Als Bibi noch ganz klein war, wandelte sie nur bis zur Küche oder zur Toilette. Als sie größer wurde, irrte sie barfuß durch das Treppenhaus, manchmal bis nach draußen auf die Straße.

Wo ging sie hin? Ich hatte nie den Eindruck, dass es ein friedlicher Ort war. Ohne Unterlass tastete sie die Möbel und Gegenstände um sich herum ab, auf der Suche nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte.

»Komm zurück, Bibi.«

Unsere Mutter hatte die Idee mit dem Buch. Ich sah sie eines Nachts im Treppenhaus. Ich war wach geworden, hatte Bibis leeres Bett bemerkt und war aufgestanden. Durch die halb geöffnete Wohnungstür erkannte ich zwei Gestalten im Dunkel, eine kleinere, auf dem Treppenabsatz unten, und eine größere, die ein paar Stufen über ihr stand.

Meine Mutter las von den Bergen und von Gewittern, in die die Füchsin mit ihrem Heißluftballon geriet.

»Komm zurück.«

Sie streckte die Hand nach ihrer Tochter aus. Erst reagierte Bibi nicht. Sie versuchte, das Fenster im Treppenhaus aufzukriegen, aber ihre schlafwandelnden Finger scheiterten an seinem Griff. Unsere Mutter las weiter. Sie las mit ihrer warmen, tiefen Stimme, die man im eigenen Brustkorb spüren konnte.

Ich merkte, wie sie eine Tür aufstieß. Wie Bibi langsam, zaghaft, wo auch immer sie war, sich umdrehte und auf diese Tür zuging. Ich wagte es kaum, zu atmen, während ich die beiden beobachtete. Auch dann noch nicht, als Bibi längst die Hand unserer Mutter gegriffen hatte und sich von ihr in den Arm nehmen ließ. Es war kostbar, in diesen Armen zu liegen. Nur selten durfte man so nah heran, dass man ihr Herz schlagen hörte.

»Da bist du ja. Da bist du.«

Wenn die Aussichten schlimm genug waren, versuchten die Leute alles. Sie warfen ihre Vernunft und ihren Verstand über Bord. Sie glaubten Scharlatanen, richteten sich nach den Sternen, begannen zu beten und wechselten den Gott rasch wieder aus, wenn er ihnen nicht zu Hilfe kam.

Früher oder später gaben sie auf. Aber solange sie ihre Bücher in den Händen hielten, solange sie Geschichten erzählten, von denen sie glaubten, dass sie Menschen zurück ins Leben holten, solange musste man sie machen lassen.

Wir bereiteten eine Patientin auf den Eingriff vor. Sie kam aus einer Anstalt. Dort hatte sie die letzten sechs Jahre ihres Lebens verbracht. Sie war eine kranke Frau. Sie war eine derjenigen, von denen der Doktor sagte: »Wir können sie wieder zum Funktionieren bringen. Wir können ihr das Schlimmste ersparen.«

Und es ergab Sinn. So wie der Doktor es sagte, ergab es Sinn. Das sah auch ihre Familie, die sich von uns den Eingriff erklären ließ.

Die Eltern waren schon alte Leute. Auch eine Schwester war da. Sie wartete mit ihrem erwachsenen Sohn im Gang.

»In Ordnung«, sagte der Vater, nachdem wir alles besprochen hatten. Er nahm die Einverständniserklärung entgegen, warf einen kurzen Blick auf seine Tochter und unterschrieb.

Der Doktor und seine Assistenten verabschiedeten sich zuerst. Er würde sie morgen wiedersehen, sagte er. Und dann finge etwas Neues an. So verabschiedete er sich immer.

Ich bot der Familie an, noch ein bisschen zu bleiben, aber es wurde dankend abgelehnt. Wie fast alle, die ihre Angehörigen zum Eingriff in die Klinik begleiteten, wollten sie rasch gehen und erst wiederkommen, wenn alles vorbei war. Ich brachte sie zum Treppenhaus. Ich schüttelte ihre Hände.

»Gibt es wirklich nichts, was dagegenspricht?«, fragte die Schwester, als ich mich von ihr verabschiedete. Sie hielt meine Hand einen Moment länger fest.

»Sie wird niemandem mehr zur Last fallen«, sagte ich. Das beruhigte üblicherweise die letzten Zweifel. Ich nickte ihnen zu. Die Schwester löste ihren Griff, aber ihre Augen ließen nicht von mir ab.

»Sie sollten nicht erwarten, dass es sie zu jemandem macht, den es nicht gibt. Wir tun, was im Bereich des Möglichen liegt. Das ist alles.« Ich wandte mich ab. »Komm«, sagte der Sohn der Schwester leise, aber sie blieb stehen. Ich spürte, wie ihr Blick weiter auf mir lag. Er hatte die gleiche Skepsis, die ich von Sarah kannte. Er folgte mir die paar Schritte, die ich ging. Er würde mir wahrscheinlich den ganzen restlichen Tag folgen, bis ins Schwesternwohnheim, bis in den Schlaf. Wie müde es mich machte. Ich drehte mich noch einmal zu ihr um. »Es wird sie nicht heilen.«

Als ich am nächsten Morgen den Dienst von der Nachtschwester übernehmen wollte, wurde ich direkt ins Büro des Doktors gebeten. Die Familie der Frau hatte ihr Einverständnis für den Eingriff vorläufig zurückgezogen. Sie verlangten nach mehr Informationen. Sie wollten Patientinnen kennenlernen, die den Eingriff bereits hinter sich hatten. Meine Worte seien ihnen eine Warnung gewesen, sich nicht blind ihrer Hoffnung hinzugeben.

Der Doktor ließ uns Kaffee bringen. Er sagte: »Ich verstehe Sie. Aber so ein Verhalten kann ich hier nicht dulden. Ich muss das unterbinden, bevor es eskaliert.«

Seine Mundwinkel zuckten. Ich dachte an meine frühere Angst, dass er mich mögen könnte. Meine Angst vor seinem Lächeln. Aber es war nur der Schmerz, der in seinen Mundwinkeln zuckte. Und man sah es nur, wenn man ihm nahe genug war.

»Es ist ein Risiko, das ich bewusst eingegangen bin.« Er trank einen Schluck aus seiner Tasse. Das tat er sonst nie. Er ließ den Kaffee in meiner Gegenwart immer erkalten. »Ich war mir im Klaren darüber, dass so etwas mit Ihnen passieren könnte.« Er sah mich direkt an. »Sie sind nun mal ein Mensch.«

Ich war durstig. Ich griff nach meiner Tasse, sie klirrte auf ihrem Untersetzer. Ich zog meine Hand zurück.

»Ich werde Sie versetzen lassen. Vielleicht war es einfach zu viel hier. Das wird Ihnen Gelegenheit geben, wieder zur Ordnung zu finden. Dann schauen wir weiter.«

Ich nickte. Mehr blieb mir nicht zu tun. Mein Mut war mir hier drin nicht von Nutzen.

»Es gab in anderen Kliniken gute Erfolge«, sagte er, »mit Störungen wie den Ihren. Neigungen, die nicht in einen Menschen gehören … so etwas muss nicht unbehandelt bleiben. Ich möchte hier auch damit anfangen. Vielleicht könnte das dann auch eine Lösung für Sie sein. Ich würde Ihnen gerne helfen.«

Dann stand er auf. Er streckte mir die Hand entgegen. »Ich werde mich erkundigen, wie es Ihnen geht.«

Ich griff nach seiner Hand. »Auf Wiedersehen«, sagte ich leise. Er blinzelte.