Wir fuhren los, als es schon fast dunkel war. Schweigend passierten wir die Vororte der Stadt. Sarah traute keinem grünen Licht. »Schau, ob was kommt«, wies sie mich an den Ampeln an. Sonst sagte sie nichts. Sie navigierte uns durch die immer ländlicheren Straßen. Sie hatte sich die Karte eingeprägt. Sie hatte gesagt, wenn es darum ginge, den Weg zu finden, traue sie niemandem außer sich selbst.

Wir waren früh dran. Wir parkten abseits und warteten. Sarah machte den Motor aus. Sie öffnete das Handschuhfach, nahm ihre Zigaretten heraus und steckte sich eine in den Mund.

»Darf ich auch?«, fragte ich.

»Nein.« Sie kurbelte das Fenster runter. Sie zog eine Packung Minzbonbons aus ihrer Tasche und reichte sie mir. »Hier. Wenn du süchtig werden willst, nimm das.«

Eine Weile saßen wir so. Sarah rauchte noch eine zweite und dritte Zigarette. Als sie die vierte im Mund hatte, verging ihr die Lust. Sie warf sie aus dem Fenster.

Vor drei Tagen hatte sie das Auto gekauft. Unser ganzes gespartes Geld steckte darin. Es war mit seinen alten Besitzern schon viele Kilometer gefahren, zu viele für mein Empfinden. Sarah allerdings war sich sicher gewesen, dass es uns bis zu unserem Ziel bringen würde. Sie kenne Blechbüchsen, hatte sie gesagt. Sie sehe es ihnen an, ob sie treu sind.

»Glaubst du, sie kommt?« Es waren schon zwanzig Minuten nach der verabredeten Zeit. Ich merkte, wie ich hoffte. Eine kurze Hoffnung, dass wir zurückfahren und in unser altes Leben schlüpfen könnten.

»Schauen wir mal.« Sarah lehnte sich zurück. Sie wirkte ganz ruhig, aber ihr Herz raste. Ich sah, wie es unter ihrer Brust wummerte.

Sie hatte mich geküsst. Nachdem sie das Auto gekauft hatte, war sie in unser Zimmer gekommen, hatte mein Gesicht zwischen ihre Hände genommen und mich geküsst. »Wir machen es wirklich.« Sie zog mich auf ihr Bett. Sie lehnte ihre Stirn an meine. »Wir machen es wirklich.« Dann ging jede Berührung wie von alleine. Ihr Hals. Ihre Achseln. Ihr Bauch. Ihre Beine. Ihr warmer Schoß. Ihre Augen auf mir. Ihr Keuchen. Die vom Kissen kaum zu erstickenden Laute. Ihr erschöpfter Körper, der sich in der Umarmung mit meinem nahezu auflöste.

Ich wollte nicht zurück.

»Es wird.« Sie streckte den Arm aus und griff mir in die Haare. »Es wird schon.«

Solange wir zusammen sind, ergänzte ich still. Ich tat ein paar tiefe Atemzüge, schloss die Augen, sog die kühle Luft ein. Unser Auto roch nach Leder und Rauch. Unser Auto, dachte ich, und mir wurde warm in den Fingerspitzen.

»Sie kommen.« Sarah nahm ihre Hand aus meinen Haaren und drehte den Zündschlüssel. Ich blickte aus dem Fenster, zu den zwei Gestalten, die sich dem Auto näherten. Marianne saß im Rollstuhl und wurde von ihrem Bruder geschoben. Noch schafften es ihre Beine nicht weit. Die vergangenen Wochen waren zu wenig gewesen, um die Muskeln ordentlich aufzubauen. Monate lagen vor ihr, vor uns, bis ein ausgiebiger Spaziergang wieder möglich sein würde.

»Guten Abend«, sagte der Bruder und gab Sarah die Hand. Fast wäre ich ob seiner Förmlichkeit in Gelächter ausgebrochen. Marianne nickte uns zu. Ein schmales Lächeln umspielte ihren Mund.

Der Bruder half ihr auf die Rückbank. Er umarmte sie. Er legte noch die Hand ans Fenster, nachdem er die Tür geschlossen hatte. Sie drückte von der anderen Seite dagegen. Dann klopfte er auf die Haube. »Mach’s gut«, sagte Marianne leise. Sie presste die Lippen aufeinander.

Ich sah im Rückspiegel, wie er zusammensank. Nicht so wie andere, die es in die Knie zwang, die sich auf den Boden warfen und schluchzten. Er war ja ein Ellerbach, seine Fassung war größer als er.

Wir fuhren fast den ganzen Weg zurück. Unbehagen breitete sich in mir aus, je näher wir der Stadt kamen. Sarah hatte darauf gepocht, dass das die beste Route sei. Keine unnötigen Umwege, die uns Stunden auf unserem Weg zum Ziel kosten würden. Ich legte meine Hände auf die Knie. Ich versuchte mir Sarahs Herz vorzustellen. Sein Schlagen.

»Wir können jederzeit umkehren«, sagte ich zu Marianne, als wir am Bahnhof wieder stadtauswärts abbogen.

»Ich weiß.«

Sie hatte ihrem Bruder gesagt, dass er in ihrer Schuld stehe. Für all die Jahre, in denen er sie alleine gelassen hatte. Sie würde ihm vergeben. Wenn er sie ziehen ließe.

»Ich weiß.«

Marianne schlief bald ein und so waren Sarah und ich alleine, während um uns herum die Lichter weniger wurden. »Möchtest du, dass ich mit dir spreche, um dich wach zu halten?«, fragte ich Sarah.

»Ich möchte, dass du ab und zu sagst, fahr weiter.«

»Fahr weiter?«

»Ja. Das reicht.«

»Das kann ich machen.«

»Gut.«

Wir hielten nur einmal an. Sarah nutzte die Minute, als ich mich am Straßenrand erleichterte. Ich sah sie im hell erleuchteten Auto, wie sie die Ellenbogen auf den Lenker stützte, die Hände faltete und die Augen schloss. Tonlos sprach sie ihr Gebet.

Wir weckten Marianne. Sie machte die Augen auf, blickte uns an, ein ruhiger Blick, wie ich ihn von ihr nicht kannte.

»Geht es dir gut?«, fragte ich. Ich befühlte ihre Stirn. »Weißt du, wo wir sind?«

»Ja. Und ja. Darf ich jetzt weiterschlafen?«

Sie ließ es zu, dass wir den Gurt von ihr lösten, ihre Füße auf die Rückbank legten und ein Kissen unter ihren Kopf schoben. Kurz drückte sie meine Hand, als ich sie wieder zudeckte.

Wir passierten ein paar Dörfer, dann kam nichts mehr. Nur noch die Scheinwerfer des Autos wiesen den Weg. Ich merkte, wie ich mich langsam entspannte. Es gab die gleichförmige Bewegung der Fahrt, die Unebenheiten auf der Straße, uns.

»Fahr weiter.«

Wir hatten nicht alles mitnehmen können. Streit war ausgebrochen über die Zimmerpflanze. Sollte sie doch den nächsten Bewohnerinnen gehören und aus ihrem Zimmer ein Zuhause machen. Sarah hatte dazu eine andere Meinung. Sie drohte sogar, nicht zu fahren, wenn die Pflanze im Schwesternwohnheim blieb.

»Fahr weiter.«

Ich sah auf die beschlagenen Scheiben. Mit dem Finger fuhr ich durch das Nass und zeichnete Muster. Ich wartete auf den Regen, früher oder später würde er kommen, das Auto benetzen, seine Tropfen von der Geschwindigkeit zu Rinnsalen verzogen.

»Warte hier.«

Ich musste eingenickt sein. Ich wachte davon auf, dass der Wagen hielt. Es war noch dunkel draußen. Es war alles fremd.

Sarah stieg aus. Sie ging auf ein erleuchtetes Fenster zu. Sie bückte sich und warf Kieselsteine gegen die Scheiben. Protestgeschrei war von innen zu hören, dann wurde das Fenster aufgerissen.

»Was ist denn hier los?«, brüllte die Frau. Sie blickte hinaus zu ihrer Tochter. »Was ist das für ein Auftritt, mitten in der Nacht? Ich dachte, ihr kommt morgen!« Sie verschwand vom Fenster. Man hörte ihr Schimpfen, wie es durch den Flur bis nach draußen drang. »Hast du eine ganze Karawane mitgebracht? Da war doch … was hast du gesagt, wie viele Leute kommen? Bin ich eigentlich ein Hotel?«

Die Tür ging auf. Das Flurlicht erhellte die beiden, als sie sich umarmten. Ich sah, wie fest sie einander hielten. Wie die Mutter ihre Hand an Sarahs Kopf legte und ihre Tochter fast ein Stück vom Boden abhob.

»Was machst du mit deiner alten Mama«, schimpfte sie, »willst du mich umbringen?«

Ich drehte mich zu Marianne um. Sanft rüttelte ich sie am Knie.

»Wach auf«, sagte ich. »Wir sind da.«