen? Wo liest du so einen Unsinn?«
Sie stand auf und ging zum Fenster. Mit beiden Händen stützte sie sich am Rahmen ab, senkte den Kopf zwischen die Arme und nahm ein paar tiefe Atemzüge. Ihre Schulterblätter. Ich kannte sie so gut. Hart traten sie aus ihrem Rücken hervor.
»Ich glaube nicht alles, was jemand sagt, nur weil er über mir steht.«
Der Ärger über sie wurde größer. Ärger darüber, dass sie nicht verstehen wollte, was wir in dieser Klinik vollbrachten. Ärger über die vielen Male, in denen ich mit ihr hatte darüber reden wollen und abgewimmelt worden war.
»Es stimmt, du kennst dich mit unserem Eingriff nicht aus. Wie könntest du auch? Es ist ja gar nicht möglich, mit dir darüber zu sprechen. Weißt du eigentlich, wie es diesen Menschen davor ging? Die waren … in Anstalten. In Gefängnissen. Haben sich in ausweglose Situationen gebracht, wie die Frauen auf deiner Station. Waren süchtig, wie deine Freundin. Ihr hätten wir auch helfen können.«
Sie schlug mit der Hand gegen den Fensterrahmen. Ein kräftiger Schlag. Ich verstummte.
»Helfen?« Sie drehte sich zu mir um. Ihr Kiefer zitterte. »Dass man ihr geholfen hat, hat sie umgebracht!«
Ich stellte die Füße auf den kalten Boden. Würde sie einen Schuh werfen? Mich gar ohrfeigen? Aber sie drehte sich nur wieder zum Fenster und zeigte mir ihren Rücken. Sie entzog sich mir. Das beherrschte sie bestens.
»Merkst du es nicht?«, sagte ich. »Du siehst nur sie. Ich erzähle dir von meiner Arbeit, von meiner Patientin, und du siehst sie. Es ist vollkommen egal, was in der Medizin Gutes passiert. Du siehst nur sie.«
»Und du siehst nur irgendeine … Hoffnung.« Ihre Stimme wurde wieder ruhiger. Die Hoffnung, meine Hoffnung, die sie in mir erkannte, schien sie zu besänftigen. Sie legte die Hand an die Scheibe. »Du siehst nicht, was wir darin für eine Rolle spielen. Als hätte das, was wir miteinander teilen, wir beide, du und ich … damit nichts zu tun.«
»Das hat es auch nicht. Das ist dein Schmerz, der dich so was denken lässt.« Er infizierte alles. Er saß in ihren Augen, ihren Worten, in diesem Zimmer. Ich spürte einen heftigen Überdruss. »Das ist nicht mein Schmerz.«
»Natürlich ist er das.« Sie klopfte mit den Fingerkuppen an die Scheibe. »Der gehört uns allen.«
Aufstehen, dachte ich, aufstehen und gehen. Erst zurückkehren, wenn sie bereit ist, über etwas anderes zu reden. Anders war dem nicht beizukommen. Ich stieg in meine Hausschuhe.
»Es werden also psychische Störungen therapiert.« Sie nickte für sich. »Das habe ich ja verstanden. Dann wäre es doch nur logisch, dass sie das eines Tages auch mit mir machen.«
»Sarah, bitte.« Die Müdigkeit packte mich kalt im Nacken. Ich brauchte frische Luft.
»Würden sie das nicht über uns beide sagen? Dass das eine psychische Störung ist?«
»Sie sagen gar nichts über uns.« Ich sah den Doktor vor mir. Seine gefalteten Hände. Seine Frage nach meiner Zimmernachbarin. Die Hitze unter meiner Haut. Er wusste von nichts.
»Kriegst du Kaffee serviert in seinem Büro?« Sie blickte zu mir. »Sagt er dir, dass du was Besonderes bist, dein Doktor? Das möchtest du doch gerne sein, oder? Etwas Besonderes?«
Sie schüttelte den Kopf. »Du bist aber nicht anders als wir, weißt du das? Du spielst sein Spiel mit. Es bleiben seine Regeln.« Sie drehte sich zu mir um und legte die Hand auf ihre Brust. »Du bist genauso wie ich.« Für einen Augenblick glaubte ich, dass sie zu weinen anfinge. »Denk mal nach. Streich einmal deine Hoffnung raus und dann schau, was noch übrig ist.«
Aufstehen und gehen. Ich musste nach draußen, sonst würde das hier kein Ende nehmen. Ich stand auf und wollte zur Tür, aber Sarah war schneller. In einer ruckartigen Bewegung kam sie auf mich zu und packte mich am Arm. Ich merkte, wie meine Haut aufschrie. Sie erinnerte sich an das stille Einverständnis unserer Körper, sie wollte nicht gehen.
»Meine Freundin mag vielleicht süchtig gewesen sein, aber das ist das Einzige, was uns von ihr trennt. Das Einzige.«
Ich hielt ihrem Blick stand. »Du kannst deinen Schmerz behalten«, sagte ich, »ich will ihn nicht haben.«
»Du kannst so dumm sein, Meret.«
Ich löste meinen Arm aus ihrem Griff. »Ich muss gehen«, sagte ich. Ich sagte nicht: Ich weiß, dass ich dumm sein kann. So dumm, ich würde mich selbst prügeln, wenn ich könnte.
»Dann bitte. Ich halte dich nicht auf.« Sie machte einen Schritt zur Seite, damit ich an ihr vorbeigehen konnte. Alle Anspannung schien in dem Moment von ihr zu fallen. Ihr Körper wurde weich. Wie nach einem Kampf wurde er weich und gab sich seiner Erschöpfung hin. Und ich ging, obwohl ich stehen bleiben und sie in meine Arme nehmen wollte. Ich ging, obwohl meine Haut weiterschrie, schrie, als ich die Tür schloss, schrie, als ich unten ins Freie trat.