In den frühen Morgenstunden klingelte im Haus das Telefon. Ob ich kommen könne, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Eine Schwester auf meiner Station sei von einer plötzlichen Grippe niedergestreckt worden.

Es war eine tote Zeit im Haus. Alle schliefen oder waren bei der Arbeit. Kein Kaffee, kein Haferbrei stand bereit. Ich tat ein bisschen Pulver in eine Tasse, goss es mit heißem Wasser auf, trank, würgte ein paar Bröckchen wieder hoch. Steckte mir einen Apfel in den Mund und radelte los.

Ich sah sie ein paar hundert Meter von der Klinik entfernt. Sie war gestolpert. Ein großer Sack lag vor ihr auf dem Boden.

»Kann ich Ihnen helfen?« Ich hielt an.

»Nein.« Sie wehrte mit der Hand ab, ohne den Blick an mich zu richten, »ich brauche keine Hilfe.«

»Sicher?«

Jetzt sah die Frau zu mir hoch. Es war fast unmöglich, in der Dämmerung ihr Gesicht zu lesen. Trotzdem erkannte ich etwas Vertrautes. Ich durchforstete mein Gedächtnis danach, was es war.

»Ja.« Sie hatte sich wieder aufgerichtet. Sie klopfte sich den Dreck von ihrer Kleidung. Eine Schwester war sie nicht.

»Wo wollen Sie denn hin um diese Zeit?«

Sie roch. Nicht nach Verwahrlosung, nicht nach ungewaschener Haut. Aber sie roch.

»Ich kenne Ihre Stimme«, sagte sie. Sie hob den Sack vom Boden und schulterte ihn. »Sie waren bei mir, als sie mich hier oben richtig gemacht haben.« Sie tippte sich an die Stirn.

Ein Pass. Ich erinnerte mich an einen Pass.

»Du heißt Vera.«

»Ja.« Sie lächelte. Ein kurzes Lächeln, das gegen die Dämmerung gewann und dann gleich wieder verschwand.

Ich stieg ab. Eine Minute, dachte ich. Eine Minute können sie in der Klinik auch auf mich warten.

»Darf ich dich ein Stück begleiten?«

»Das ist nicht nötig, danke.« Sie wandte sich von mir ab.

»Ich würde gerne.«

Sie hielt inne. Kurz schien sie ins Wanken zu geraten. Ich wollte auf sie zuspringen, ihr helfen, aber etwas hielt mich zurück. »Also gut.« Sie setzte ihren Weg fort, sicher auf den Beinen.

»Ich heiße Meret. Weißt du das noch?«

»Nein.«

Ich ging neben ihr her. »Wir haben ein Buch zusammen gelesen«, sagte sie, »das weiß ich noch.« Sie verschwand fast unter dem großen Sack, den sie trug.

»Ist das nicht zu schwer für dich?«

»Nein.«

Sie roch nach Seife. Nicht nach der Seife, mit der wir uns wuschen. Nach der Seife, die für Erbrochenes, Eiter und Blut gemacht war.

»Arbeitest du in der Wäscherei?«

»Ja.« Sie klopfte auf den Wäschesack. »Der ist vom Transporter gefallen. Frische Laken. Oder Uniformen. Wie deine.«

Sie ging ganz gleichmäßig, unbeeindruckt vom Gewicht auf ihrer Schulter.

»Magst du die Arbeit?«

»Wie meinst du das?«

»Ob es dir gefällt. In der Wäscherei.« Die Frage hallte in meinem Kopf wider.

»Ich kriege einen Schlafplatz.« Sie wurde schneller, einen halben Schritt schneller als ich. »Und zu essen.«

»Kriegst du einen Lohn?«

»Ja, sagte ich doch: einen Schlafplatz und zu essen.«

Sie war kriminell gewesen. Das hatte der Doktor damals erzählt. Stahl, betrog und wurde handgreiflich, wenn man sie erwischte. Sie konnte nicht anders. Da war ein Drang in ihr, der sie überwältigte. Der Doktor würde diesen Drang zum Schlafen bringen. Er, dem niemand zu arm, zu bedürftig war, um behandelt zu werden. Darauf legte er Wert.

»Bist du dir sicher, dass du keine Hilfe brauchst?« Ich wollte meine Hand auf ihre Schulter legen, aber sie entwich mir. Ihr Körper schien sich ganz ohne ihr Zutun von mir wegzubewegen.

»Sicher.« Sie sah mich nicht an. Ein Zucken schien durch ihr Gesicht zu gehen, als ich mich abermals bemühte, Schritt mit ihr zu halten. »Bitte«, fügte sie an.

»Dann fahre ich jetzt zur Arbeit.«

»Ja.«

»Es war schön, dich wiederzusehen.«

»Ja. Mach es gut.«

Ja, hörte ich weiter, als ich aufstieg. Wie ein Echo begleitete es mich in die Klinik, in die Umkleide, auf meine Station.