Da war noch immer das Unberührte an ihr, das erst gekommen war, nachdem ihr Körper in seinen neuen Zustand gefunden hatte. Aber da war auch Unruhe. Vielleicht machte es ihr Angst zu wissen, dass dieser Körper sie gar nicht brauchte, um weiterzumachen. Dass er zum Funktionieren gebaut war und sie nicht gehen lassen würde, solange ihm das gelang.
»Hallo«, sagte ich.
»Du hast dir Zeit gelassen«, sagte sie. Ihre Stimme war ihr noch nicht wieder eigen. Ihre Worte klangen hölzern, als spräche sie eine Sprache nach, die sie gar nicht beherrschte. Sie legte die Hand an ihren Kehlkopf. Die Vibrationen darin mussten sich ungewohnt anfühlen.
Ich blieb beim Tisch stehen. Sie deutete auf den Stuhl neben ihrem Bett.
»Setz dich.« Dann zögerte sie. »Bitte«, sagte sie noch, unsicher darüber, ob sie mich hier um Dinge bitten musste.
Plötzlich war ich ihr wieder so nah. Ich sah die Risse in ihrer Haut. Feine Verästelungen, die sich über ihre Wange zogen.
»Mein Bruder hat mir erzählt, dass du hier warst.« Sie deutete auf den Tisch beim Fenster, wo die Blumen standen. »Abgesehen von euch beiden kommt nur die Botanik zu Besuch.«
»Erinnerst du dich?«
»An was? An dich, hier?«
An das, was wir mit dir gemacht haben, wollte ich sagen. Stattdessen nickte ich.
»Vielleicht.« Wieder suchten ihre Finger den Kehlkopf. Dort ruhten sie, während sie weitersprach. »Manchmal kommen Bilder. Wie ein Traum, an den man sich irgendwann am Tag erinnert. Ein sehr langer, sehr langweiliger Traum.«
Ich sah zu den Karten auf ihrem Nachttisch. »Dein Bruder hat hier mit dir gespielt. Er hat mir von euren Runden erzählt. Erinnerst du dich daran?«
»Mit mir hat er gespielt?« Sie schnaubte. »Mit sich selber hat er gespielt, der alte Idiot.« Sie griff nach den Karten und ließ sie neben mir auf den Boden fallen.
»Er hat mich alleine gelassen. Über Jahre. Er hat so getan, als sei das ein Naturgesetz. Er ist ein Bruder und ich bin eine Schwester, und das … sind zwei verschiedene Welten.«
Sie atmete schnell. Das Sprechen kostete sie fast alles, was sie an Kraft hatte. Ich wollte sie beruhigen. Meine Hand auf ihre legen. Ich wollte ihr von Wilm erzählen. Dass mein Bruder auch verschwunden war, in eine andere Welt. Ich sagte nichts.
»Es ist immer noch da«, sagte sie nach einer Weile. Sie hatte ihre rechte Hand im Bettlaken verkrallt. »Es ist immer noch in mir drin.«
»Was?«
Jetzt erst fiel mir der Bilderrahmen auf. Er stand auf dem Nachttisch. Sie und ihre Familie. Die Scheibe war zersplittert.
»Deine Wut?«
»Man hat mir gesagt, dass ich Glück habe. Dass man von so was eigentlich nicht zurückkommt. Es wird vermutlich nicht lange halten. Das haben sie auch gesagt. Aber sie sagen viel. Sie wissen alles. Anscheinend.«
»Wenn ich irgendetwas …«
Sie schüttelte den Kopf. Sie wollte von meiner Schuld nichts wissen.
»Ich hatte gehofft, es würde weggehen. Ich wache auf, und … ich bin nicht mehr wütend.«
Sie sah zu mir.
»Der Arzt war hier.«
»Hier?«
»Saß da, wo du jetzt sitzt. Er hat gesagt, wenn es besser wird … wenn es so bleibt … mit mir … dann können wir es noch mal versuchen.«
»Nein«, stammelte ich. Fast schaffte meine Stimme dieses eine Wort nicht. »Nein«, sagte ich noch mal. Mein Nacken wurde kalt. Ich versuchte, mir den Doktor vorzustellen, hier an ihrem Bett. Seine Worte, die immer Sinn ergaben, die seine größte Fähigkeit waren, größer als alles, was seine Hände schufen.
»Schon gut.« Sie nickte. »Ich mag auch nicht mehr.«
Ich merkte, wie mir die Tränen aufstiegen. Ich wollte ihre Hand öffnen und mich in diese Kuhle hineinlegen. Ich wollte um sie weinen.
»Bring mich weg«. Sie hatte etwas an sich, es ließ nicht zu, dass man sich von ihr abwandte. Nicht, wenn man ihr so nahe war.
»Egal, wohin.« Sie streifte die Decke von ihrer Hüfte. Ich sah die Spuren an ihren Oberschenkeln, die das lange Liegen hinterlassen hatte. »Hauptsache, weg aus diesen Zimmern, in denen ich … krank … und beschädigt bin.« Sie ließ das Laken los.
Ich war eingefangen von ihrem Blick. Ich musste ihr direkt in die Augen blicken, als ich sagte: »Ich kann nicht.«