»Haben Sie die Reporter geschickt?« Der Beamte fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und seufzte.
»Das ist möglich.«
»Also ja.«
Oma Nadine zupfte an ihrem Pulli. »Ich bin schon älter, mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war.«
»Und wie genau sollte es der Beziehung helfen, den Senator an die Presse zu verraten? Wenn überhaupt, hat es doch alles schlimmer gemacht.«
»Aber nein.« Oma Nadine schmunzelte. »Denn der Senator ist offensichtlich immer noch verschwunden, und sie auch.«
Beth’ Gesichtsausdruck war wie ein Schlag in den Magen für mich. Ich hatte ihr eben ins Gesicht gesagt, zum dritten Mal an diesem Tag, dass sie nicht gut genug sei. Aber ich hatte es getan, um sie zu schützen – um ihr Zeit zu geben, zu entscheiden, was sie für mich empfand. Stattdessen war sie gegangen. Nicht ich. Sie.
Wahrscheinlich war gerade jedes Gefühl der Unsicherheit, das sie in Bezug auf sich selbst hegte, an die Oberfläche durchgebrochen, und das war alles meine Schuld. Alles, weil ich ein egoistischer, leichtfertiger Bastard war. Jeder Instinkt sagte mir, ich solle ihr nachlaufen, aber was würde das bewirken? Wahrscheinlich würde sie mich ohrfeigen und damit in den Sechs-Uhr-Nachrichten landen. Also blieb ich auf dem Teppich und machte meinen verdammten Job – ich lächelte für die Kameras und glättete die Wogen. Noch nie in meinem Leben hatte ich so hart daran arbeiten müssen, so zu tun, als würde nicht gerade die Welt um mich herum zusammenbrechen.
»Senator.« Ein weiterer Reporter hielt mir ein Mikrophon unter die Nase. »Channel Five, können Sie uns sagen, warum Sie sich auf Hawaii befinden?«
Ein Blitzlicht blendete mich …
Ich hörte wieder quietschende Reifen, und dann überall Glassplitter. Eine Taschenlampe leuchtete mir in die Augen. »Junge, bist du in Ordnung?«
Ich zwang mich zu einem angespannten Lächeln. »Dringend nötiger Urlaub.«
»Aber unsere Quellen berichten, dass …«
»Entschuldigen Sie mich.« Ich arbeitete mich weg von der Menge zu Jake und Char.
Sie waren als Verstärkung mitgekommen, um Beth zum Bleiben zu überreden.
Die Reporter folgten mir.
Char öffnete den Mund, doch Jake hielt die Hand hoch. »Nicht hier.«
Wir gingen nach draußen und stiegen in ein Taxi.
Ich war angespannt wie nie zuvor.
»Wieso?«, flüsterte Char.
»Was hätte er denn deiner Ansicht nach tun sollen, Char?«, kam Jake mir zu Hilfe. »Sie im Fernsehen preisgeben? Sagen, dass sie zusammen sind? Ihr das letzte bisschen Privatsphäre nehmen, das sie vielleicht hatte? So wie ich das sehe, hat er es ihr leichter gemacht, abzuhauen.«
»Sie haut nicht ab!«, konterte Char. »Sie ist verletzt!«
»Das bin ich auch!«, rief ich laut – und begriff erst danach, dass ich mich verraten hatte.
Char nahm meine Hand, aber ich konnte es nicht fühlen. Ich fühlte gar nichts.
Ich hatte mir eingeredet, dass ich keine Gefühle entwickeln würde, und nun sieh mal einer an, wohin mich das gebracht hatte. In genau die Zwickmühle, die ich vermeiden wollte. Ich hatte kein gebrochenes Herz. Ich war viel zu wütend auf mich selbst und die Situation, um irgendetwas Erwähnenswertes zu fühlen.
Der Zorn verschwand nicht, sondern wurde eher noch stärker, als wir zum Hotel kamen und meine Eltern in der Lobby warteten, mit Oma Nadine im Schlepptau.
Ich machte mich auf jede Menge Geschrei und Verwirrung gefasst. Was ich nicht erwartet hatte, war, dass mein Vater mich fest umarmte und mir auf die Schulter klopfte, als sei er irgendwie immer noch stolz auf den Mistkerl, zu dem sein Sohn geworden war.
Meine Mutter lächelte traurig und drückte mir die Hand.
»Lass uns ein wenig plaudern.« Dad ging mit mir zu einem der Restaurants.
Ich bestellte schwarzen Kaffee und starrte stumpfsinnig in die Tasse, während er für uns beide Frühstück bestellte.
»Vor einem Monat« – er goss ein wenig Milch in seinen Kaffee – »hatte ich eine nette Unterhaltung mit Travis.«
Das war nun so gar nicht das, was ich erwartet hatte. In meinem Kopf schrillten die Alarmglocken.
»Er machte sich Sorgen um dich. Er meinte, du würdest zu viel trinken und wärst leichtsinnig. Ich nahm sofort an, es sei die Geschichte mit Kerry, die dich wieder verfolgte. Doch dann sagte Travis etwas Interessantes.«
»Da bin ich mir sicher.« Taub. Ich fühlte mich so verdammt taub.
»Er sagte, du hättest ihm in betrunkenem Zustand von dem besten Abend deines Lebens erzählt.«
Tja nun, zur Hölle.
»Und stell dir meine Überraschung vor, als es nicht der Abend deines Wahlerfolgs war, sondern der, an dem du deine Cousine zum Abschlussball begleitet hast.«
Ich rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl herum.
»Ein Mädchen mit grünen Augen und dunklem Haar hatte deine Aufmerksamkeit geweckt, und aus irgendeinem Grund – vielleicht war es der Kuss oder weil sie so perfekt in deine Arme passte – hast du dich verliebt.«
Ich wollte aufstehen.
»Setz dich.«
Ich setzte mich wieder.
»Komisch« – mein Vater nickte – »denn ich habe die Geschichte etwas anders in Erinnerung.«
Ich sah hinaus auf die Wellen, die ans Ufer schlugen, und wartete.
»Deine Mutter und ich zwangen dich, deine Cousine zu ihrem Abschlussball zu begleiten. Du hast dich widersetzt, bis ich ein Machtwort sprach. Schließlich hatte sie niemanden, der sie dorthin ausführte. Ein paar Stunden später kamst du zurück nach Hause und warst derart im Rausch, dass ich dachte, es musste etwas passiert sein.«
Blinzelnd sah ich ihm in die Augen. »Ich bin nie zurück nach Hause gekommen, Dad.«
Er seufzte. »Doch. Die Therapeuten meinten, es könnte dir emotionalen Schaden zufügen, dir das zu erzählen, woran du dich nicht mehr erinnerst, also hielten wir den Mund. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass es so wichtig sein könnte.«
»Ich verstehe nicht.« Ich kratzte mich am Hinterkopf und spürte dabei die Operationsnarbe.
»Von allen Dingen, die man vergessen kann, hast du den Unfall vergessen und das, was dazu führte. Aber du hast dich an den verdammten Kuss mit diesem Mädchen erinnert, und das hat dich zugrunde gerichtet.«
»Und warum erzählst du mir das alles jetzt?«
»Weil es helfen wird. Ich hoffe bei Gott, dass es hilft, denn ich bin mit meiner Weisheit am Ende.« Er lächelte liebevoll. »Du kamst ins Haus gerannt und riefst: ›Dad, ich bin dem Mädchen begegnet, das ich heiraten werde.‹«
Und ganz plötzlich war ich wieder im Wohnzimmer meiner Eltern.
Die Erinnerung traf mich volle Breitseite. Ich wollte sie zurück in mein Gedächtnis verbannen, und versuchte, den Schmerz zu ignorieren, der mich zerriss …
»Dad!« Ich rannte ins Haus. »Ich brauche das Handy, und ich nehme den Wagen.«
»Du bist schon zurück?« Er richtete seine Krawatte. »Du hast es aber sehr eilig, Sohn.«
»Ich bin ihr begegnet«, sagte ich und grinste wie ein Trottel. »Du und Mom hattet recht. Es ist passiert, genau so, wie ihr gesagt habt. Es war wie … es war Magie!«
»Was denn?«
»Der Kuss!«
»Du hast deine Cousine geküsst? Mein Sohn, setz dich …«
»Nein!«, rief ich. »Ich habe Beth geküsst. Sie geht auf die Macy, und sie war mit irgendeinem anderen Typen da und … ich muss sie rechtzeitig erwischen!«
»Und was hast du vor, wenn du sie erwischt hast?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, gestand ich. »Aber es hat etwas mit Küssen zu tun.«
»Nur die Ruhe, Sohn.« Dad lachte. »Und sei vorsichtig.«
»Mache ich!«, versprach ich, rannte zur Tür hinaus und rief dabei: »Dad, ich bin dem Mädchen begegnet, das ich heiraten werde!«
Ich fuhr zu schnell, und es war mir egal, dass ich so viele Gesetze brach, dass man mir den Führerschein wegnehmen würde. Ich beschleunigte und ignorierte eine gelbe Ampel. Und dann hörte ich das Kreischen von Metall auf Metall.
Meine Welt wurde vollkommen schwarz.
Drei Monate später erwachte ich aus dem Koma. Und das erste Wort, das über meine Lippen kam, war: »Beth.«
Aber sie war nicht mehr da gewesen. Sie hatte sich nicht genug aus mir gemacht, um zu fragen, wie es mir ging. Verdammt, wahrscheinlich hatte sie nicht einmal gewusst, wer ich war oder dass ich derjenige war, den sie geküsst hatte. Derjenige, der beinahe draufgegangen wäre, um sie wiederzusehen.
Ich hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Die ganze Zeit über hatte ich gedacht, ich hätte sie stehen lassen, aber ich war zurückgefahren, weil diese paar Minuten genug gewesen waren, um mich an etwas glauben zu lassen, das ich immer für unrealistisch gehalten hatte.
Dad legte seine Hand auf meine. »Liebe auf den ersten Blick.«
»Gibt es nicht«, widersprach ich unwirsch und zog meine Hand zurück.
»Diese Erfahrung hat dich verändert.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Du hast alles in die nächsten zwei Jahre Highschool investiert und dann vorzeitig deinen Abschluss am College gemacht. Du hast nur noch für deinen Job gelebt.«
»Weil mein Job mich nie im Stich lassen wird. Er ist beständig. Ein einziges Mal im Leben bin ich ein Risiko eingegangen, und es hätte mich beinahe umgebracht.«
»So viel Angst vor ein wenig Koma, mein Sohn?«
»Mein Gehirn war drei Monate lang geschwollen, Dad. Ich hätte für den Rest meines Lebens ein Pflegefall sein können, und das alles, weil ich leichtsinnig war.«
»Mit einem Auto, ja. Aber nicht mit deinem Herzen.«
»Sind wir fertig?«
»Enttäusche mich nicht.« Ich erstarrte.
»Wieso in aller Welt enttäuscht es dich, wenn ich Beth vergesse?«
»Weil ich dich kenne, mein Sohn. Du trägst dein Herz auf der Zunge. Du willst für sie den Sprung wagen, aber du bist zu sehr Feigling, um es zu tun. Sag ihr die Wahrheit. Erzähl ihr, was passiert ist.«
»Und wenn sie mich dann zurückweist, so wie ich es verdient habe?«
»Sieh es mal so.« Mein Dad trank einen Schluck Kaffee. »Was wäre gewesen, wenn das Auto beim Abschlussball angekommen wäre. Was, wenn du in diese Turnhalle marschiert wärst und Beth gesehen hättest, die dir mit ihren hübschen grünen Augen entgegengeschaut hätte.«
»Ich hätte sie geküsst«, sagte ich heiser, »und mich wahrscheinlich zum Narren gemacht.«
»Du hättest ihr gesagt, dass du sie eines Tages heiraten würdest.«
Ich antwortete nicht. Ich konnte nicht. Mein Herz war so schwer, dass ich kaum atmen konnte. Ich keuchte, hustete und trat ein paar Schritte von meinem Vater weg, bevor ich stehen blieb und mich umdrehte.
»Warst du mit von der Partie?«
»Bei der ganzen Geschichte hier?« Dad legte sich die Serviette auf den Schoß. »Tja, Sohn, es war meine Idee.«
Er sagte das so seelenruhig, dass ich dachte, er machte Witze.
Er trank noch einen Schluck Kaffee und lächelte.
Ach du Schande.
»Grandma?«
»Bot mir ihre Sachkenntnis an. Was glaubst du, wie ich sonst die Medien vor dem Hotel hätte plazieren können? Grandma kann nicht an zwei Orten zugleich sein. Sie hat euch beiden etwas ins Getränk gegeben, dafür gesorgt, dass ihr sicher im Hotel ankommt, und ich habe mich um die restlichen Details gekümmert. Bis hin zu den Medienleuten, die ich zum Flughafen geschickt habe.«
»Aber …«
»Grandma war die ganze Zeit über bei euch« – Dad lachte – »und hat mich über SMS auf dem Laufenden gehalten.«
»Aber das Hotel, in dem wir wohnen? Sie ist dort Therapeutin.«
Dad sah mich an, als sei ich blöde. Ich hasste es, wenn jemand mich so ansah. »Titus Enterprises besitzt mehrere Hotelketten. Du wohnst gerade in einer. Was glaubst du, wie hätte Grandma sich sonst so effektiv unters Personal mischen können?«
»Ich glaube, mir wird schlecht.«
»Gut.« Dad zog die Augenbrauen hoch. »Wenigstens fühlst du endlich etwas.«
»Aber …«
»Sohn … wenn du am Ende deines Lebens ankommst, fängst du an, über den Beginn nachzudenken. Getroffene Entscheidungen, Dinge, die man hätte sagen sollen, Menschen, denen man hätte verzeihen sollen. Ich will das nicht für dich. Ich sah dich einen Pfad einschlagen, von dem ich wusste, dass er mit einem gebrochenen Herzen enden würde. Kurz nachdem du mit Travis über zweite Chancen gesprochen hattest, waren er und ich Golf spielen. Das war der Zeitpunkt, an dem ich zwei und zwei zusammenzählte. Und als ich dich bei der Hochzeit sah, wusste ich …«
»Du meinst, als du uns auf der Hochzeit unter Drogen gesetzt hast.«
»Meine Idee bestand darin, dich vor laufender Kamera in einer kompromittierenden Situation zu erwischen. Nicht darin, dich unter Drogen zu setzen, nach Hawaii zu fliegen, dich dazu zu bringen, einer Therapeutin dein Herz auszuschütten, und erste Erfahrung mit Viagra zu machen.«
Ich zuckte zusammen.
»Aber Grandma hatte irgendwie recht. Ihr beide brauchtet Zeit, um euch kennenzulernen, und sie stellte eine sichere, medienfreie Zone genau dafür zur Verfügung. Meine einzige Frage ist … hat es funktioniert?«
»Hat was funktioniert?«
»Unser Plan?«
Ich schwieg einige Sekunden lang.
»Sohn, liebst du sie?«
»Ja.« Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen und fühlte mich, als sei mir eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen worden. »Das tue ich wirklich.«
»Dann geh ihr nach.«
»Was, wenn sie mich nicht mehr haben will? Woher soll ich überhaupt wissen, ob sie mit mir gegangen wäre, wenn ich es zurück zum Abschlussball geschafft hätte?«
Dad schmunzelte. »Mein Sohn, genau deshalb nennt man Liebe einen Sprung ins Ungewisse. Es ist ein wenig wie Vertrauen. Man weiß, dass es existiert, auch wenn man es nicht fühlen kann.«
»Ich habe aber kein Vertrauen in mich selbst.«
»Das ist in Ordnung« – mein Vater nickte, und Tränen stiegen ihm in die Augen – »denn ich habe genug Vertrauen in dich für uns beide.«