»Ma’am, mit allem gebührendem Respekt: Sie haben ein Bundesverbrechen begangen. Ich glaube nicht, dass ein Minzbonbon das Problem lösen wird, und zum letzten Mal: Nein, Ihr Hund kann nicht als Leumundszeuge dienen.«
»Weil er Franzose ist, nicht wahr?« Oma Nadine nickte wissend.
Ich brauchte eine Papiertüte und eine Wiederholung im Sinne von Zurück in die Zukunft. Ich lehnte mich an die Tür und holte einige Male tief Luft, bevor ich die Augen wieder öffnete.
Jace.
Ausgerechnet Jace. Von allen alleinstehenden Männern auf der Hochzeit hatten meine Hormone entschieden, ausgerechnet ihm an die Wäsche zu gehen? Im Ernst? War ich wirklich so verzweifelt? Das ergab keinen Sinn! Den größten Teil unter der Dusche verbrachte ich mit dem Versuch, die Gleichung mit Logik zu lösen.
Lag es daran, dass er mich schon einmal gerettet hatte? Klammerte ich mich immer noch an den Typen, dem ich nachtrauerte? Um fair zu sein: Hätte er damals nicht wie ein verschrecktes Kind die Flucht ergriffen, hätte ich das wahrscheinlich selbst getan. Es hatte mich erschreckt und Gefühle in mir geweckt, die eine Achtzehnjährige nicht haben sollte. Den größten Teil meines ersten Jahres am College hatte ich damit verbracht, an diesen Kuss zu denken. An das Gefühl seiner Lippen auf meinen. Und immer wieder hatte ich mich gefragt, was wohl passiert wäre, wäre er geblieben.
Aber er war geflohen, und ich hatte ihn nie wiedergesehen.
Erst ein Jahr später war mir klargeworden, dass er nicht einmal auf meiner Schule gewesen war.
Verlegen schob ich mir das Haar hinters Ohr. Erkannte er mich überhaupt wieder?
Wusste er, wer ich war?
Wieso hatte ich nicht irgendwas Normales tun können? Jeden anderen hätte ich vergessen können – aber nicht ihn.
Meine Augen brannten, mir tat alles weh, ich war am Verhungern, und ich sah aus, als hätte mich ein Laster ein Stück mitgeschleift. Ich holte tief Luft und konzentrierte mich auf die vergangene Nacht.
Wir beide waren bei der Hochzeit gewesen.
Wir beide hatten etwas getrunken.
Erinnerte er sich an irgendwas? Oder war ich der einzige plätzchenmampfende Loser, dem Teile unserer lustigen gemeinsamen Nacht abhandengekommen waren?
Nein, ich würde jetzt nicht durchdrehen. Ich durfte nicht durchdrehen. Ha, ha. Ich war offiziell dabei, den verdammten Verstand zu verlieren. Meine Schwester anzurufen kam nicht in Frage. Nicht nur, dass sie massiv enttäuscht von mir wäre, sondern sie sollte in diesem Moment ja gerade für ihre Flitterwochen packen.
Ich trat einen Schritt von der Tür weg, legte das Kleid sachte auf die Toilettenschüssel und starrte es an.
Dieses Kleid hatte mich verraten.
Oma Nadine hatte geschworen, es sei magisch. Sie hatte gesagt, und ich zitiere: »Beth, hab nur Vertrauen in Grandma. Sie bringt alles in Ordnung für dich.«
In Ordnung. Meine Fresse.
Ich hätte wissen müssen, dass Oma Nadine etwas im Schilde führte. Immerhin mischte die Frau sich in jedermanns Leben ein, weil sie dachte, sie wüsste, was das Beste sei. Sie war wie ein verdammter Cupido, nur dass sie statt Herzchen Leopardenmuster trug, und selbst an ihren schlechtesten Tagen war sie immer noch in der Lage, die CIA aufs Kreuz zu legen.
Das Kleid funkelte mich an.
Ich zog eine Grimasse.
Das weiße Funkeln erinnerte mich an das Kleid meines Abschlussballs. Es war weiß gewesen und hatte ausgesehen wie etwas, das eine Prinzessin tragen würde. Bei der Erinnerung krampfte sich mir der Magen zusammen …
»Tanzt du mit mir?« Brett streckte mir die Hand hin.
Sobald ich meinen Unterkiefer wieder vom Boden aufgesammelt und meine Atmung auf Normallevel gebracht hatte, nahm ich seine Hand und lehnte mich an seine Brust, während »Crazy« von K-Ci & JoJo aus dem Lautsprecher tönte.
Ich konnte nicht glauben, dass ich tatsächlich mit Brett Xander tanzte. Ich versuchte, ganz cool zu wirken, aber mein Herz hämmerte verräterisch. Ich bog den Kopf etwas nach hinten und lächelte. »Danke, dass du das für uns alle tust.«
»Null Problemo«, antwortete er, und er schien es tatsächlich so zu meinen. »Ich meine, wäre echt unangenehm gewesen, beim Schulabschluss durchzufallen.«
»Durchzufallen?«
»Genau.« Er verdrehte die Augen. »Meine Bußübung dafür, dass ich die letzten vier Jahre ein Don Juan war, erschien mir in Gestalt meiner idiotischen Lehrerin, die meinte, ich müsse lernen, weniger egozentrisch zu sein. Leider Gottes waren meine Eltern ihrer Meinung. Also musste ich nicht nur einen Haufen Hausarbeiten erledigen, um meine Noten zu verbessern, sondern ich musste auch noch gemeinnützige Arbeit verrichten.«
»Im Sinne von? Alle Mädchen aus dem AP-Kurs Biologie auszuführen?«
»Du liebe Zeit, nein.« Er lachte.
Ich entspannte mich.
»Ich sollte Mädchen aussuchen, von denen ich wusste, dass sie keine Verabredung bekämen, und mit ihnen zum Abschlussball gehen. Ich meine, nichts für ungut, Beth. Du bist schon sexy, so auf eine Art nerdiger Bücherwurm mit aufgestautem sexuellem Frust, aber du bist viel zu schlau und einschüchternd, als dass ein Typ wirklich mit dir ausgehen möchte.«
»Ich bin zu schlau?«, wiederholte ich fassungslos. Ich meine, ich wusste, dass er ein Dummkopf war, da er tat, was er eben tat, ohne zu begreifen, welche Wirkung das auf den Rest der Mädchen hatte – aber trotzdem? Er sagte mir so etwas ins Gesicht? An einem so besonderen Abend?
»Na ja, schon.« Brett nickte und zog mich enger an sich. »Vielleicht, wenn du dich ein wenig dümmer machen würdest, dann würden die Leute dich mögen.«
»Die Leute?«
»Ja.« Er schien tatsächlich verlegen zu sein. »Ich meine, es sind nicht nur die Typen, die einen Bogen um dich machen, wenn du über den Flur läufst. Die Leute glauben, du wärst in etwa ein Wissenschaftsexperiment davon entfernt, mit der ganzen Schule so was wie in Stephen Kings Carrie abzuziehen.«
»Klar.« Meine Unterlippe zitterte. »Sonst noch was?«
Er blinzelte. »Wow, du steckst das ziemlich gut weg.«
»Klar doch.« Lüge. Alles Lüge.
»Mehr Oberweite würde auch nicht schaden. Andererseits wächst du da wahrscheinlich erst noch rein. Das kommt vor.«
Das Lied war zu Ende. Brett beugte sich vor und küsste mich auf die Wange. »Hey, für einen Nerd bist du ziemlich cool. Danke für den Tanz.«
Ich stand reglos mitten auf der Tanzfläche, unfähig, zu weinen, unfähig, irgendetwas zu fühlen, und wirklich unfähig, mehr zu tun, als auf mein weißes Kleid hinabzusehen und mir zu wünschen, dass ich nur ein Mal die Prinzessin wäre und nicht das hässliche Entlein.
»Beth!« Jace klopfte an die Tür. »Wenn du mit Ausflippen fertig bist, müssen wir los.«
»Richtig.« Ich wischte mir die feuchten Wangen ab und hielt das Kleid mit beiden Händen umklammert. Es war nicht magisch. Wenn überhaupt, dann war es nur eine Mahnung, dass ich kein Stück weiter war als bei meinem Abschluss im Jahr 2000. Ich war eine Verliererin. Eine Verliererin mit kleiner Oberweite, der Mathematik und Wissenschaft lieber waren als Facebook.
»Beth, ich meine es ernst. Es sieht nicht gut aus.«
»Nur die Ruhe!«, rief ich laut. Ich war sauer, weil er mich zur Eile antrieb. Schimpfend zog ich das Kleid an, band mein Haar rasch zu einem Pferdeschwanz zusammen und öffnete die Badezimmertür. »Warum die große Eile?«
Jace hielt sein Handy hoch. Auf dem Display stand Oma Nadine.
»Hallo!«, rief eine laute Stimme. »Jace! Beth! Beeilung! Grandma bringt alles in Ordnung.«
»Berühmte letzte Worte.« Jace nickte. »Aber uns bleibt keine Wahl.«
»Keine Wahl?«, echote ich. »Was denn? Ist die Mafia hinter uns her oder so?«
»Schlimmer.«
»Das möchte ich doch sehr bezweifeln.«
»Da.« Er zeigte auf den Fernseher. Vor einem Hotel standen Reporter, und sie waren sichtlich aufgeregt.
»Die Nachrichten?«, fragte ich. »Wieso ist das schlimmer als …«
»Sonderberichten zufolge hat der Senator gestern um Mitternacht eine Prostituierte mit auf sein Hotelzimmer genommen und bisher noch nicht ausgecheckt! Das wirft die Frage auf: Hat der Senator seine dunkle Vergangenheit wirklich hinter sich gelassen? Quellen im nahen Umfeld seiner Ex-Verlobten lassen verlauten, dass der Beziehungsskandal vor zwei Jahren ihn beinahe vernichtet hätte. Noch ein Skandal mehr dürfte nichts Gutes verheißen für den jüngsten Senator in der Geschichte des Staates Oregon. Könnte ein Vertrauensproblem in seinem persönlichen Leben sich auf sein öffentliches Leben auswirken?«
»Das reicht.« Ich nahm Jace die Fernbedienung aus der erstarrten Hand und warf sie aufs Bett. Na toll. Dann hatte ich also nicht nur meine Jungfräulichkeit an einen Politiker verloren, sondern war jetzt auch noch eine Prostituierte. Ich nahm sein Handy und knurrte: »Wir sprechen uns später.«
Oma Nadine schnaubte.
»Aber zuerst hol uns hier raus.«
»Sag die Zauberworte.«
»Ähm, bitte?« Ich stieß Jace an, damit er nicht länger dastand wie eine Salzsäule.
»Doch nicht diese Worte.«
Ich schloss die Augen und stellte mir mein ruhiges und steriles Büro vor, um mich davon beruhigen zu lassen. Funktionierte aber nicht. Also mussten Gedanken an Vampire Diaries her.
Damon Salvatore. Damon Salvatore. Damon Salvatore. Und – da war er, der glückliche Gedanke!
»Ich kann keine Gedanken lesen. Welche Worte soll ich sagen?«
Oma Nadine kicherte. »Na, danke sehr, natürlich!«
»Für?«
»Wie war er?« Sie kicherte wie ein Schulmädchen. »Männer in Machtpositionen haben offenbar eine besondere Art von …«
»Danke sehr!«, schrie ich schon fast. »Und jetzt hol uns hier raus.«
»Roger.«
Die Leitung war tot.
Hilfesuchend sah ich Jace an, aber er schien einen aussichtslosen Kampf mit seiner Krawatte auszufechten, um sie von seinem Hals zu lösen.
»Lass das.« Ich schob seine Hand beiseite. »Wenn du so weitermachst, erdrosselst du dich noch selbst.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Was denn?« Ich lockerte die Krawatte. »Keine bissige Antwort?«
»Mir ist gerade nicht nach bissig«, erwiderte er trocken.
Ich verpasste ihm einen Klaps. Hey, ich habe nie behauptet, ich sei gut mit Emotionen.
»Wofür, zum Teufel, war das denn?«
»Dafür, dass du Katy Perry gesungen hast.« Ich grinste. »Und jetzt reiß dich zusammen, Mr. Senator. Wir schaffen es schon aus diesem Hotel, ohne dass die dürre Schlampe es in den Abendnachrichten bringt.«
»Oma Nadine?«
»Die Reporterin.«
»Du verstehst meine Verwirrung«, fuhr er fort, doch in diesem Augenblick klopfte es an der Tür. »Bleib hier.«
»Ich komme mir vor wie in einem schlechten Film«, flüsterte ich vor mich hin und zupfte mir dabei den Nagellack von den Fingernägeln.
»Shit.« Jace sah durch den Türspion und sagte dann noch ungefähr fünfmal Shit, bevor er langsam die Tür öffnete.
Warum war er so bestürzt? Wieso in aller Welt sollte …
»Oh, Shit«, echote ich. Denn es existierte wirklich kein anderes Wort, das dafür passte.
Also sagte ich es gleich noch einmal.
Jace auch.
Oma Nadine zuckte mit den Schultern und nahm die Sonnenbrille ab. »Lassen wir den Spaß beginnen!«