Kapitel 32

»Enttäuschend, dass der Senator so wenig Charakter zeigt.«

»Er ist ja nur ein Junge.« Oma Nadine tupfte sich mit einem Tuch die Augen ab. »Er will die ganze Welt als sein Revier markieren, aber dabei vergisst er eine Sache: Am Ende, wenn man ein leeres Zuhause hat, was hat man dann anderes vorzuweisen als den beruflichen Erfolg? Was ist mit dem Leben, das man gelebt hat? Erfolg verblasst. Aber Familie? Die ist für immer.«

Beth

Mir taten die Mädchen, die man auf den Flughäfen sah, immer leid. Die mit den tränenüberströmten Wangen, die sich von Freunden, Familie oder gar Lebenspartnern verabschiedeten, wenn sie die gute alte Flagge umhängten und ins Ausland flogen.

Meine Augen waren geschwollen, meine Taschen gepackt, als würde ich außer Landes fliehen, und natürlich hatte ich in meinem Zustand der Verzweiflung nicht einmal registriert, dass ich nur Joggingsachen trug und keinerlei Make-up.

Die Unterhaltung, die ich mitgehört hatte? Nicht mein Favorit. In all meiner Unbesonnenheit hatte ich beschlossen, mit Oma Nadine zu reden. Ich weiß, ich weiß. Sie klang nicht gerade nach der Stimme der Vernunft, aber ich wollte ihr für die Reise danken. Sie hatte mühelos aus mir herausbekommen, warum ich so aufgebracht war, und gesagt, sie würde das in Ordnung bringen. Sie hatte meine Hand genommen und war mit mir zur Hütte gegangen. Jace zu finden war nicht schwer gewesen; immer dem Geschrei nach. Oma Nadine hatte mir gesagt, ich solle draußen warten.

Ich wünschte, ich wäre in das verdammte Taxi gestiegen. Denn nachdem ich Jace’ Stimme gehört hatte, die Worte aus seinem Mund, kannte ich die Wahrheit. Im Zweifelsfall würde er immer sich selbst wählen. Er würde mich gehen lassen, und auch wenn er deswegen traurig war, für ihn war sein Job seine Geliebte, seine Ehefrau, sein Ein und Alles. Selbst wenn er in dem ganzen Szenario vollkommen frei von Schuld wäre, konnte er noch immer nicht eingestehen, was er empfand.

Ich hielt das für eine Schwäche, wenn man nicht in der Lage war, seine tiefsten Gefühle mit jemandem zu teilen. Unentschuldbar, besonders, wenn diese Person einem die Ehre erweist, genau das zu tun, in der Hoffnung, dass man dasselbe tut.

Ich wischte mir noch eine Träne ab und ging zur Sicherheitsschleuse.

»Beth?«

Bitte lass mich tot umfallen.

»Beth?«

Im Ernst, lieber Gott, schick einen Blitz, ich will auf der Stelle in Flammen aufgehen.

»Wo ist Jace?« Eine Hand packte mich am Arm. Einen Augenblick lang ging mir eine Vision durch den Kopf, wie ich mich umdrehte, Brett an seinem Gemächte packte und zudrückte, bis ich entweder etwas platzen oder reißen hörte.

»Nicht hier«, sagte ich trocken.

Brett grinste lüstern. »Paris schläft gerade.«

»Worauf willst du hinaus?« Was? Wollte er einen Keks, weil er seine Frau rechtzeitig ins Bett gebracht hatte? Tja, tut mir leid. Und, seien wir mal ehrlich, selbst wenn ich Kekse hätte, würde ich sie nicht teilen. Ich war gerade so gar nicht in der Stimmung, irgendetwas zu teilen. Es sei denn, der Keks enthielte Arsen. Dann würde ich ihn dem Kerl in den Rachen stopfen und dabei die ganze Zeit grinsen.

»Na ja …« Brett nahm mein Gesicht zwischen seine Hände.

Ich wollte mich losreißen, aber er hielt mich am Kinn fest.

»Du bist hier, ich bin hier. Dein Senator ist nicht da, und es sieht so aus, als hätte ich etwas Freizeit. Du wolltest mich damals in der Highschool, und ich bin wie guter Wein. Mit der Zeit schmecke ich besser … Wir könnten ein paar Stunden gemeinsam totschlagen. Was sagst du dazu?«

»Mich kannst du dir nicht leisten.« Ich sah ihn finster an.

»Wetten, doch?«

»Das war ein Witz.« Endlich riss ich mich los. »Ich bin keine Prostituierte, du Bastard! Und, tut mir leid, aber fremdgehende Ehemänner machen mich einfach nicht an.«

»Aber fremdgehende Senatoren schon?«

»Wie bitte?«

»Na komm schon.« Er lachte. »Glaubst du wirklich, du bist gut genug, um einen Kerl wie Jace Munroe zu faszinieren? Der wird dich nach nicht einmal einem Jahr Ehe betrügen.«

Oma Nadine würde die Kaution bezahlen müssen, um mich aus dem Knast zu holen.

Ich wirbelte herum, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen, doch da packte jemand meine Hand, drückte mich an seine Brust und drehte mich herum. Warme Lippen trafen auf meinen Mund. Er schmeckte nach Rum. Jace.

Was? Hier?

Jace löste sich von mir und drehte sich um. »Du verdorbener Bastard. Ich sollte dich umbringen.«

Und dann hörte ich ein Aufjaulen.

Jace ließ mich los, und im selben Moment landete Jake einen Treffer in Bretts Gesicht, der ihn zu Boden schickte.

»Danke.« Jace streckte Jake die Hand hin. »Guter Schlag.«

»Nun ja« – Jake zuckte mit den Schultern – »ist nicht meine erste Schlägerei am Flughafen.«

»Titusmänner eben«, bemerkte eine Frau.

»Char?«

Meine Schwester winkte und schenkte mir ein trauriges Lächeln, aus dem mir das Schuldbewusstsein förmlich entgegenschrie.

»Wo willst du hin?«, fragte Jace ruhig. »Ich will dir einen Grund geben, zu bleiben. Ich brauche dich hier bei mir.« Er nahm mein Gesicht zwischen beide Hände. »Bleib hier bei mir.«

»Das ist ein guter Grund.« Ich nickte, und mir stiegen Tränen in die Augen.

»Hör zu.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich muss dir etwas sagen, etwas erklären. Ich bin nicht ganz sicher, ob ich es selbst verstehe, aber ich denke, es wird helfen. Totale Aufrichtigkeit, komplette Offenbarung von meiner Seite. Geh nicht.«

»Jace, ich kann nicht …«

»Wer ist jetzt das Risiko nicht wert?«

Vielleicht hatte er recht. Vielleicht rannte ich am Ende nur davon, weil ich Angst hatte.

Und dann passierte alles sehr schnell. Die Fotografen, die Blitzlichter, die Kameras. Ich blinzelte, und wir waren umzingelt. Ich sah furchtbar aus, und Jace war so fassungslos, dass er dreimal den Mund auf- und wieder zumachte, bevor er etwas herausbrachte.

»Mr. Senator? Ist das die Frau, die Sie vor uns versteckt haben?«

»Mr. Senator, ist sie eine Prostituierte? Oder wirklich eine Freundin der Familie?«

»Mr. Senator, war das nun eine geplante heimliche Hochzeit, oder ziehen Sie hier nur einen Werbegag durch, um Ihre Umfragewerte zu verbessern?«

Eine Frage nach der anderen prasselte auf ihn ein.

Ich wartete darauf, dass er mich verteidigte, dass er ihnen genau erklärte, was mit Oma Nadine alles passiert war – nicht dass man ihm glauben würde.

Stattdessen sah er mir direkt in die Augen und sagte mit trauriger Stimme: »Sie ist eine alte Freundin der Familie. Keine Hochzeit, keine Prostituierten, nur der glückliche Zufall, sich auf derselben Urlaubsreise zu befinden. Nicht wahr, Beth?«

Sein Blick flehte mich an, während meine Tränen alles um mich herum verschwimmen ließen, so dass ich nichts mehr erkennen konnte. Ich nickte kläglich und wandte mich ab. Und ich wusste, diesmal würde er mir nicht nachkommen, und ich würde mich nicht umdrehen.

Zum dritten Mal an einem Tag hatte er die Gelegenheit bekommen, sich zu entscheiden.

Und zum dritten Mal hatte er sich nicht für mich entschieden.