»Ma’am, was hat denn Justin Timberlake damit zu tun?«
»Justin Timberlake ist die Antwort auf alles«, erklärte Oma Nadine feierlich.
»Wie meinen Sie das?«
Nach einer langen Pause antwortete sie: »Weil er den Sexappeal zurückgebracht hat.«
»Ich bedaure, dass ich mich heute nicht krankgemeldet habe.«
Ich hatte sie also zweimal geküsst. Riesensache. Ich fuhr mir zum wahrscheinlich zwanzigsten Mal mit der Zunge über die Lippen und hoffte, nein, betete, dass ich sie immer noch auf der Zungenspitze fühlen könnte. Verflixt, sie schmeckte gut. Ihr Duft und ihr Aroma gingen mir nicht mehr aus dem Kopf, und dabei musste ich mich auf wirklich wichtige Dinge konzentrieren wie zum Beispiel den Versuch, meine Karriere wieder in die Spur zu bringen, statt sie durchs Klo zu spülen.
Mit einem verstörten Aufstöhnen leckte ich mir über die Lippen. Ein letztes Mal. Nur zur Erinnerung.
Wie oft schon hatte ich eine Frau geküsst und nichts dabei empfunden?
Es ist eine Schande für einen Mann, wenn er zugeben muss, dass er vom weiblichen Geschlecht derart die Nase voll hat, dass er in keiner Weise mehr darauf reagiert. Das war Kerrys Werk. Sie hatte mich gebrochen. Und ich hasste es, mich wie ein kaputtes, missbrauchtes Spielzeug zu fühlen, das nicht mehr richtig funktionierte. Es ärgerte mich, und ich fühlte mich dabei alles andere als männlich.
Aber Beth? Sie gab mir das Gefühl, lebendig zu sein. Zu schade, dass die Dinge, die einem das Gefühl geben, am Leben zu sein, einen irgendwann umbringen. Drogen, Alkohol, Bungeejumping. Okay, gut. Ich dramatisierte gerade, aber trotzdem. Frauen waren Raubtiere. Sie konnten nicht anders, sie wollten Männer in ihre Falle locken und dabei am Ende die Beziehung zerstören. Vielleicht war es Furcht, aber ich hatte den Verdacht, dass die Ursache viel tiefer ging.
Eine arrangierte Ehe. Das war meine Zukunft. In einer arrangierten Ehe konnte ich zumindest die Fäden ziehen; ich konnte sie zu meinem Vorteil nutzen. Ich hätte die perfekte Senator-Ehefrau, und ich hätte meinen Traum.
Das einzige Problem dabei? Je mehr Zeit ich mit Beth und dieser verdammten Großmutter verbrachte, umso mehr wurde die Realität in den Hintergrund meines Verstandes gedrängt. Ich musste zurück aufs Festland, und ich musste Rick anrufen. Ich verlor mein Ziel aus den Augen, und Beth war der Grund dafür.
Ich hatte mich nie als Romantiker gesehen. Dieser Traum hatte vor über zehn Jahren sein Ende gefunden. Ich war so jung und dumm gewesen; naiv, zu glauben, Beth würde sich an die Magie unseres Kusses erinnern, an die Magie des Augenblicks, den wir geteilt hatten. Ich hatte mich Hals über Kopf verliebt. In exakt drei Minuten hatte ich unsere Hochzeit geplant, während sie es gar nicht erwarten konnte, das Weite zu suchen.
Als ich Oma Nadine erklärt hatte, ich würde ihr dabei helfen, Jake und Char zusammenzubringen, hätte ich mir selbst in meinen wildesten Träumen nie vorgestellt, in das Titus-Familiendrama mit hineingezogen zu werden. Und nicht ein einziges Mal hätte ich gedacht, dass ich mit Chars Schwester im Bett landen würde. Besonders, nachdem ich mir all die Jahre genau das gewünscht hatte.
Ich warf ihr einen verstohlenen Blick zu.
Sie war wunderschön. Aber ich war oft von wunderschönen Frauen umgeben, und keine von ihnen, nicht eine, weckte in mir den Wunsch, um sie zu kämpfen.
Beth schon.
Und es machte mich tierisch sauer, dass ich ihr irgendwie so viel emotionale Macht über mich eingeräumt hatte. Das hatte ich ein Mal riskiert, bei Kerry. Ich hatte meinen Schutzwall eingerissen, und dann erwischte ich sie mit meinem besten Freund im Bett. Aber selbst bei Kerry hatte dieses besondere Kribbeln gefehlt, das ich bei Beth spürte.
Und das war beängstigend. Wenn es mir so leichtfiel, mit ihr zusammen sein zu wollen, dann bedeutete das, dass sie noch viel mehr Macht hatte, mich zu vernichten. Und das Traurige dabei war, dass ich sie wahrscheinlich gewähren ließe, denn auch wenn ich der knallharte Typ sein wollte, den nichts kümmerte – ich war es nicht.
Ich hatte immer gewusst, sollte es eines Tages dazu kommen, dass ich mich rettungslos verliebte, würde mich das von innen heraus zerstören. Meine Mutter hatte oft scherzhaft gesagt, ich würde mein Herz auf der Zunge tragen. In meinem Beruf war das hilfreich. Die Menschen vertrauten mir wirklich. Sie mochten mich. Und im Gegenzug versuchte ich, mein Bestes für sie zu geben.
Die Leute. Ich durfte nicht vergessen, das zu tun, wofür ich geboren worden war: andere zu führen und Opfer zu bringen. Wenigstens hätte ich am Ende immer noch meinen Job. Logistik, Wahlen, Politik – das waren Inhalte, die, wenn man es zuließ, das Leben eines Menschen bestimmen würden und keinen Raum für andere Dinge ließen. Genauso wollte ich mein Leben haben, damit ich die Dinge kontrollieren konnte.
Stöhnend beschloss ich, meinem Verstand ein wenig Ruhe zu gönnen.
Für heute Abend.
Ich würde mich darauf konzentrieren, das Essen zu überstehen. Oma Nadines Fürsorge abzuwehren, das würde schon hart genug werden. Für diese Frau würde ich all meine Energie benötigen. Ich schwöre, als der Herr sie erschuf, hat Er eine ziemliche Nummer abgezogen.
»Wir sind da!«, rief Oma Nadine so laut, als befänden wir uns bei einem WM-Spiel.
»Juhu.« Beth reckte die Faust in die Höhe und warf mir ein müdes Lächeln zu.
Die Arme. Wahrscheinlich war sie genauso erschöpft wie ich. Unser Flug war ja nicht gerade wie ein angenehmer Traum gewesen. Eher die Hölle auf Erden. Und er hatte meinen Wunsch, mich fortzupflanzen, ernsthaft in Frage gestellt.
»Ich bin so hungrig, dass ich fast das drei Wochen alte Bonbon gegessen hätte, das ich ganz unten in meiner Handtasche gefunden habe«, flüsterte Beth so leise, dass nur ich sie hören konnte.
»Was denn? Ohne zu teilen?«
»Da war Pelz dran.« Beth seufzte. »Eine Chance von fünfzig zu fünfzig, dass ich an irgendeiner Form von Pilzvergiftung gestorben wäre.«
»Noch mehr Wissenschaft.« Ich seufzte. »Heiß.«
»Schimmelpilze. Immer heiß.«
»Wo ist das verdammte Boot?« Oma Nadine stemmte die Hände in die Hüften und marschierte am Pier entlang, während ich die Augen schloss und mir in den Nasenrücken kniff.
Oma Nadine brüllte Obszönitäten in den Abendhimmel, aber ich hörte nicht hin, denn irgendwie hatte Beth es geschafft, sich an meine Schulter zu lehnen, und meine Schulter wiederum hatte in jenen kurzen Sekunden beschlossen, dass ihr das gefiel. Also bewegte ich mich nicht, wie gelähmt durch ihre Berührung, und debattierte mit mir selbst, ob ich den Arm um sie legen oder einfach wie ein willenloser Idiot hier stehen bleiben sollte.
»Ihr jungen Leute bleibt hier. Das ist doch …« Oma Nadine beendete den Satz nicht, sondern schimpfte wieder und ging weiter den Strand entlang, das Handy in der Hand.
Beth rührte sich nicht, sondern lehnte sich noch mehr an mich, und ich schloss die Augen und ließ den Duft der Inseln meine Sinne durchdringen. Die Luft war schwer von Blumenduft. Zum ersten Mal seit zwei Jahren fühlte ich mich halbwegs entspannt.
Das heißt, bis ich in der Ferne ein Horn hörte.
Ich blinzelte einige Male, als ich ein Boot sah. Korrektur: Es war eher eine verdammte Jacht. Natürlich, wenn ich es mit Oma Nadine zu tun hatte, was konnte ich da anderes erwarten? Diese Frau machte keine kleinen Sachen; also, falls sich urplötzlich die Titanic aus ihrem nassen Grab erheben und über den Ozean auf uns zufahren würde, tja, ich würde nicht mit einer einzigen Wimper zucken. Je näher die Jacht kam, umso unmöglicher wurde es, wegzusehen. Ich hatte immer eine Schwäche für Jachten gehabt, und diese hier war wunderschön. Reines Weiß, und ihre Lichter spiegelten sich im Wasser. Auf der könnte ich mich ins Privatleben zurückziehen und bequem den Rest meines Lebens verbringen. Auf der Seite stand Titus Enterprises. Vielleicht fand dort unser Essen statt?
Ein Mann in blauem Hawaiihemd legte am Dock an und winkte uns zu sich herüber.
»Ich glaube, das ist unsere Mitfahrgelegenheit«, flüsterte ich in Beth’ Haar und gestattete mir dabei schamlos ein paar tiefe Atemzüge.
»Hm …«, brummte sie und ging am Dock entlang.
Ich folgte ihr blind, hypnotisiert von ihrem Hüftschwung.
Der Kapitän half ihr ins Boot. Sie war müde, aber wenigstens war ich noch wach.
»Wohin fahren Sie?«, fragte ich.
»Sind Sie Jace Munroe?«
»Ja?«
»Und Beth Lynn?« Er deutete auf Beth, die vor Müdigkeit umzufallen drohte.
»Ja …«
»Prima!« Er klatschte in die Hände. »Ich bin Ihr Kapitän. Ihre Großmutter kommt mit dem nächsten Boot nach. Sie meinte, sie müsse noch einmal aufs Örtchen, also habe ich grünes Licht bekommen, Sie beide abzusetzen, damit Sie essen können.«
»Essen«, schnaubte ich. »Prima, wie weit ist es denn?«
Der Kapitän warf mir einen zweideutigen Blick zu und antwortete dann: »Die Dinge sind nur so weit weg, wie Sie es zulassen. Jetzt nehmen Sie Platz und entspannen Sie sich. Hinten gibt es Rumpunsch. Bedienen Sie sich.«
»Alkohol.« Ich nickte. »Pluspunkt.«
»Genau, denn der hat in den letzten vierundzwanzig Stunden nicht die geringsten Probleme verursacht«, witzelte Beth schläfrig.
Ich antwortete nicht, sondern nahm zwei Pappbecher und ging zu der kleinen Minibar im Heck des Schiffes. Dort füllte ich beide Becher bis zum Rand mit dem pinkfarbenen Getränk, schnappte mir eine Tüte Salzchips, um sie mit Beth zu teilen, und ging damit zu ihr zurück.
»Iss.« Ich gab ihr die Chips.
»Essen!« Sie riss mir die Tüte aus der Hand und öffnete sie.
»Reagierst du auf jede Art von Nahrung so oder nur auf Junkfood wie Chips und Plätzchen?« Ich lachte.
Beth schloss die Augen, legte langsam einen Chip auf ihre Zunge, schloss dann den Mund und fing an zu kauen. Wer in aller Welt aß denn so seine Chips?
»Jede Nahrung«, antwortete sie, immer noch kauend. »Ich liebe Salz.«
Tja, das erklärte die bizarre Art, wie sie sich die Chips in den Mund legte. Sie nahm noch einen und tat es wieder. Ich fluchte und wandte den Blick ab. Wo, zum Henker, lag eigentlich mein Problem?
Ich hob den Rumpunsch an die Lippen und trank einen kleinen Schluck. Er war kalt und süß, aber nicht zu süß, schmeckte nach einem Hauch von Ingwer und – nach diesem Flug – generell himmlisch.
»Es ist schön.« Beth seufzte und trank von ihrem Punsch.
»Was denn?«
»Der Himmel. Die Hotels. Das Wasser.« Beth deutete auf den Küstenstreifen, während am Abendhimmel in allen Hotels am Waikiki Beach die Lichter angingen. »Ich war nur ein Mal hier. Ich schwor mir, dass ich nach dem Abschluss noch einmal herkommen würde, aber dann hatte ich einen Job, und du weißt ja, wie das läuft. Zehn Jahre später fragt man sich dann, wieso man nie Urlaub genommen hat.«
Ich schnaubte. »Ich weiß, wie das ist.«
»Auf jeden Fall« – Beth räusperte sich – »habe ich nachgedacht.«
»Damit kann man sich in Schwierigkeiten bringen.«
»Ich weiß.« Sie spielte mit dem halb leeren Becher und drehte ihn ein paar Mal in den Händen, bevor sie sich wieder zurücklehnte. »Ich weiß, die Situation ist nicht ideal. Ich weiß, du hast eine Menge zu tun. Aber ich denke, das ist das, was ich gebraucht habe: Urlaub. Um eine Weile wegzukommen. Tut mir nur leid, dass du da per Betäubungsmittel mit hineingezogen wurdest.«
Ich warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Schätzchen, daran bin ich schon selbst schuld. Ich habe schließlich Grandma gegenüber zugestimmt.« Schulterzuckend fuhr ich fort: »Ich sollte, ähm, deine Schwester anbaggern und dazu bringen, dass sie mich mag. Es war irgendeine Wette zwischen Grandma, Kacey und Travis. Sie wollten jemanden, der gut für Char ist, und Grandma wollte die Wette gewinnen. Offensichtlich hatte Grandma Erfolg. Jake und Char scheinen glücklich zu sein.«
»Dann bist du also immer noch ein weißer Ritter, der zur rechten Zeit herbeieilt, um den Tag zu retten.« Beth seufzte.
Ich wiederum geriet in Panik. »Was meinst du damit? Retter in der Not?«
»Ich weiß es noch.« Sie brach einen Chip in der Hand auseinander und steckte ihn in den Mund. »Abschlussjahr. Du warst mit deiner Cousine auf dem Ball.«
Meine Handflächen wurden wieder ganz feucht. Ich rieb sie an meiner Hose ab und wartete, was als Nächstes kam.
»Du bist herbeigeeilt und hast mit mir getanzt, als ich ganz allein dastand und schmollte.«
Ich lachte. »Glaub mir, wenn ich dir sage, dass das nichts mit Rettung in der Not zu tun hatte.«
Sie machte ein langes Gesicht. »Wie meinst du das?«
»Die Wahrheit?«
Sie nickte.
»Ich fand dich wirklich heiß.«
Der Klang von Beth’ Lachen in der frischen Abendluft hätte auch eine verdammte Explosion in meiner Brust sein können – ich wäre glücklich gewesen, die ganze Nacht ihrem Lachen zuzuhören.
»Danke.« Sie lächelte. »Das hat meinen Abend gerettet.«
»Das ist ja eine Schande.« Die Worte waren heraus, bevor ich sie aufhalten konnte. »Denn was Komplimente angeht, war das echt schwach. Ich hoffe, man hat dir gesagt, dass du mehr als heiß aussiehst. Ich hoffe, Männer gebrauchen die großen Wörter, wenn sie dich meinen. Du bist der Typ Frau für große Wörter.«
Beth’ Lächeln wurde angespannt. Sie zuckte mit den Schultern und wandte den Blick ab. »Char sagt, Jake macht ihr schöne Komplimente. Es ist süß.«
Stirnrunzelnd stellte ich den Becher ab. »Du wirkst so gar nicht überzeugt, dass es süß ist. Wenn überhaupt, bist du noch weiter in deinen Sitz zusammengesunken und hast die Schultern nach vorn geschoben. Magst du Jake nicht?« Ich persönlich hielt ihn ja für einen verwöhnten Mistkerl, aber er arbeitete an sich, und dafür respektierte ich ihn.
»Das ist es nicht.«
Beth schüttelte den Kopf und starrte auf den verdammten Becher in ihrer Hand. Gereizt nahm ich den Becher und zwang sie so, aufzusehen.
»Es klingt lächerlich, wenn ich es ausspreche.«
»Was denn?«
Beth verdrehte die Augen. »Ich kenne dich nicht einmal. Da werde ich jetzt nicht komplett emotional werden.«
»Lüge.« Ich grinste. »Ich habe mindestens drei Minuten lang mit dir getanzt und einige Stunden mit dir im Bett verbracht. Und wenn Oma Nadine irgendwas dabei zu sagen hat, nehmen wir gerade an irgendeinem hawaiianischen Hochzeitsritual teil, bei dem es bedeutet, dass man verheiratet ist, wenn man Rumpunsch miteinander teilt.«
»Guter Punkt.«
»Ich sage dir was. Das hier ist eine Freikarte. Außerdem befinden wir uns auf dem Ozean. Niemand kann uns hören, kein Handy klingelt, und es gibt keine Reporter. Nur du und ich. Wenn du den verdammten Mond anheulen willst, musst du es nur sagen. Ich habe den Ozean offiziell zur Schweiz erklärt.«
Ihre Lippen formten ein Lächeln. »Neutrales Gebiet? Hm, können Senatoren so etwas?«
Ich wartete kurz und schnippte dann mit den Fingern. »Gerade gemacht.«
Beth lachte.
Ich hielt den Atem an. Es war so wunderschön. Ich wollte es nicht verderben, indem ich irgendein Geräusch von mir gab.
»Also gut.« Sie kaute auf ihrer Unterlippe und legte den Kopf schief. »Ich denke, es ist Eifersucht.«
»Eifersucht?« Ich beugte mich vor, so dass sich unsere Knie berührten. »Wie das?«
»Travis war in Kacey verliebt, seit er ein Junge war. Char war immer in Jake verliebt. Sie haben alle ihre Vergangenheit, ihre eigene Geschichte und ein Ende wie in Cinderella, mit einer guten Fee in Form einer Lippenstift schwingenden Großmutter.«
Ich schmunzelte. »Und?«
»Und« – Beth beugte sich vor und seufzte – »ich habe die Wissenschaft.«
»Erzähl weiter.« Ich nickte aufmunternd.
Sie gab mir einen Klaps auf den Arm. »Ich meine es ernst!«
»Ich dachte, du magst deinen Job.«
»Tue ich auch! Es ist nur …« Sie spielte mit einer Haarsträhne. »Manchmal … wünsche ich mir die Geschichte von Cinderella für mich. Ich will das Happy End. Ich will einfach … mehr.«
»Mehr ist nicht immer besser, Beth. Vergiss das nicht. Von außen betrachtet scheint es immer einfach zu sein. Besonders, wenn man einsam ist. Hey, es ist leicht, anzunehmen, dass andere Menschen das perfekte Leben haben. Man erschafft sich eine Phantasievorstellung davon, wie viel Glück sie haben und wie perfekt sie sind. Aber die Wahrheit? Das Leben stinkt. Es ist verdammt schwierig. Die meisten Paare bluten, kämpfen und brennen, um zusammenzubleiben. Das ist es, was nötig ist. Es ist kein Märchen. Und ich glaube auch nicht, dass Mädchen das überhaupt wollen. Das sagen sie vielleicht. Du sagst vielleicht, du willst es einfach, aber glaub mir, wenn ich sage, du willst es schwierig. Du willst einen Mann, der kämpft. Du willst, dass er bereit ist, für dich in die Schlacht zu ziehen. Beneide nie, nicht eine Sekunde lang, andere, über die du nichts weißt. Stattdessen sei zufrieden damit, wo du im Leben bist, und vertraue darauf, dass es passieren wird, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Und wenn es passiert, wird es schwer werden, und du wirst dich fragen müssen, ob es das wert ist.«
»Denkst du das?«, fragte sie schwach. »Dass es das wert ist?«
Manchmal hasste ich meine eigene Ehrlichkeit. »Meistens.« Ich schluckte und wandte den Blick ab, denn ich fühlte mich schuldig wegen dem, was ich ihr nicht sagte. »Nein. Ich denke nicht, dass es das wert ist. Und selbst wenn doch, kann ich mit absoluter Sicherheit sagen, dass ich mich nicht damit aufhalten würde, es herauszufinden.«
»Puh«, meinte Beth, »brutal, aber ehrlich.«
»Wer sagt denn, dass ein Politiker nicht ehrlich sein kann?«, witzelte ich, obwohl mein Herz verräterisch pochte. »Ich hoffe, ich habe dich nicht enttäuscht. Aber ich denke eben nicht, dass ich so bin.« Lüge. Alles Lüge. Ich war so gewesen, irgendwann. Doch Menschen ändern sich. Dinge passieren.
»Wie denn?«
»Wie der Märchenprinz.« Ich stieß sie mit den Ellbogen an. »Mich direkt in die große Liebe zu stürzen, das scheint mir ein arges Risiko zu sein. Es ergibt keinen Sinn. Wieso soll man sich freiwillig in eine Situation begeben, in der die Chancen gering sind? Warum das Risiko eingehen, dass es kein ›glücklich bis ans Lebensende‹ gibt? Wieso nicht einfach das tun, worin man gut ist, und Erfolg haben? Bei mir ist es so, dass Erfolg mich glücklich macht. Ich brauche keinen anderen Menschen in meinem Leben, um zu wissen, dass ich ein guter Mensch bin. Und ich brauche keine Anerkennung vom anderen Geschlecht, um mich mehr als Mann zu fühlen.«
»Also« – Beth grinste – »bist du zufrieden damit, allein zu sterben?«
»Wenn ich nicht vorher einem Mordanschlag zum Opfer falle«, erwiderte ich neckend.
Das Schiff näherte sich einem Dock. Das ging aber schnell. Jemand kam zum Boot und half der Crew, es zu vertäuen. Eine Reihe Tiki-Hütten erleuchtete die Küste. Es sah nicht verlassen aus, aber auch nicht so, als gäbe es hier massenweise Touristen.
»Sie hat uns eine ganz schöne Strecke fahren lassen, nur zum Essen«, meinte Beth.
»Das liegt daran, dass Sie nicht nur zum Essen hier sind«, antwortete der Kapitän. »Ihr Gepäck kommt, zusammen mit Ihrer Großmutter, mit dem nächsten Boot. Es ist für alles gesorgt. Genießen Sie Ihren Aufenthalt.«
»Aufenthalt?«, wiederholten wir unisono.
»Sechs Tage.« Der Kapitän kratzte sich am Kopf und überprüfte sein Clipboard. »Jawohl, hier steht, Sie haben die ›Romeo und Julia‹-Flitterwochensuite. Und die Hochzeit ist, ach ja, am Samstag. Also, brauchen Sie sonst noch etwas?«
»Hochzeit!«, rief Jace aus.
»Ganz ruhig. Locker bleiben, Mann.« Der Kapitän lachte. »Den Streich spiele ich Touristen wirklich gern. Klappt jedes Mal. Also, keine Hochzeit. Aber die Suite haben Sie wirklich. Es war die einzige Hütte, die verfügbar war.«
»Hütte?«, fragte Beth gedehnt.
»Klar.« Der Kapitän lächelte. »Obwohl wir sie hier auf der Insel nur Fruchtbarkeitshütten nennen.«
»Heiliger Strohsack. Grandma will, dass du schwanger wirst.« Ich schmunzelte. »Wird nicht passieren.«
Ruckartig richtete Beth’ Blick sich auf mich, und ihre Augen wurden schmal.
»Nicht, weil ich nicht mit dir schlafen wollen würde. Ich meine, ich glaube, wir können beide sagen, dass es … phantastisch war.« Wenn ich mich doch nur daran erinnern könnte, wie phantastisch. Bitte darum, umgebracht zu werden.
»Da hinauf!« Der Kapitän hob Beth auf das Dock. »Einfach immer geradeaus, bis Sie die Hauptlobby erreichen.«
Als ich Beth folgte, hielt der Kapitän mich fest und flüsterte: »Keiki, keiki, keiki.«
Hatte er kinky oder keiki gesagt?
»Was in aller Welt machen Sie da?« Ich schob ihn weg.
»Ein Fluch.« Der Kapitän klopfte mir einige Male auf den Rücken und zupfte dann an meinem Ohr.
Ich schwöre, beinahe hätte ich ihm das Knie in die Kronjuwelen gerammt.
»Keiki, Sie haben keiki, und dann sind Sie glücklich bis in alle Ewigkeit. Sechs Tage.« Er lächelte. »Sechs Tage lang werden Sie verflucht sein, von ihrem Duft, ihrem Lachen, ihrem Gang, ihrem Lächeln. Wenn Sie am Ende der sechs Tage entscheiden zu gehen, ist der Fluch gebrochen, und Sie empfinden keinen Schmerz, wenn sie geht. Wenn Sie sie als ihre Gefährtin erwählen, werden Sie gesegnet sein.«
Mir blieb der Mund offen stehen. »Haben Sie etwas genommen?«
»Keiki.« Der Kapitän nickte und klopfte mir noch einmal auf den Rücken. »Viel Glück, mein Freund. Aloha.« Er hängte mir eine lange Halskette um und drückte mir einen Kuss auf die Wange.
Ich zuckte zurück, drauf und dran, ihn in den Ozean zu schubsen, als Beth meinen Namen rief. Ich drehte mich zu ihr um, und in diesem Moment frischte die Brise auf.
Und mir gefror das Herz in der Brust.
Ihre grünen Augen leuchteten im Mondlicht. Mein Körper reagierte, als sei sie mein Universum; es war, als würde alles andere um mich herum verblassen, und ich sah nur noch grün.
Grüne Augen.
Wundervolle Augen.
Noch eine Brise, und der Duft von Kokosnuss schwebte in der Luft. Ich konnte ihn auf meiner Zunge schmecken. Hölle, ich konnte sie schmecken. Verdammt, ich wollte sie. Und das so sehr, dass mein Körper Funktionsschwierigkeiten bekam.
Mist! Der Mann, die Glasperlen, der Fluch. Ich drehte mich um, um ihn anzuschreien, weil er mir diesen Voodoo-Mist angehängt hatte, aber das Boot war schon weg.
Als ich mich wieder umdrehte, lächelte Beth.
Und ich wusste es.
Sie würde mich an sich fesseln.
Ich würde ihr zu Füßen sinken.
Und am Ende würde ich gehen.
Denn sie verdiente etwas Besseres, und ich glaubte nicht an zweite Chancen, auch dann nicht, wenn es um die eine ging, die ich nie bekommen hatte.