Kapitel 9

»Wie lange wollen Sie noch so weitermachen?«, fragte der FBI-Agent eindringlich.

Oma Nadine grinste und beugte sich über den Metalltisch. »Wie lange haben Sie denn Zeit, mein Lieber?«

Beth

Ich war eine flennende Idiotin. Die einzige Erklärung, die ich dafür hatte, war prämenstruelles Syndrom oder irgendwas in der Art. Char und Kacey nahmen mich in den Arm und erklärten mir, alle Männer seien Schweine. Das half. Irgendwie.

Ich konnte nur vermuten, dass sie mein langes Gesicht gesehen hatten und jetzt versuchten, mir auf alle mögliche Art Unterstützung anzubieten. Bei Mädchen bedeutete das im Normalfall, über den fraglichen Typen zu lästern, bis das heulende Mädchen zu heulen aufhörte und mitmachte.

Aber ich wollte nicht lästern. Denn egal, wie brutal Jace mit meinen Gefühlen auch umgesprungen war – er war zumindest ehrlich gewesen.

Mit ehrlichen Kerlen kam ich klar. Was mich wirklich quälte, waren die Typen, die einem etwas vormachten. Mit Ehrlichkeit hingegen hatte ich den größten Teil meines Erwachsenenlebens zu tun gehabt. Damit konnte ich arbeiten; ich konnte es logisch erklären.

Vielleicht lag es an meinem Haar.

Ich hatte immer zu hören bekommen, die Farbe Braun sei zu langweilig.

Oder lag es vielleicht an meinen Augen? Allerdings waren die meiner Ansicht nach wirklich das Einzige, was für mich sprach. Smaragdgrün, umrahmt von dunklen Wimpern, die ihnen ein beinahe exotisches Aussehen verliehen.

Aber das war’s auch schon. Nein, im Ernst, das war alles, was ich hatte. Mein Körper war normal, nicht zu groß und nicht zu klein. Und ich klang genau wie Goldlöckchen aus dem Märchen Die drei Bären.

»War er gemein zu dir?« Char drückte meine Hand. Sie war immer eine Frau gewesen, die sich erst in den Kampf stürzte und später Fragen stellte.

Dafür liebte ich sie.

»Nein«, log ich, »er war ein perfekter Gentleman. Nicht schlecht für einen Senator.«

»Senator, meine Güte«, zischte Char. »Der Typ ist widerlich.«

»Ich dachte, du magst ihn«, wandte ich ein.

»Mochte.« Char schniefte. »Vergangenheitsform. Ich mochte ihn, bevor er dich einfach vom Hochzeitsempfang weg verschleppt hat. Ich mochte ihn, bevor ich erfuhr, dass du stundenlang an seinem nackten Oberkörper geklebt bist. Und ich mochte ihn, bevor er anfing, dir auf den Hintern zu starren, als wäre der der Schlüssel zu allen Geheimnissen der nationalen Sicherheit.«

»Er hat mir auf den Hintern gestarrt?«, fragte ich, und meine Stimme klang viel zu hoffnungsvoll dabei. Böse Beth. Ganz böse.

»Nicht der richtige Zeitpunkt, Beth.« Char kniff die Augen zusammen. »Weißt du noch, was mit Brett war? Und Steve? Und John?«

»Hör auf, Männer aus meiner Vergangenheit aufzuzählen, sonst begehe ich noch Selbstmord«, brummelte ich.

Kacey sagte gar nichts. Sie verfolgte unseren Austausch mit Interesse und sah lächelnd zwischen Jace und mir hin und her.

»Er ist aber auch niedlich«, erklärte sie schließlich.

Ähem, also eigentlich war er ein Gott. Nein, ehrlich, bitte nachzufragen bei Marvel Comics.

»Kace …«, warnte Char, »niedlich gilt für Hundewelpen, nicht für Politiker.«

»Gehen wir!« Oma Nadine übertönte die Auseinandersetzung der Jungs und das Lachen der beiden Mädels neben mir.

»Also, halt dich ran, Tiger.« Char kniff mir in den Po. »Lass ihn arbeiten.«

»Arbeiten?«, fragte ich unschuldig. Mich beschlich der Verdacht, dass sie damit nicht wirklich Arbeit meinte, im Sinne von: gib ihm mathematische Formeln und lass ihn das X in der Gleichung ausrechnen. Eher etwas weitaus Schwierigeres wie: ernsthaft versuchen, sexy zu sein.

Char lachte nur und boxte Kacey gegen den Arm. Entging mir da gerade etwas? Schulterzuckend schob ich es darauf, dass ich zu erschöpft war, und hängte mir die Tasche über den Arm. Essen. Ein einziges Essen. Und dann würde ich mir einen Hawaiianer im Lendenschurz suchen, damit der mich von Kopf bis Fuß mit Kokosöl einrieb und so beeindruckende Wörter sagte wie elektromagnetisch und ionisch … Mist. Ich war meine eigene ionische Bindung. Egal, wie oft ich mir auch gewünscht hatte, ich könnte mich mit etwas verbinden, es war nie dazu gekommen.

Mist. Ich war ein Teilchen ohne Ladung. Also wollte ich mich aufladen. Ich musste mich aufladen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Jace, während wir hinter Oma Nadine hertrotteten.

»Habe ich eine Ladung?«

»Wie bitte?«

»Eine Ladung«, wiederholte ich.

»Wie eine Platine?«

»Wie eine chemische Verbindung.«

»Ich glaube, ich bin verwirrt.«

Ich seufzte schwer. »Ionische Verbindungen. Sie entstehen, wenn geladene Teilchen sich miteinander verbinden. Ich glaube, ich bin ungeladen, neutral.«

Jace’ Gesicht leuchtete belustigt auf. »Ungeladen, hm? Ist das deine professionelle Meinung?«

»Ich muss mal für Damen! Verdammter Wein!«, rief Oma Nadine laut und marschierte davon, so dass Jace und ich an jener überaus romantischen Stelle zurückblieben, die man allgemein als die Wand zwischen Damen- und Herrentoilette bezeichnet. Das Geräusch der Klospülung war unsere romantische Musik, und der Duft von mexikanischem Essen hing in der Luft.

Noch einmal. Ich war eindeutig ohne Ladung.

»Also …« Jace lehnte sich an die Wand.

»Also?«

»Ist das deine professionelle Meinung? Dass du keine Ladung hast?«

»Ja.« Und wieder eine Klospülung. Überwältigend. Ich wollte schon beinahe in Jubel für die unbekannte Person ausbrechen. Ich meine, wenn man nicht Beifall klatschen kann, weil jemand eine funktionierende Verdauung hat, mal ehrlich – was sollte man dann beklatschen?

»Großartig.« Er griff nach meinen Armen und zog mich an sich. Noch mehr Klospülungen, aber ich konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf die Bewegung seiner Lippen. »Also, hier ist meine Meinung.«

Sein Kuss war zart und fast unwirklich. Ich neigte mich ihm entgegen und wurde für meine Mühe belohnt, als sein heißer Mund sich fester auf meinen drückte. Doch ohne Vorwarnung zog er sich wieder zurück.

»Beth.« Seine heisere Stimme hüllte mich ein und ließ mich schaudern. »Du siehst das von der falschen Seite. Das Problem ist nicht deine verdammte Ladung. Sondern dass du nicht einmal erkennst, dass du überhaupt eine hast. Wenn du nicht weißt, was du hast, wie kannst du es dann nutzen? Du willst eine ionische Verbindung schaffen? Ich sage, das ist Blödsinn. Warum solltest du dich mit der Energie eines anderen Menschen verbinden wollen, wenn du deine eigene Energie hast? Wieso verbinden, wenn du ein kontinuierliches Spektrum bist?«

»Du benutzt da große wissenschaftliche Begriffe.« Genau, das war alles, was mir auf seine Ansprache einfiel.

Jace’ Augen leuchteten belustigt auf. »Manchmal. Kommt schon mal vor. Ich habe nämlich tatsächlich eine Schule besucht, weißt du.«

»Das war wie schmutzige Wörter, nur besser.« Ich neigte mich näher zu ihm, und sein Lächeln wurde breiter.

Er beugte sich vor, und seine Stirn berührte meine. »Da, wo das herkommt, gibt es noch mehr.«

»Du hast mich ein kontinuierliches Spektrum genannt.« Ich grinste und fühlte mich ganz warm und flauschig, bis in die Zehenspitzen.

»Das war ein Kompliment.«

Seine Lippen waren so nahe, dass ich beinahe sein Pfefferminzkaugummi schmecken konnte.

»Ich weiß.«

»Beth« – sachte schob er mich von sich – »hör auf, dir Sorgen zu machen, dass du vielleicht Dinge anziehst, die du nicht anziehen willst.« Er räusperte sich und fuhr sich mit der Hand durch das etwas zu lange blonde Haar.

Meinte er damit sich selbst? Wirkte ich anziehend auf ihn?

»Vertrau mir, der Richtige kommt eines Tages, und wenn es so weit ist, wird es wundervoll sein. Bis dahin leuchte einfach weiter. Du bist schön, du bist klug, und du hast eine Menge zu bieten. Lass nicht zu, dass du selbst dein ärgster Feind wirst.«

Ich konnte ihn nur fassungslos anstarren und mir wünschen … ja, genau das. Ich wollte oder wünschte mir, dass er einfach was soll’s sagte und mich noch einmal küsste. Ich wollte, dass er mich wollte, und ich hasste meine Schwäche, die mir das Gefühl gab, ich bräuchte eine Person des anderen Geschlechts, um mich zu vergewissern, dass ich attraktiv war.

»Ach je!« Oma Nadine kam aus der Toilette und schimpfte. »Manche Leute kommen einfach nicht mit Milchprodukten klar, so sieht’s aus!« Sie kniff die Augen zusammen. »Was ist denn hier los?«

»Nachhilfe in Naturwissenschaft.« Jace legte den Arm um mich. »Eine kleine Lektion über gebundene …«

»Verdammte gebundene Anlagen.« Oma Nadine warf sich schwungvoll ihre riesige Leopardenmuster-Handtasche über die Schulter und zuckte zusammen. »Ich sage euch etwas über gebundene Anlagen. Die Regierung bringt einen dazu, sie zu kaufen, und dann wartet man Jahre – Jahre, sage ich euch!«

»Und noch eine Lektion in Wirtschaft«, fügte ich hinzu. »Was für ein Tag.«

»Ich bin ein verhungernder Löwe. Und ich wäre in diesem gottverlassenen Höllenloch, das man hier Toilette nennt, beinahe abgekratzt. Gehen wir.« Oma Nadine deutete auf die Türen und eilte hinaus.

Jace schmunzelte und folgte ihr, so dass es mir überlassen blieb, hinter den beiden herzutrotten. Wieso küsste er mich andauernd, wenn er mich doch auf Abstand halten wollte? Und wieso kümmerte mich das? Thor küsste mich. Das war ein Grund zum Feiern, nicht zum Grübeln. Aber natürlich konnte ich mich, nach bester Altjungfernart, nur darauf konzentrieren, dass er mir gesagt hatte, ich sei ein Spektrum. Und traurigerweise war das eines der nettesten Dinge, die ein Mann je zu mir gesagt hatte.