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Genau in diesem Augenblick ließ Ganache, der auf dem Gipfel der Glückseligkeit war, sein erstes Gebell in der Nacht hören. Ihr Gelächter darüber löste unter den Hunden der Nachbarschaft großes Echo aus, das sich noch erheblich steigerte, als das Wutgeschrei eines menschlichen Wesens von weiblichem Geschlecht ertönte. In dieser entspannten Situation sah Philippe, wie Ludovics Hand auf Fannys Hüfte ruhte. Beim ersten Bellen von Ganache also hatte er alles begriffen.


Philippes Intuition, was die Beziehung zwischen Ludovic und Fanny anging, erschien ihm umso überzeugender, als allein seine Einfältigkeit und die Lust auf dramatische Verwicklungen sie ihm enthüllt hatten. Diese Hand von Ludovic, die sich auf die Hüfte seiner jungen Schwiegermutter just in einem Moment allgemeiner Heiterkeit verirrt hatte, war ihm ein eindeutigeres Zeichen gewesen, als selbst der obszönste Austausch flüchtiger Zärtlichkeiten es hätte sein können. Die Leute, das Publikum, die Gesellschaft, kurz, die anderen vertrauen ihrer Intuition umso mehr, wenn sie vage ist und von ihren üblichen Eindrücken oder Fantasievorstellungen abweicht: Ein Kuss auf den Mund am helllichten Tage kann als Scherz gedeutet werden, nicht aber ein geflüstertes Wort in der Nacht. Im Fernsehen oder im Kino erlebt man zum Scheitern verurteiltes Glück in seiner unvorstellbaren Härte. Im wirklichen Leben zieht man die Überraschung dem Erfahren und erst recht dem Verstehen vor. Sehr oft empfindet man die falschen Eindrücke viel schärfer als die wahren, so als umgäbe die falschen der Widerwille gegen die Lüge und machte sie gerade durch ihre Unwahrscheinlichkeit umso unabweisbarer.

Was Fanny empfand, als sie Philippes Blick kreuzte, hätte sie ebenso ehren wie beschämen können. In jedem Fall wurde ihr klar, dass sie im Geiste nun auf immer mit Ludovic verbunden war, und sie hatte weder die Kraft noch die nötige Empörung, es zu leugnen. Der Himmel hellte sich auf oder erlosch, um sie herum erschien alles in einem falschen, verräterischen und exakt ausgerichteten Licht.

Die Wahrheit lag dort: zwischen Ludovics Tweed und ihrem Seidenkleid. Dieser Blick enthüllte die sexuelle Wahrheit, die zwischen ihnen schwelte und die sie nicht sehen wollte: Quentins Tod, ihre seltenen Liebhaber, Strandbegegnungen, Flirts oder Vergnügen, all das war seither verblasst. Und nun kam dieser fehlgeleitete Mythomane daher und brachte sie dazu, ihr Begehren, ihre heftige Zuneigung für einen Jungen zuzugeben, der sich unsterblich verliebt in sie glaubte, dabei hatte sie selbst ihn nie so betrachtet.

Ein Junge, der mit dem Mut einfacher Menschen liebte, was er begehrte, eingestand, was ihn bewegte, und sich ihm widerstandslos ergab. Mit einer Naivität, zu der in diesem Jahrhundert niemand mehr – oder doch nur wenige – in der Lage, mutig oder schlicht genug war.

Philippes Lachen war verstummt. Ludovic dagegen wirkte auf mysteriöse Weise aufgerüttelt, sein Lachen war offener geworden, ernster, männlicher, weicher. Und ihres, wie stand es um ihr eigenes Lachen? Es kam ihr mondän vor, verlogen und ohne jugendlichen Schwung, ohne alle Ähnlichkeit mit dem ihrer beiden Zeugen. Es kam Fanny dünn und lächerlich vor, wie ihr eigener Körper. Nicht Frivolität oder Verrücktheit warf sie sich vor, sondern Feigheit. Dieses neue Lachen, diese neue Stimme von Ludovic bedeutete Männlichkeit – Stärke, Entschlusskraft, und ja, auch Leichtsinn –, sie war aber nur der Preis seines Begehrens, keinesfalls seine Natur und schon gar nicht eine Maske.


Was ursprünglich ein langer, fröhlicher Abend hätte werden können, reduzierte sich dank der falschen Schlüsse von Philippe und der richtigen von Fanny auf eine Viertelstunde.

Ludovic war der Einzige, der sich wohlfühlte. Selbst Fannys Rückzug von seiner Schulter hatte ihn nicht entmutigt. Etwas in Fannys Verhältnis zu ihm hatte sich bestätigt, zu erkennen gegeben. Fanny hatte ihre Gefühle verstanden und sich zu ihnen bekannt, sie hatte sich seiner Tweedjacke entzogen wie einem Kokon, in dem man sich gleichwohl von jeher geborgen fühlt. Zum Blick seines Schwagers – oder Stiefonkels, also zu Philippes Blick – stellte er keinerlei Verbindung her, Philippe war in seinen Augen nur der Langweiler und Hochstapler, dessen Wort allerdings bei Sandra einiges Gewicht hatte. Ein Spinner, ein Lügner, aber im Grunde kein schlechter Typ.

Ludovic hatte eine ganze Reihe von aus der Mode gekommenen Ausdrücken auf Lager, die er in seinen Internatsjahren erworben, in Pariser Diskotheken weiter gepflegt und in den psychiatrischen Kliniken später seltsamerweise immer noch angetroffen hatte. Er sagte zum Beispiel »netter Kumpel«, ja sogar »Pfundskerl«. Er sagte: »Ist das ein Bild von Frau«, wenn er auf ihre äußere Erscheinung anspielte, oder: »Das ist eine echte Type«, wenn er seinen Industriellenvater meinte. Es war schon lange her, dass er irgendetwas Zusammenhängendes über Marie-Laure, seine Frau, gesagt hätte, aber in der Zeit ihres Kennenlernens war sie immerhin ein »Prachtstück« gewesen. Sandra war als Frau »recht farblos«. Allein Fanny entzog sich jeder Charakterisierung durch ein Adjektiv, jeder sonstigen Einschätzung, jeder Diskussion. Ein Stillschweigen, das in diesem Fall für sich sprach.

Abends, in jenen seltenen Augenblicken instinktiver Annäherung, die die bedrückende und unheilvolle Anwesenheit einer Hausherrin von ihrem Kaliber zuließ, gaben sich »die Kinder«, wie Sandra sagte, wenn sie von Ludovic, Marie-Laure, Philippe und Fanny sprach, in der Regel einen Wangenkuss. Angst, Unverständnis, aber auch Solidarität, wie sie aus ahnungsloser Kindheit erwachsen sind, können selbst ältere Menschen noch zusammenführen. Nur dass Philippe an diesem Abend, statt Fannys Wange zu küssen, ihre Hand küsste, denn Fanny war, was sie in seiner Achtung steigen ließ, schuldig geworden an einem Drama, das ihm in dieser Gegend, die einen mit ihrem Komfort und ihrer Langenweile erschlug, geradezu unverhofft entgegenkam. Fanny wiederum zeigte, als sie die unrasierte Wange ihres jungen Schwiegersohns küsste, eine Steifheit, die jedermann auffallen musste. Für Philippe ein weiterer Beweis ihrer Schuld und für Ludovic die Gelegenheit, seinen Mund auf die zarte Wange von Fanny zu drücken, die nach jenem Parfum duftete, das er zum ersten Mal auf dem Bahnhof von Tours gerochen hatte und das ihm seitdem als das einzige weibliche Parfum auf dem Markt erschien.

Ludovic fühlte sich an diesem Abend ganz besonders jung, glücklich, verliebt, und da seine Empfindsamkeit wie weggewischt war, erschien ihm auch seine Blindheit in der Liebe weniger endgültig als sonst. Und dann sein Lachen. Das Lachen ist nur dem Menschen eigen, hatte mal jemand gesagt, und in der Tat, nichts macht Moral lächerlicher oder wirkt vernichtender auf sie als das Lachen. Er nahm seinen Arm von Fannys Taille, die er unbewusst umfasst hatte, und legte ihn um ihre Schultern. Er stand ihr zugewandt, neigte sich zu ihr hin, ihr Gesicht war sehr nah an seinem. Wenn sie ihn nicht zurückdrängen oder selbst in einer abrupten Bewegung zurückweichen wollte, und wenn sie nicht mit der Stirn oder dem Kinn aneinanderstoßen wollten, musste sie den Kopf beim Anheben leicht drehen und sich seitlich auf den Mund küssen lassen. Was Fanny aus ästhetischer Erwägung erlaubte und Ludovic ganz natürlich tat, immer unter dem feindseligen Blick von Philippe, der zwar die Rolle eines Psychospions durchaus schätzte, nicht aber die eines verschmähten Zeugen. Der Kuss fiel im Übrigen sehr kurz aus, denn Fanny machte auf dem Absatz kehrt und sagte mit eisiger Stimme: »Oh, Pardon!« Philippe folgte ihr leise pfeifend und mit spöttischer Miene. Und Ludovic folgte Philippe.