Er rief mich an einem Sonntag an, um mir mitzuteilen, dass Marianne sterben würde. »Jetzt hätte es ihr eigentlich besser gehen sollen«, sagte er. Ich konnte die Empörung in seiner Stimme hören.
In den vergangenen Wochen hatte man sie mit der experimentellen Medikamententherapie behandelt. Es war ein Medikament, das eigentlich in anderen Gebieten angewandt wurde. In einer extrem hohen Dosierung sollte es sie langsam aufwecken. Aber anstatt dass sie dadurch wach wurde, begann der Körper, der funktionstüchtig geblieben war, nun Stück für Stück aufzugeben.
»Bitte komm«, sagte er. Und dann nahm er es gleich wieder zurück. Jetzt, mit dem Tod in greifbarer Nähe, hatte ich nichts mehr bei ihr zu suchen. Die Familienmitglieder würden zurück in ihre Rollen schlüpfen, wieder Mutter, Vater und Brüder sein, bereit für einen richtigen Abschied, eine richtige Trauer. Nur die Angehörigen, so galt es für Anlässe wie diesen. Nur diejenigen, denen sie gehörte.
»Dann war es ganz ohne Sinn, das letzte Jahr.« Er schluckte. »Danke«, sagte er leise, »ich danke dir. Du warst da. Danke.«
Nachdem er aufgelegt hatte, ging ich in unser Zimmer. Dort setzte ich mich auf mein Bett und sah zum Fenster hinaus. Ich konnte Sarahs Bett nicht anschauen.
Er hatte nur genickt, als ich ihm beim letzten Mal sagte, wer ich wirklich war. »Ja, da hatte ich schon vermutet.« Damit war es für ihn erledigt. Dieses Geheimnis hatte in ihrem Zimmer gar keine Macht. Ich begriff, dass er jede willkommen hieß, die durch diese Tür kam, um einen kurzen Besuch abzustatten. Jede, die ihm das Alleinsein mit ihr um ein paar Minuten verkürzte.
Stunden oder Tage. Das war alles, was es jetzt noch für Marianne gab. Und wenn es vorbei war, würden ihre Haare noch für eine Weile weiterwachsen. Ganz ohne ihr Zutun.
Ich stellte mich auf eine Nachricht ein. Ich glaubte, sie würde mich erleichtern.
Kurz hatte ich die Hoffnung des Bruders teilen können; Marianne, die ihre Augen aufschlug, und alles war wie vor dem Eingriff. Nur dass ihre Wut nicht mit ihr aufwachte. Ihre Wut würde einfach weiterschlafen.
Von diesem Bild hatte ich mich schnell verabschiedet. Ich sah nur noch die Besuche bei Marianne, ein ewiges Weitergehen des Zustandes, wie er jetzt war. Ich konnte nichts darüber sagen, wie es ihr ging. Vielleicht ging es ihr gar nicht so schlecht. Was wusste ich schon. Das war doch ich, die das warme Gewicht ihres Lebens spürte und davon befreit werden wollte.
Fünf Tage, nachdem der Bruder so empört gewesen war, kam ein zweiter Anruf. Noch im Nachthemd eilte ich zum Telefon. Er war aufgebracht, er klang nicht nach Tod.
»Meine Schwester möchte dich sehen«, sagte er.