Die Treppe hallte wider von rhythmischen Schritten, eine Stufe, trapp, zwei Stufen, trapp-trapp, der Treppenabsatz, trapp-trapp-trapp, die Jugend schien herabzusteigen, und ein leises Pfeifen (verheißungsvoll, denn es war eine Melodie von Fred Astaire) erklang. Nach zwei Etagen war die Jugend dreißig Jahre älter geworden. Es handelte sich um Philippe Lebaille, Sandras charmanten Bruder, der sich nach einer langen Karriere als Verführer und Schmarotzer immer häufiger bei seinem Schwager Henri einfand, Philippe, der das Landleben schon immer gehasst hatte, dies jedoch seit fünf Jahren nicht mehr hinausposaunte.
Er war ein schöner Mann, oder zumindest einer, der es gewesen war und dies niemals vergaß (mit Stolz oder Bedauern, je nach Tagesform). Groß, schlank, schwungvoll und viril, hatte er jüngst das Glück gehabt, dass sich sein Errol-Flynn-Bart von ganz allein ausdünnte und ihn so von einem aus der Mode gekommenen Plagiat befreite, nicht jedoch von dem Tick, lässig darüberzustreichen, obwohl er gar nicht mehr da war. Mit zweiundzwanzig Jahren, schön also, reich, gut erzogen und eingebildet, hatte Philippe Lebaille Einzug in die verschiedenen Kreise gehalten, die Männern wie ihm dank der bezirzten und beschränkten Frauen des Jet Set offenstanden. Er hatte sein Erbe ausgegeben, ohne es je zu teilen, hatte die Frauen erobert, ohne sie je zu lieben, war jahrelang überallhin eingeladen gewesen, ohne je etwas anderes zu sehen als Palmen, Paläste und Skipisten. Seit mehr als fünf Jahren ließ er seine verflossenen Liebschaften, die ihm wie ein Geschenk zugefallen waren, glaubte er, in umgekehrter Reihenfolge Revue passieren, wandte sich aber mehr oder weniger schnell wieder davon ab wie von einer unschönen Erinnerung. Jedenfalls war er nun hier, mit seinem pathetischen Lächeln, und posierte für einen unsichtbaren Fotografen, wie auf dem Bild, das ihn von Haus zu Haus, von Spiegel zu Spiegel begleitete und das ihn in Hollywood zeigte, stolz aufgerichtet zwischen John Wayne und Marlene Dietrich. Das Porträt war vielleicht sein kostbarstes Gut, abgesehen von ein paar goldenen Uhren und einer Sammlung ebenso hinreißender wie abgewetzter indischer Seidenschals.
»Im Kreis der Familie! Endlich im Kreis der Familie!«, rief er aus, als er zu Sandra und Ludovic trat.
Er bedachte Letzteren mit einem freundlich zurückhaltenden Blick. Dass sein Stiefneffe verrückt war, störte ihn nicht, es war für ihn jedoch eine unumstößliche, da von seiner Schwester, der Hausherrin, postulierte Tatsache.
»Du siehst aber wirklich gut aus Ludovic!«, rief er, halb entzückt, halb überrascht.
Ludovic lächelte müde.
»Danke«, sagte er.
»Was für eine Freude, dich zu sehen!«
»Wie schön du bist!«, stieß nun Sandra, an ihren Bruder gewandt, seufzend hervor.
Da Philippes Schönheit sein einziges, wenn auch bei jedem Besuch etwas weniger offensichtliches Kapital war, musste sie es einfach erwähnen.
»Ach, da sind Sie ja endlich!«, fügte sie hinzu, als sie Marie-Laure nun ebenfalls die Treppe herunterkommen sah, im selben Kleid wie am Nachmittag, nur für den Abend mit einer Brosche geschmückt, die Ludovic sich nicht erinnerte, bezahlt zu haben, was ihn allerdings nicht weiter zu beschäftigen schien.
Philippes Blick fiel auf das Schmuckstück seiner angeheirateten Stiefnichte, auf Ludovic, und da er nur zwei teilnahmslose Figuren sah, begnügte er sich mit einem Lächeln.
Henri Cressons Ankunft scheuchte alle auf.
»Meine liebe Sandra, würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir heute früher zu Abend äßen? Denn zum einen bin ich müde und hungrig, und zum andern muss ich unbedingt eine Fernsehdebatte zwischen einem Gewerkschafter und einem Arbeitgebervertreter sehen, da wird es sicher heiß hergehen«, sagte er mit der sarkastischen Miene, die er immer aufsetzte, wenn er über Politik sprach.
»Aber sicher, sicher, warum nicht, es ist alles bereit. Setzen wir uns, Martin wird gleich kommen.«
Das wüste Durcheinander seines Salons hatte den Hausherrn nie gestört, aber er war nicht der Mann, der über irgendwelche Hindernisse stieg, um sein Ziel zu erreichen. Daher hatte er verlangt, dass man nur für ihn eine Art Korridor einrichtete, eine freie Bahn, die zu seinem Arbeitszimmer am andern Ende des Salons führte und die nichts und niemand versperren durfte; andernfalls wurde alles, was saumselig herumstand, mit einem kräftigen Tritt aus dem Weg befördert, und so konnte sich ein kleiner marokkanischer Pouf auf einer gotischen Truhe wiederfinden.
Am Ende dieser Schneise befand sich das Esszimmer – der Salon mit seinem privaten Fernseher –, das heißt, auf einer Art Podest standen ein für fünf Leute gedeckter Tisch sowie fünf Ledersessel, deren einer sich ohne Weiteres umdrehen ließ und, mit dem Rücken zum Kamin, perfekte Sicht auf ein offenbar exklusives, zwei Meter entfernt an eine Terrassentür gedrängtes Fernsehgerät bot. Andersherum saß Henri Cresson zum Diner seiner Familie gegenüber, nach dessen Abschluss man die Tischdecke wegnahm und das Fax nebst den verschiedenen, für einen Geschäftsmann, und sei er auch vom Lande, unabdingbaren Gegenständen wieder aufstellte.
Henri preschte voran, durchmaß im Laufschritt die acht Meter, die ihn von seinem kleinen Büro-Salon trennten, warf die Aktentasche auf den hierfür bestimmten Sessel und ließ sich dann auf seinem nieder. Er hatte dieses Esszimmer genau nach seinen Vorstellungen entworfen. Die Männer saßen Henri Cresson gegenüber, die Frauen links und rechts von ihm, und sobald die Mahlzeit beendet war, könnte er den Sessel umdrehen und in aller Ruhe seinen persönlichen Fernseher nutzen, wonach er sich ganz offensichtlich sehnte. Selbstverständlich war das Programm, das er wählte, nie das, welches die anderen sich gewünscht hätten. Er legte Wert auf diese geistige Abgeschiedenheit, um sich von ihrem unsinnigen Geschwätz zu erholen, an dem schon während des Abendessens kein Weg vorbeiführte. Eines Abendessens, in dessen Verlauf der Patriarch Henri Cresson zuweilen mit philosophischer Ruhe dachte, dass er einen vermutlich verrückten Sohn, eine mondäne und dämliche Schwiegertochter, eine hässliche und dumme Frau und einen bekloppten Schmarotzer zum Schwager hatte! Ein Schicksal, das er gelassen, nur mit sporadisch auftretenden, unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Wutanfällen hinnahm.
Alle setzten sich eilig – was dennoch einer gewissen Grazie keinen Abbruch tat, zumal im Falle Marie-Laures, die ihre neue Brosche präsentierte, welche ihr Schwiegervater nicht einmal bemerkte. Sandra begann, kaum dass sie Platz genommen hatte, mit ihrer Nummer der amerikanischen Ehefrau in schlechten Filmen:
»O mein Gott, mein armer Schatz, Sie müssen wirklich fix und fertig sein! Stellt euch doch nur vor, den ganzen Tag hat er mit furchtbaren geschäftlichen Widersachern zu tun, und dann, plötzlich, kommt er nach Hause, in eine Familie wie die unsere? Was für eine Diskrepanz! Er hat allen Grund, erschöpft zu sein.«
Sie schenkte ihrem Gatten ein sanftes Lächeln, der, ohne die Augen von seinem Teller mit der unvermeidlichen Suppe zu heben, murmelte:
»Das sind keine erbitterten Widersacher, die ich den ganzen Tag lang sehe, meine liebe Sandra, sondern stinkfaule Deppen. Und es tut überhaupt nichts zur Sache. Tatsächlich ist es sehr angenehm, ein Heim zu haben, wohin man sich nach all den Zahlen flüchten kann.«
Darauf rief Marie-Laure schrill und mit einem Gesicht, das an eine Karikatur erinnerte:
»Das nennt man die Erholung des Kriegers. Aber, aber, Sandra!«
Der leicht anzügliche Vorwurf in ihrer Stimme reizte Philippe, der gerade den Kopf senkte, zum Lachen, ließ Sandra vor Vergnügen erröten – sie bereute es nicht, ihr Zimmer verlassen zu haben, um sich den anderen anzuschließen – und Ludovic, wie gewohnt, vollkommen gleichgültig.
Ein wenig bleich hielt Marie-Laure wacker dem schlagartig abgekühlten Blick ihres Schwiegervaters stand.
»Wisst ihr, wem ich einmal auf der Straße begegnet bin?«, rief daher Sandra, die das Gewitter heraufziehen sah, ohne den Grund dafür zu begreifen. »Unserer Königin von Frankreich!«
Es war kurz still, dann bat Henri sie mit banger Miene, denn er fürchtete, Sandras Wahnsinn könne zu viel für ihn sein, es noch einmal zu wiederholen.
»Ich habe die Königin von Frankreich in Tours auf der Straße gesehen. Ihr wisst doch, Madame de Boyau war eine Valois. Irgendwann sind die Bourbonen gekommen, haben sich alle Titel genommen und sie anschließend verteilt, wie es ihnen passte. Madame de Boyau stammte aber in direkter Linie vom Grafen Soundso ab, ich weiß nicht mehr, wie er hieß, aber er wäre eigentlich ziemlich bald König geworden. Folglich, ohne die Geschichte mit den Bourbonen, wäre die wahre Erbin und Première Dame Frankreichs …«
Sie war leicht purpurn angelaufen, zappelte und schien den Sinn ihrer Worte selbst nicht mehr zu verstehen.
»Es steckte ganz bestimmt noch etwas anderes als nur die Gerissenheit der Bourbonen dahinter, oder?«, platzte Philippe grinsend heraus. »Ich weiß, dass du in der Lage bist, die Königin mit einem gebührenden Knicks zu begrüßen, du hast dich als junges Mädchen schließlich ausgiebig mit so was befasst, aber ich versichere dir, es gab noch andere Dinge, die das verhindert haben.«
»Zum Glück!«, rief Henri kauend aus, so sehr hing ihm diese Familie zum Hals raus. »Natürlich gab es andere Hindernisse. Stellt euch doch mal diese kleine Dame vor, Madame de … wie hieß sie noch gleich? Wie hieß sie noch gleich, Sandra? Diese kleine Dame, die so hässlich ist, dass man es selbst von hinten sieht! Wollt ihr das allen Franzosen antun, die einen Fernseher haben?«
»Also, na ja …«, die Angesprochene zuckte mit den Schultern. »Zufall ist Zufall. Warum nicht sie statt unserer aktuellen Comtesse de Paris? Es wäre doch amüsant gewesen, wenn die Königin von Frankreich aus unseren Kreisen käme.«
»Was es verhinderte, war die Französische Revolution«, schaltete Ludovic sich ein.
Angesichts der verblüfften Mienen seiner vier Tischgenossen besann er sich sofort und stellte, die Hand wie zur Verteidigung erhoben, klar:
»Das habe ich einfach nur so dahingesagt …«
Es folgte verlegenes Schweigen, unterbrochen von kurzlebigen Versuchen eines jeden von ihnen, das Gespräch wieder in Gang zu bringen.
»Und du, warst du spazieren?«, fragte Henri Cresson seinen Sohn, der zusammenzuckte.
»Ja, Vater, ich bin sogar bis zu den Weihern gegangen. Den alten Weihern von Carouve, erinnern Sie sich? Das war herrlich.«
»Man sieht ihn tagsüber einfach gar nicht«, kommentierte Sandra schulterzuckend. (Und etwas lauter:) »Er hat weder Sinn noch Verstand, noch Gedächtnis.«
»Besser, als sich in Tours mit irgendwelchen Schwachköpfen zu besaufen«, sagte Henri Cresson mit einem kleinen, an seinen Sohn gerichteten Lächeln, der es jedoch leider nicht sah und wieder mal mit den Gedanken abschweifte, bis er seinen Namen hörte.
»Ich nehme an, Sie sind den ganzen Tag im Bett geblieben und haben telefoniert oder die Hausfrau gespielt«, warf Henri seiner Gattin an den Kopf. »Ludovic mit seinen Spaziergängen ist der Einzige, der hier wenigstens irgendwas tut.«
»Aber ich fürchte, er hat bereits jeden Winkel Ihrer Ländereien gesehen«, bemerkte Philippe. »Ich weiß nicht, was er dort noch tun könnte, es sei denn, eine Schäferin erwartet ihn irgendwo …«
»Es gibt keine Schäferinnen mehr«, knurrte Henri Cresson boshaft. »Wenn doch, dann wäre er nicht der Einzige, der spazieren ginge. Und Sie, Marie-Laure? Warum begleiten Sie ihn nicht mal auf seinen Spaziergängen? Sie gehen nie mit ihm mit.«
»Ich gestehe, ich mag keine Spaziergänge.«
»Seit seiner Rückkehr vor einem Monat haben Sie ihn noch kein einziges Mal begleitet?«, fragte Henri.
»Gestern waren es ein Monat und zwei Wochen«, gab Marie-Laure offen zu. »Ich habe Paris am 7. Juli verlassen, und ich musste erst aus den Alpes-Maritimes herkommen. Also sind es genau siebenundvierzig Tage.«
Ihr bitterer Ton ließ diese siebenundvierzig Tage mehr als belastend und alles andere als angenehm erscheinen. Wieder senkte sich betretenes Schweigen über den Tisch, das Sandra als versierte Hausherrin erneut brach.
»Da fällt mir ein, wir müssen unbedingt noch die Einladungen für den Ball verschicken, also, für die Rückkehr des verlorenen Sohnes, ihr wisst schon … Wir hatten doch beschlossen, sie Ende September gebührend zu feiern, wir hatten sogar schon das Datum festgelegt, und ich habe es vergessen … Mein Gott! Ich bin ganz verwirrt«, fügte sie hinzu, indem sie den Kopf schüttelte und für einen Augenblick dessen stolze Haltung aufgab.
Seit jeher vertraute die neue Madame Cresson auf ihre untadelige Kopfhaltung zur Sicherung ihrer Vorrechte und ihrer Eleganz. »Das Wichtigste bei einer Frau«, pflegte sie zu sagen (übrigens immer häufiger, da ihr sonst nicht viel Bemerkenswertes blieb, außer fünfundzwanzig überflüssigen Kilo), »ist die Haltung, die Würde, etwas Unerschütterliches, was jedermann dazu bringt, ihr Respekt zu zollen. Es ist gleichzeitig eine Waffe und ein Schutz, glaubt mir.«
Gereizt hatte Henri sie darauf hingewiesen, dass das Wichtigste nicht die spezielle Haltung des Kopfes, sondern sein Inhalt sei.
»Weshalb«, hatte er sogar hinzugefügt, »sollte man stolz eine leere Hülle präsentieren?«
»Du kannst sagen, was du willst, Henri, an Hals, Schultern und Nacken einer Frau erkennt man sowohl ihre Erziehung als auch ihre Würde.«
Worauf er mit einem Zucken seiner breiten Stierschultern erwiderte:
»Jeder hält, was er kann.«
»Morgen fangen wir damit an, nicht wahr, Marie-Laure? Es sind dreihundert Einladungen zu schreiben … stellt euch das nur vor!«
»Vergesst die Schäferinnen nicht«, scherzte Philippe, »die müssen auch eingeladen werden!«
Mit heiterer Miene versuchte er die andern zum Lachen zu bringen, aber die Stimmung war nicht danach.
»Glauben Sie denn, er würde sie einladen, wenn er welche hätte?«, fragte Marie-Laure sarkastisch. »Nun ja, solange er sie nicht in den Teich schubst, wollen wir uns nicht beschweren …«
Ihr Gesicht drückte grenzenlose Langmut aus.
Im Hause der Cressons hatte man sich angewöhnt, Ludovic nicht direkt anzusprechen, da der wahre Ludovic für sie gestorben war. Also redeten alle in seinem Beisein so ungeniert über ihn, als wäre er gar nicht da. Ludovics Blick schweifte dabei ohnehin stets über die Landschaft draußen vor den Fenstern.
Henri Cresson betrachtete Marie-Laure und fragte unvermittelt und gedehnt:
»Meine liebe Marie-Laure, könnten Sie, mit Ihrem Sinn für Genauigkeit, mir sagen, wie spät es ist?«
»Es ist fast zwanzig nach acht«, antwortete sie, ohne ihren Schwiegervater anzusehen.
»Ich danke Ihnen vielmals«, fügte Henri Cresson hinzu. »Entschuldigt mich, diese Debatte muss ich verfolgen, ich will sie um keinen Preis verpassen. Danke, bis später.«
Ungerührt wandte er sich ab, drehte allen, die mit dem Löffel in der Hand vor ihrem Dessert saßen, den Rücken zu, nahm seine Fernbedienung und schaltete das Gerät ein. Nach kurzem Flimmern und dem Wetterbericht wurde endlich die gewünschte Sendung angekündigt.
Da die anderen ihren eigenen Fernseher hatten, auf halbem Weg zwischen dem marokkanischen und dem finnischen Salon, bezogen sie die chinesische Couch und machten ihn an. Für sie gab es keine besonders große Programmauswahl, ebenso wenig wie für alle übrigen Franzosen, es lief eine packende amerikanische Serie, die jedermann ans Herz ging, die letzte von zehn weidlich bekannten Episoden. Um die Wahrheit zu sagen, interessierte sich Philippe genauso wie die beiden Frauen für die Liebesabenteuer der glänzenden, zwischen ihren biestigen, ehrgeizigen Ehefrauen und ihren missratenen Kindern gefangenen Geschäftsmänner. Ludovic hatte eine Folge der Serie mit angesehen, wobei er zur allgemeinen Enttäuschung fast sofort eingeschlafen war. Er setzte sich dennoch auf ein Sofa und betrachtete den kleinen schwarze Kasten mit geheucheltem Interesse. Nach zehn Minuten Werbung und einem Vorspann mit schöner, tragischer Musik im Hintergrund waren alle von der Geschichte gebannt.
Henri Cresson seinerseits saß vor den Kontrahenten aus Gewerkschaft und Arbeitgeberschaft und lauschte ihnen schon etwas gähnend. Die amerikanische Serie endete gut, Gott sei Dank, denn ganz Frankreich hatte bis dahin beim Zuschauen geweint. Einige bewegende Szenen hatten die Augen der Frauen gerötet, doch Philippe hielt sich vor seinem Schwager zurück, denn der hätte ihn zwei Wochen lang damit aufgezogen. Er machte ein unbeteiligtes Gesicht und zwinkerte Ludovic zu, der brav und stumpfsinnig vor dem Bildschirm gesessen hatte, erst die triumphierende Musik am Ende schien ihn wieder zum Leben zu erwecken.
Bei Henri drüben verabschiedeten sich die beiden Anführer voneinander, wobei sich niemand mehr um Subtilität bemühte, denn angesichts der nahenden Wahlen blieb keine Zeit für Spitzfindigkeiten. Henri schreckte hoch, als das Geschwätz der beiden Kumpane verstummte; er drehte sich zu den Menschen um, mit denen er nun schon recht lange gegen seinen Willen Umgang pflegte.
»Sie haben die ganze Zeit nur Stuss geredet. Zwei echte Schwachköpfe! Armes Frankreich!«, rief er, hochzufrieden, denn er hatte am Vorabend einen Coup an der Börse gelandet, über den er sich nur mit seinem Sekretär, einem echten Emporkriecher, hatte freuen können.
Er brauchte seine Familie nicht mal davon zu unterrichten. Daher stand er unvermittelt auf und fuhr fort:
»Jedenfalls kann man nicht sagen (nicht ohne Scheinheiligkeit, denn seine Verdauungsgeräusche waren im ganzen Haus zu hören gewesen), dass ihr Schlagabtausch euer amerikanisches Melodram gestört hätte!« Und er fügte hinzu: »Nun, dann wünsche ich euch einen guten Abend.«
Ebenso unvermittelt zog er seine herabhängenden Hosenträger wieder hoch, kickte eine Khmer-Statuette aus seiner Schneise, die sich dorthin verirrt hatte und nach kurzem Flug auf einem marokkanischen Kissen landete, dann verschwand er, anscheinend, für eine Runde im Park.
Die Luft draußen war wirklich mild an diesem Herbstabend. Ludovic wäre vielleicht mit ihm gegangen, wenn die Fernsehzuschauer nicht ihre emotionalen Eindrücke, ihr Mitgefühl oder ihre Begeisterung für die drei Helden des Films hätten äußern wollen.
Nachdem sie verschiedene, sensible und kluge Kommentare zu dieser wundervollen Serie ausgetauscht hatten (nur die Amerikaner verstanden es, diese Art von settlements mit ihren wohlbekannten Methoden zu verbinden) und Großmut, Herz sowie Intelligenz der Figuren hervorgehoben hatten, versuchte Sandra, den letzten Satz zu wiederholen: »Yes, my dear Mrs Scott, Sie haben ihn geliebt, aber nicht so sehr, dass es Sie umgebracht hätte, denn die Liebe kann manchmal zu Tode verletzen und enden.« Diese Worte, ausgesprochen von der schwarzen Amme der Heldin, erklangen mit dem Akzent der – für solche Historiendramen typischen – kerngesunden »guten Sklaven«, einem Akzent, den man aus dem Mund der Besitzerin der Cressonnade allerdings nicht erwartet hätte. Der gutmütige, meridionale Tonfall reizte ihren Bruder Philippe zu einem unkontrollierbaren, hysterischen Lachen, das ihn auf sein Zimmer trieb. Die beiden Frauen diskutierten weiter darüber, wie sie selbst sich möglicherweise in gewissen Situationen verhalten hätten (»Ja, ja, geben wir es ruhig zu.«). Sandra sah die Füße ihres Stiefsohns aus einem – vielleicht mexikanischen oder beduinischen, man wusste es nicht – Sofa hervorragen und fragte ihn, mit einem Hauch Anteilname in der Stimme:
»Und Sie, Ludovic, hat es Ihnen gefallen?«
»Ich habe nicht alles gesehen«, gestand dieser, »aber die Dialoge, die ich am Anfang mitbekommen habe, erschienen mir ein wenig … schwerfällig.«
»Etwas anderes war ja auch nicht zu erwarten«, sagte Marie-Laure, an ein enttäuschtes Publikum gewandt. »Er hat in seinem Leben keine fünf Filme gesehen und sicher nicht mehr als zehn Bücher gelesen. Oder mehr als ein Gemälde betrachtet.«
Freundlich, ruhig, ohne sich um den verächtlichen Ton der beiden Frauen zu kümmern, bemerkte Ludovic, er habe Gedichte gelesen, sie immer geliebt, und plötzlich deklamierte er vor ihren zweifelnden Mienen:
Deine Augen, welche sich erweisen
Bitter nicht, noch hold
Sind kalte Steine, in denen Eisen
Sich vermengt mit Gold.
»Selbst in der Poesie hegen Sie1 den Frauen gegenüber einen gewissen Groll«, kommentierte Marie-Laure. »Armer Verlaine!«
»Das ist von Baudelaire, glaube ich«, stellte er sanft richtig – was Marie-Laure, eher beschämt als siegreich, erst recht auf die Palme brachte.
»Überprüfen Sie das morgen im Lexikon«, warf sie ihm lachend hin.
Dann nahm sie den Arm ihrer Schwiegermutter (selbst unfähig, die beiden Dichter voneinander zu unterscheiden), die sich müde und rührselig an sie klammerte, um die Stufen zu erklimmen. So stiegen sie die Treppe hoch, steif wie zwei Ziegen, Marie-Laure mit vorgerecktem Kinn vor Wut, die ihr immer besondere Kraft verlieh.
Im Zimmer hatte der Butler bereits sorgfältig alle Lampen sowie den Fernseher ausgeschaltet. Der Salon war nur noch in den grässlichen Schein der Lichterkette getaucht, die die Brüstung umrahmte. Inmitten all der verschiedenen, in ihrer authentischen Hässlichkeit vereinten Epochen wirkte diese grelle Note beinahe behaglich. Henri Cresson hatte im Haus großbürgerliche Regeln eingeführt und seit Langem keinen Lichtschalter mehr angerührt. Von Zeit zu Zeit ließ er eine der von Sandra bevorzugten 40-Watt-Birnen durch eine 200-Watt-Birne ersetzen, da die dämmrige Beleuchtung seiner Frau ihn in Trübsal stürzte. Er hatte sogar verboten, dass man wo auch immer weniger als 80 Watt hineinschraubte.
Sandra wusste genauso gut wie Henri, dass brennende Lampen, rauschende Fernseher und anderer Unfug letztendlich sehr teuer werden konnten, aber sie würde trotz alledem nicht im Dunkeln die Treppe hochgehen, schließlich kostete die Klinik mehr als eine Glühbirne. Daher rief sie Ludovic, der allein im Salon zurückgeblieben war, zu:
»Macht ja die Lichterkette aus!«
Zärtliche Abschiedsworte einer liebevollen Stiefmutter.
Ludovic und Marie-Laure bewohnten das Zimmer des jungen Brautpaars oder in diesem Fall des verunglückten Brautpaars. Es war ein großer Raum auf der anderen Seite des Hauses, zu den Hügeln hin gelegen, von dem aus eine kleine Treppe in eine Art Büro mit Sofa führte, wo die Frischvermählten sich zwischen zwei Kapriolen ausruhen oder ein wenig lesen konnten.
Selbstverständlich erwartete man, dass Ludovic, der durch ein Wunder geheilte Wiedergänger, der Ex-Schwachsinnige der Familie, Liebesnächte mit seiner Frau verbrachte, aber das schmale Feldbett, die Pflanze und die paar Bücher, aus denen der Ruheraum im Erdgeschoss bestand, leisteten ihm im Moment bessere Dienste.
Die hohe, auf die Terrasse hinausgehende Fenstertür dieses Zimmers war geöffnet. Ludovic trat ein, entkleidete sich rasch und zog einen komischen Pyjama an, der besser zu einem Säugling gepasst hätte – er schien sich daran gewöhnt zu haben. Nachdem er die Nachttischlämpchen angeknipst hatte, begann er die Stufen hochzugehen, die die beiden Räume miteinander verbanden.
»Marie-Laure? Marie-Laure?«, rief er sanft.
Seine Frau riss die Tür auf.
»Was wollen Sie?«
Ihre Stimme hallte über die Treppe, entwischte durch die noch immer geöffnete Terrassentür nach draußen, und die vage Ahnung eines Skandals ließ sie sofort leiser sprechen. In umso aggressiverem Ton zischte sie durch die Zähne:
»Was wollen Sie? Was wollen Sie denn noch?«
»Ich würde gerne zu Ihnen kommen«, sagte Ludovic langsam und mit ausgesuchter Höflichkeit. »Ich wäre gern wieder bei Ihnen.«
»Niemals! Das habe ich Ihnen bereits gesagt, niemals!«
Sie verstummte.
Marie-Laure war eine Stufe runtergegangen und beugte nun ihr vor Missmut und Zorn verzerrtes, gleichsam altersloses Gesicht über ihn. In ihrem langen Kimono-Morgenmantel, aus dessen weiten Ärmeln magere Hände mit lackierten Nägeln ragten, die sie, wie um ihn nicht zu erwürgen, verzweifelt um die Geländer zu beiden Seiten der Treppe krallte, erinnerte sie mit einem Mal auf faszinierende, aber bedrohliche Weise an gewisse Riesenfledermäuse im Zoo, vor denen sich die Kinder fürchteten.
Ludovic lehnte sich weit zurück und klammerte sich ebenfalls reflexartig an das Holzgeländer. So glichen sie weniger einem jungen Paar beim zärtlichen Liebesgeflüster als vielmehr Todfeinden, die einander an den Kragen wollen.
So zumindest erschienen sie Henri Cresson, der, versteckt hinter einer Platane, das Gesicht seiner Schwiegertochter im Blick hatte und auch seinen Sohn, der immer mehr in sich zusammensackte. Sie waren zehn Meter entfernt, und Henri Cresson sah und hörte alles, was aus der erleuchteten Fenstertür hervorquoll: Worte und Bilder, die seine Züge erstarren ließen.
»Ich bin wieder gesund«, antwortete Ludovic ihr schleppend. »Ich liebe Sie, und ich bin wieder gesund.«
»Hör zu, ich wollte es dir nicht so direkt sagen, aber deine allabendliche Beharrlichkeit zwingt mich dazu: Du bist nicht gesund, du wirst nie wieder gesund werden! Jedes Mal, wenn wir dich besuchten, habe ich dich in einer Zwangsjacke gesehen, kriechend, beißend, sabbernd, lachend wie ein Schwachkopf mit all den anderen Irren, wie soll ich das je vergessen?! Es war entsetzlich! Glaubst du ernsthaft, dass ich mit einer wilden und bösartigen Bestie in meinem Bett schlafen will? Ich könnte dich niemals neben mir ertragen, also wirklich, überleg doch mal … Keine einzige Frau könnte das. Dieser leere Blick, diese hängenden Arme, das ist abstoßend! Verstehst du? Sag, verstehst du das?«
Henri Cresson, der von seinem Posten aus nur die verzerrten Züge seiner Schwiegertochter und Ludovics gekrümmten Rücken sah, hatte einen seltsamen Gesichtsausdruck angenommen: Er glich einer zornigen Holzmaske, wie manche Götzenbilder von entlegenen Inseln.
»Ich war nie bösartig, nur benommen.«
»Woher willst du das wissen? Ludovic, wir lassen uns scheiden. So schnell wie möglich, bitte, nach dem Fest. Leb wohl.«
Sie machte kehrt, stieg ihr kurzes Stück Treppe wieder hoch, stolperte über die letzte Stufe und betrat mit gesenktem Kopf ihr Zimmer, was der Dramatik ihrer Geste etwas Abbruch tat.
Ludovic wandte sich langsam um, ging die Treppe hinunter und streckte sich auf seinem Feldbett aus. Er hatte denselben Gesichtsausdruck wie sein Vater, unbeteiligt und abwesend, wie versteinert, aber ohne Wildheit: Als er sich mit einem alten, klapprigen Feuerzeug eine Zigarette anzündete, tat er es ohne jede Mühe, ohne das geringste Zittern.