Kapitel 20

»Damit ich das richtig verstehe: Sie braten das Fleisch an beiden Seiten scharf an und geben dann den Wein dazu?

»Ja.« Oma Nadine nickte. »Das ergibt diese perfekte rosige Mitte.«

»Interessant.«

Jemand klopfte ans Fenster.

Der FBI-Agent richtete sich in seinem Sessel auf und räusperte sich. »Also, wo waren wir?«

»Irgendwo zwischen Drogen, Tanzen und Justin Timberlake.«

»Das hier sollte es auf YouTube geben.«

»Oh, ich liebe das Tube! Und das Facebook! Und das Tweets!«

»Wieso sagen sie immer das davor?«

»Aus Respekt.« Oma Nadine zog die Augenbrauen fast bis zum Haaransatz hoch. »Der Präsident wird auch nicht nur Präsident genannt.«

Der Beamte stutzte. »Dazu fällt mir nichts ein.«

Beth

In Ordnung, dann lass mal sehen«, rief ich über die hämmernde Musik hinweg. Ich war dreißig Jahre alt, von einer senilen alten Dame unter Drogen gesetzt worden, und ich befand mich in einer Disco. Und, ach ja richtig, mir war unterstellt worden, ich sei eine Prostituierte. Cool, ich durchlebte gerade offiziell meine eigene Midlifecrisis. Wenigstens hatte ich Thor. Andererseits konnte das alles auch nur ein Produkt meiner Einbildung sein. Vielleicht war ich ja an einen gigantischen Computer gefesselt, so wie in Matrix, und dachte mir nur meine eigene Traumwelt aus.

O ja, ich hatte beim Abendessen eindeutig nicht genug getrunken.

Ich kaute auf meiner Unterlippe und ließ mich einen kurzen Augenblick vom Schmerz ablenken, während mein Herz aufhörte zu hämmern. Zum letzten Mal hatte ich beim Abschlussball getanzt. Kein Witz. Ich tanzte nicht. Nicht einmal auf der Hochzeit meiner Schwester hatte ich getanzt. Ich hatte Wein getrunken, meinen Kindle unter dem Tisch versteckt und gelesen, wenn niemand hinsah. Was bedeutete – neueste Meldung: Niemand hatte hingesehen, bis Jace meinen Weg gekreuzt hatte.

Er war geschlendert. Schon klar, was ich meine, oder? Dieses Schlendern, auch bekannt als die sinnliche Gangart eines Mannes, der weiß, dass er mit jeder menschlichen Gabe gesegnet ist, die der Menschheit bekannt ist. Gutes Aussehen, gute Zähne, toller Körper. Gütiger Thor, er war sexy gewesen.

In dieser Nacht hatte ich meinen besten Freund fallen lassen.

Meinen Kindle. Ich hatte ihn versehentlich zu Boden fallen lassen und mit offenem Mund gestarrt, als Jace die Hand ausgestreckt und gefragt hatte, ob ich mit ihm tanzen wolle. Ich hatte nein gesagt. Nun ja, genau genommen hatte ich nur den Kopf geschüttelt und geseufzt, weil ich mich an ihn erinnerte, und es war einfach wie im Märchen gewesen. Der Prinz meiner Träume streckt mir die Hand hin und sucht aus der ganzen Menge mich aus. Ja, ich hatte es genossen. Und statt zu tanzen, hatten wir uns ein paar Drinks gegönnt, geliefert von Oma Nadines Drogenexpress.

»Komm mit.« Jace fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und zog mich enger an sich, als wir uns in die Menge fröhlicher Paare mischten.

Ihm so nahe zu sein war nicht Ablenkung genug, um zu vergessen, dass ich in fünf Tagen dem einzigen Mann, in den ich mich je wirklich verliebt hatte, lebe wohl sagen würde.

Bescheuerter Thor.

Bescheuertes blondes Haar.

Sixpack! Verflucht seist du! Im Geiste drohte ich mit der Faust.

»Komm mit.« Jace nahm meine Hand und steuerte uns durch die Massen an Leuten, die sich bewegten, als hätten sie Sex auf der Tanzfläche.

Ich war keine Tänzerin. Denn Tanzen war nur eine weitere Gelegenheit für andere, sich über mich lustig zu machen.

Burn von Elle Goulding ertönte.

Mein Herz hämmerte, als Jace lachte und mich an seine Brust zog; die Lichter wurden dunkler, als er mich herumwirbelte und dann mein Bein um seine Taille legte.

Oh. Du meine Güte.

Es war die Techno- oder Discoversion des Liedes, also schneller als das Lied, das ich aus dem Radio kannte.

Jace ließ mich los und fing an, um mich herumzutanzen.

Und ich befand mich eindeutig in einem Dilemma. Entweder ich versuchte, mit ihm zu tanzen, oder ich starrte ihn nur an, während sein Körper sich perfekt im Einklang zur Musik bewegte. Darüber würde ich später noch ein Wörtchen mit Gott reden müssen. Ich meine, wie kann es denn überhaupt sein, dass ein Typ, der so gut aussieht, alles haben soll?

Das Lied wurde langsamer.

Jace zog mich wieder an sich.

Ich schlang ihm die Arme um den Nacken, und seine Hände glitten an meine Hüften, um mir zu helfen, mich im selben Rhythmus wie er zu bewegen. Ich schloss die Augen und gab auf.

Ich gab es auf, traurig zu sein.

Ich gab es auf, mich beschämt zu fühlen.

Und ich tanzte.

Bis ein Lied von Jay-Z kam, und ich war wieder komplett verloren, denn ich bekam den Rhythmus nicht hin.

Schließlich wollte ich mich von Jace lösen, aber er drückte mich wieder an sich und flüsterte: »Mein Baby gehört zu mir. Ist das klar?«

Ich spürte mein breites Grinsen, als er mich herumwirbelte. Jawohl, er wirbelte mich zu einem Rapsong herum, und dann spürte ich seine Hände an meiner Haut, als er von hinten die Arme um mich schlang und seine Bauchmuskeln sich an meinen Rücken drückten. Jede Bewegung erzeugte genug Reibung zwischen uns, um die ganze Disco niederzubrennen.

Viel zu schnell war das Lied zu Ende.

Atemlos trat ich einen Schritt von Jace zurück. »Das war … nett.«

»Nett?« Seine Nasenflügel weiteten sich, als er mir die Hände auf die Schultern legte und mit der Zunge über meine Unterlippe fuhr. Er schmeckte nach Schweiß und reiner Männlichkeit. War es das, was bei mir den Schalter umlegte? Ein wenig lecken, und ich war bereit, die Beine um ihn zu wickeln und aus Leibeskräften »Thor« zu brüllen?

»Das war …« Mir fehlten die Worte. Worte – was war das noch mal? Oder Sätze? Nomen? Verben? Mein Name?

Er gab mir einen Klaps auf den Po, so fest, dass es brannte, und dann sagte er: »Dir zeige ich ›nett‹.«

Zwei Stunden später.

Und dann war ich ganz offiziell auch so eine. Eine, die barfuß zurück zu ihrem Zimmer ging und dabei wegen Wassermangels und zu vieler Drinks schwankte.

Jace war Gruppendruck in Person. »Nur noch einen Drink. Noch einen Tanz.« Aber die ganze Zeit lächelte er und war dabei so verflixt sexy, dass ich nur lächelnd nicken konnte.

Wenn dieser Mann sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann gab er nicht so leicht auf. Meine Nacht bestand daraus, dass er mir gezeigt hatte, wie nett er sein konnte. Angefangen damit, dass er mich gegen eine Wand drückte und sich tanzend an mir entlang nach oben bewegte, um einen Drink aus meinem Bauchnabel zu lecken – etwas, das ich mit ins Grab nehme, denn es war sowohl das peinlichste als auch das erotischste Erlebnis meiner Existenz –, bis hin zu Knutschen neben den Toiletten. Offenbar hatten wir ein Faible für Toilettenspülungen; es war die Musik unserer Liebe, oder irgendwas in der Art.

Ich schwankte, und mir war leicht übel. Aber nicht langweilig. Definitiv nicht langweilig. Auch wenn ich wirklich eine Dusche und noch mehr nette Berührungen von Jace vertragen konnte.

Am nächsten Morgen würde ich meine Entscheidungen höchstwahrscheinlich bedauern.

»Ich weiß, wieso Grandma beziehungsweise unsere Therapeutin, die erschreckende Ähnlichkeit mit Grandma hat, uns diese Übung machen ließ«, flüsterte Jace, nachdem wir beide geduscht hatten und im Bett lagen.

Ich drehte mich zur Seite, um ihn anzusehen. »Wieso?«

»Weil« – er streichelte meine Wange – »ich mir deinen Körper eingeprägt habe. Ich habe ihn in Gedanken gefühlt, in meinen Händen gespürt, und als wir tanzten … war es, als wärst du ein Teil, eine Erweiterung von mir. So als wären wir nicht zwei getrennte Personen, sondern eine.«

»Wie eine Verbindung!«, schrie ich schon fast.

Jace brach in Lachen aus, schlang die Arme um mich und zog mich an seinen warmen Körper. »Ja, mein kleiner Wissenschaftsnerd, wie eine Verbindung.«

»Eine kovalente Bindung.« Ich seufzte glücklich.

»Gratulation, Beth, du bist nicht mehr ungeladen.«

»Woher weißt du das?«

»Hätte eine Glühbirne uns beide berührt, wäre sie explodiert.«

»Ich glaube, Mr. Senator, du hast mich gerade heiß genannt?«

»Verdammt richtig«, knurrte er und küsste mich auf den Mund. »Und nur damit du es weißt, im Bett Mr. Senator genannt werden … ist noch heißer.«

»Ah, dann bist du also wirklich machthungrig.«

»Nein« – seine Augen verdunkelten sich – »nur hungrig. So. Verdammt. Hungrig.«

Sprach er jetzt von mir oder von Nahrung?

Er zupfte an dem Träger meines Tops von Victoria’s Secret und fluchte. »Vielleicht unter anderen Umständen … wenn ich dich nicht zurückgelassen hätte.«

»Wie meinst du das?«

Langsam löste er sich von mir und rieb sich über die Schläfen. »Wenn wir uns wieder begegnet wären, nach der Schule, bevor mein Herz zerschmettert und zertrampelt wurde. Vielleicht, wenn wir uns davor begegnet wären … dann hätte ich ein heiles Herz. Eines, das ich dir geben könnte. Aber ich kann nicht.«

Meine Unterlippe zitterte. Seine Aufrichtigkeit war noch mein Untergang. Schon komisch, denn in seiner Branche sollte man meinen, es wären seine Lügen.

»Und deshalb«, seufzte er und drehte sich weg, »werde ich jetzt schlafen. Ich werde meine Hände bei mir behalten und dich auch schlafen lassen.«

»Was, wenn ich nicht den Gentleman will?«, fragte ich. Meine Stimme war ein hoffnungsvolles Flüstern, das vor Emotionen erstarb.

»Doch, den willst du, Beth.« Er seufzte schwer. »Was ist gut an dem Märchen, wenn das Mädchen am Ende so verletzt ist, dass es nicht einmal die verdammte Geschichte beenden kann?«

Ich wagte trotzdem den Sprung ins Ungewisse.

Und schob mich rittlings über ihn. Sein Aufstöhnen war alle Ermunterung, die ich brauchte, als ich ihm das Shirt über den Kopf zog und zu Boden warf.

»Beth, wir sollten nicht …«

»Schsch …« Ich hauchte ihm einen Kuss auf das Kinn, und sein Griff an meinen Hüften wurde stärker. Ich dachte, er würde mich nun an sich drücken; doch stattdessen hob er mich sanft hoch und setzte mich neben sich ab.

Mit heiserer Stimme flüsterte er: »Ich will es, Beth, wirklich, aber ich kann nicht. Du hast einiges getrunken, und das ist einfach … das ist nicht das Märchen, das du willst, Liebes.«

»Aber ich will dich.« Ich streckte die Hände wieder nach ihm aus.

Er zog mich an sich und küsste mich auf die Schläfe. »Schlaf jetzt.«

So lagen wir im Bett.

Beide eingehüllt in frostiges Schweigen. Mit Dingen, die ungesagt blieben. Während ich ihn wollte und er mich, aber wieder einmal mit dem Eingeständnis, dass ich zwar gut war, aber nicht gut genug für ihn. Oder vielleicht war es bei Jace anders. Er mochte mich. Er könnte mir sein Herz geben, aber wie es schien, hatte er es bereits vor langer Zeit leichtfertig verschenkt. Und ich wusste, wie es mit einem Herzen war, wenn es erst einmal jemand anderen beansprucht hatte.

Fast unmöglich zu vergessen.

Mir tat das Herz weh bei dem Wissen, dass es absolut möglich war, dass Jace mit jedem Tag, den ich mit ihm verbrachte, unwissentlich ein Stück meines Herzens eroberte. Und ich gab es ihm bereitwillig. Und hoffte, dass mich das am Ende nicht vernichten würde.