Sie öffnete die Tür, als ich mich gerade umzog. »Entschuldige«, sagte sie und zog die Tür gleich wieder ein Stück vor sich zu.
»Komm ruhig rein.« Du kennst mich doch, setzte ich in meinem Kopf nach.
»Wie war deine Nacht?« Sie schlich hinter mir ins Zimmer.
»Lange.«
»Meine auch.«
Wir sahen uns jetzt häufiger, seit ich auf der neuen Station wieder Nachtschichten machen musste. Wir verabschiedeten uns wie gewohnt: »Bis Samstag.« »Bis Montag.« »Bis nächste Woche.« Es war die vertraute Unordnung, die wieder einzog, und in der Ecke stand unsere Topfpflanze und zeigte unbeeindruckt von allem, was in diesem Zimmer passiert war, ihr leuchtendes Grün.
»Hast du schon gegessen?«
»Nein.«
»Wollen wir runtergehen und schauen, was es gibt?«
Ich nickte. Erst vor Kurzem hatten wir das zum ersten Mal wieder gemeinsam getan. »Gerne.«
Ein kurzer Blick über die Schulter verriet mir, dass sie noch ihren Mantel trug. Sie wartete, bis ich fertig war und den Schrank freigab, damit wir uns nicht zu nahe kamen. Wir wichen jeder Nähe, jeder Berührung aus, seit wir uns wieder zusammen in diesem Zimmer aufhielten.
»Meret«, sagte sie leise.
Ich spürte, wie mein Herz einen Satz machte. Sie sagte meinen Namen, und die unsichtbare Grenze zwischen uns bekam einen Riss.
»Bin schon fertig.« Ich setzte mich auf mein Bett und trennte meinen Zopf auf. Meine Kopfhaut schmerzte. Kreisend fuhr ich mit den Fingerkuppen darüber.
»Du bist vorsichtig, ja?« Sie blieb sitzen.
»Natürlich bin ich das.« Ich sagte nicht: Eigentlich ist es mir egal, was auf der Arbeit passiert. Das hatte ich nur einmal gesagt. Sie war wütend geworden. Mit zusammengebissenen Zähnen hatte sie mir verboten, das noch einmal zu wiederholen.
»Was beschäftigt dich?« Sie legte die Handflächen zusammen.
Ich sah zu ihr. Anfangs waren wir auch den Blicken ausgewichen. Ich hatte jeden Winkel, jede Spinne in diesem Zimmer noch einmal neu kennengelernt, damit ich sie nicht anschauen musste.
»Eine Begegnung.«
Jetzt sah auch sie mich an. Mein Körper wurde steif.
»Was für eine Begegnung?«
Das Bild der jungen Frau erschien sofort wieder vor meinem inneren Auge. Der Wäschesack, die Kargheit ihrer Worte. Es ging nicht weg. »Sie war eine Patientin von mir.«
»An ihr wurde der Eingriff durchgeführt?«
Ich nickte.
»Und sie hat es überstanden?«
Ich nickte wieder, energischer. »Wir konnten sie damals nach drei Tagen entlassen, es ging alles gut. Danach hat …« Es brannte in meiner Brust. »Danach hat für sie ein neues Leben angefangen.«
»Was heißt das?«
»Sie arbeitet jetzt in der Wäscherei. Ich hab sie getroffen, als sie Wäsche in die Klinik gebracht hat.«
»Hm.« Sarah rieb die Handflächen aneinander. »Und wie war das?«
»Es war …« Ich schüttelte den Kopf. Ich sah Veras zusammengefaltete Kleidung vor mir, die sie in der Klinik unter ihrer Bettdecke verstaut hatte. Ihren kleinen, leichten Koffer. Das Zucken in ihrem Gesicht, als hätte sie während unserer Begegnung plötzlich Angst vor mir bekommen.
»Erinnerst du dich an ihren Namen?«
»Vera.«
»Vera.« Sarah schloss die Hände. Sie schließt diesen Namen dort ein, dachte ich. Jetzt wird er gar nicht mehr weggehen. Ich spürte einen kindlichen Trotz in mir aufsteigen.
»Ich hab mit der Zeit gearbeitet«, sagte ich, »genau so, wie es mir die älteren Schwestern beigebracht haben. Aber ich verstehe nicht … sie haben gesagt, ich brauche nur meine Aufgaben zu erledigen, jeden Tag, und irgendwann würde ich die einzelnen Gesichter nicht mehr sehen. Sondern das große Ganze. Die Zeit wird auf meiner Seite sein.«
Sarah schwieg. Sie stand auf und zog ihren Mantel aus.
»Soll es nicht so sein?«, fragte ich, die Stimme brüchig vom Trotz.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, so soll es auf keinen Fall sein. Ich … nie werde ich die Gesichter meiner Patientinnen vergessen. Wie kommst du darauf, dass die Zeit auf unserer Seite sein könnte?«
Kurz schnürte mir ihr Ton die Kehle zu. Es war alles so zerbrechlich in diesem Zimmer. Jedes Wort, jede Bewegung. Ein zu kräftiger Stoß, und es wäre vorbei. Ich sagte nichts.
Sie stellte ihre Schuhe in den Schrank. Es kümmerte sie noch immer nicht, dass alle anderen ihre Schuhe auszogen, nachdem sie das Haus betreten hatten. Sarah ging in den Schuhen durchs Haus, stapfte in den Schuhen die Treppe hoch, donnerte durch den Gang, egal, wie oft sie dafür schon Tadel kassiert hatte.
Sie legte ihren Mantel ab. Noch trug sie keinen Schal, keine Mütze, keine Handschuhe. Dabei war es kalt geworden.
»Hörst du von ihm?« Sie streifte sich die Strümpfe von den Beinen und warf sie in den Schrank.
»Er richtet mir hin und wieder einen Gruß aus.«
»Einen Gruß.« Sie ging ein paar Schritte. »Einen Gruß«, wiederholte sie leise für sich. Sie fuhr sich mit den Fingern über die Lippen.
»Vermisst du es?«
»Ja«, gab ich zu.
»Eure Gespräche?«
»Ich vermisse es, in seinem Büro zu sitzen und zu wissen, dass … Dinge möglich sind.«
Sie blieb stehen. »Das verstehe ich.«
»Wirklich?«
»Glaubst du, ich bin gar nicht eitel?« Sie schüttelte den Kopf. »Du solltest mich doch mittlerweile kennen.«
Ja, ich kannte sie. Ihr Körper war mir so vertraut. Es fehlte mir jeden Tag, sie zu berühren.
»Komm«, sagte sie, »gehen wir etwas essen.« Ich stand auf. Ich folgte ihr aus dem Zimmer, den Gang entlang, sah ihre Hände an, die Hände, in denen sie Veras Namen eingeschlossen hatte.