15

Fannys offen stehendes Zimmer, das jeden Tag gelüftet wurde und in dem die verschiedensten schönen Kleidungsstücke großzügig über den Teppich verstreut lagen, hatte einen ländlichen Geruch angenommen, einen Duft von Gras, und die großen Blätter der Platane schlängelten sich dreist durch die offenen Läden herein. In den Nächten sah Marie-Laures Mutter auf einen dunkelblauen Himmel, über den die Sternschnuppen jagten, während die feuchte Erde sie wie mit einer Liebkosung umschlang.


Philippe hatte Fanny bis zu ihrer Tür gebracht und küsste ihr die Hand mit einem feinen Lächeln, das sie erboste. Er insistierte nicht, morgen war auch noch ein Tag für solcherart Komödien. Sie schritt durch ihr Zimmer, warf sich im Spiegel einen nervösen, gereizten Blick zu, dann lehnte sie sich ans offene Fenster. Das Laub der Platane umhüllte sie, weich und rau zugleich wie das Jackett von Ludovic … des maliziösen, zu allem bereiten, einhüllenden Ludovic … dieses Grünschnabels, der in einer halben Sekunde zum Mann geworden war, als er sie daran gehindert hatte, sie, Fanny, mit all ihrem Geschick, dieser Schulter aus dem Weg zu gehen, diesem Arm und diesem Schritt vor oder zurück, diesem ungraziösen Zurückweichen, mit dem sie seinem Mund entflohen war. Und anstatt sich auf andere Weise dem aufdringlichen Blick von Philippe zu entziehen, hatte sie sich an ihren verliebten, unglückseligen Schwiegersohn gelehnt! Indem er sie losließ, hatte er noch einmal ihr Gesicht gestreift, und wenn nicht dieser Idiot von Philippe so dicht neben ihnen gewesen wäre, würden sie beide vielleicht immer noch unter dem betörenden Septemberhimmel stehen.


Es klopfte. »Herein«, sagte Fanny laut, in der Annahme, es wäre Philippe oder Henri oder Sandra mit irgendeinem ihrer idiotischen Einfälle. Wer aber mit großer Dreistigkeit eintrat, war Ludovic, einen Finger auf dem Mund wie ein Komplize. Empört senkte sie dennoch den Ton:

»Was wollen Sie hier? Sind Sie gekommen, um mir zu erklären, durch welchen Zufall …?«

Sie hielt inne, es kam ihr plötzlich lächerlich vor, einen jungen Mann abzukanzeln, der über dreißig war, obwohl sie an Ludovic ja nie wie an einen Mann gedacht und nie mit ihm wie mit einem Mann gesprochen hatte. Mit wem hatte sie das überhaupt je getan, außer mit Quentin? Quentin würde lachen, wenn er sie hier sähe in ihrem zerknüllten Kleid, wie sie, auf ihren guten Ruf bedacht, mit einem jungen Kerl sprach, der gerade aus der Klapsmühle gekommen war.

Ludovic hatte sein Tweedjackett überm Arm, und wie er da mit zerzausten Haaren und glänzenden Augen vor ihr stand, wunderte sie sich, dass sie seine Schönheit nicht schon früher bemerkt hatte. Denn er ist ein schöner Mann, ein sehr schöner Mann, sagte sie sich kühl. Sie hatte ihn für Billy Boy gehalten, dabei sah sie nun, dass er Fürst Puschkin war.

Dennoch ließ sie ihn am Fußende ihres Bettes Platz nehmen und setzte sich selbst auf die andere Seite. Ludovic streckte seine langen Beine über den Teppich, ihre eigenen zog Fanny unter sich. Was sollte sie ihm sagen, ohne ihn zu verletzen?

»Ich will meine Tochter nicht demütigen, Ludovic«, begann sie. »Sie ist, wie sie ist, das gebe ich zu, aber …«

»Sie ist schlimmer«, sagte Ludovic.

Und er senkte den Blick auf Fannys Beine.

Sie zog sie nervös noch ein Stück höher, fand, dass die Tagesdecke rutschig und hässlich sei, also wirklich hässlich. Ludovic sah sie an und lächelte, doch ohne ihr entgegenzukommen.

»Sie war schon immer so«, sagte er, »selbst als sie neu war. Als ich klein war, hat Tante Marthe sie zu ihrer Hochzeit mit Papas ältestem Bruder André gekauft. André wurde im Jahr 40 getötet, als er mit seinem Bruder Marcel auf dem Rückzug hierher war …«

»Wie grauenvoll!«, sagte Fanny betroffen.

»Und mein Vater hat mit neunzehn Jahren die Leitung des Werks übernommen. Er war es, der dieses scheußliche Gebäude da unten in der Ebene hingesetzt hat. Aber, wie er zu sagen pflegt: ›Wer im Krieg 14–18 fiel, war ein Held, wer 39–40 ums Leben kam, einfach ein Trottel.‹ Na ja, wie er sich eben so ausdrückt … Die beiden Tanten kehrten, mit Geld überhäuft, zu ihren Müttern zurück, aber vorher haben sie hier noch ihre Zeichen hinterlassen. Nach ihnen kam meine Mutter, die ich nicht gekannt habe, der aber alles Dekorative völlig egal war. Und schließlich erschien Sandra auf der Bildfläche, es ging um Fragen ihrer aneinandergrenzenden Grundstücke, um Geld also, zwischen ihr und meinem Vater.«

»Die arme Sandra …«

Fanny hatte ihre Beherrschung wiedergefunden.

»Sie ist hier wohl die Unglücklichste, was?«

»Nein«, sagte Ludovic gelassen und sehr bestimmt. »Vor Kurzem noch war ich hier der Traurigste, aber jetzt bin ich der glücklichste Mensch.«

»Und warum waren Sie so unglücklich?«, fragte sie streng, aber der Unterton schien bei Ludovic nicht anzukommen.

»Niemand, niemand liebte mich oder kümmerte sich um mich.«

»Und könnten Sie mir Ihr kindliches Ungemach vielleicht auch morgen erzählen?«

Ludovic erhob sich mit einem Ruck. Fanny rutschte vom Bett herunter. Er fing sie auf und legte sie wie eine Puppe zurück. Sein offenes weißes Hemd ließ seinen gebräunten Hals sehen, sein glänzendes Haar im Nacken, seinen Oberkörper, und dann sein großer, frischer Mund …

Fannys Gedächtnis war vollkommen durcheinander oder ihr seelisches Gleichgewicht so aus den Fugen, dass sie leichtsinnigerweise den Kopf zu ihm wandte und ihr Gesicht bald bedeckt war von langen, flehenden Küssen, die allerdings auch ihr eigenes Verlangen stillten. Ihre Münder glitten über ihre Körper, gierig und andächtig zugleich, voll Hast und voller Hingabe, undeutlicher Verweigerung und beharrlicher Unterwerfung. All das auf seltsame Weise, in diesem Zimmer, das dunkel und transparent geworden war und in dem sie so heftig zitterten wie das Laub der Platane, der Himmel und die herabstürzenden Sterne.


Als sie aufwachte, mit dem Gefühl, kein Auge zugetan zu haben, wie es sich für richtige Liebesnächte gehört, war er weg. Einen Augenblick lang war sie gekränkt, dass er nicht mehr da war, dass er sie verlassen hatte, ohne ein Wort, dass er es überhaupt »gewagt« hatte, sie zu verlassen. Woran sie, gähnend und sich streckend, erste Besitzansprüche der Liebe erkannte. Zweifellos, so ist es, sagte sie sich immer wieder und versuchte sich über ihre Gefühle klar zu werden, spürte aber vor allem das Wohlbefinden und die Müdigkeit ihres Körpers.

Fannys Sinnlichkeit lag in ihrer Treue. Und kein Morgen hatte bisher an die Morgen nach den Nächten mit Quentin herangereicht, diesmal aber war es zum ersten Mal anders, so viele Jahre danach, dank diesem Bengel, der viel jünger war als sie. Sie versuchte nicht einmal, ihren genauen Altersunterschied herauszufinden, ebenso wenig bedrückte sie die Tatsache, dass er der Gatte ihrer Tochter Marie-Laure war, die sich in ihren Augen diskreditiert hatte, oder dass man ihn für halb verrückt halten konnte. »Ich liebe Sie«, hatte er zu ihr gesagt, weil sie betonte, dass nicht er am Tag des Unfalls am Steuer des Wagens gesessen hatte und zumindest sie sich daran erinnerte. Ein »Ich liebe Sie«, das er seitdem unaufhörlich wiederholte, laut oder flüsternd, vor allem seit jener Nacht. Und was war ein liebender Mann denn anderes als seine rauen Wangen, sein von unhörbaren und doch eindeutigen Worten unterbrochenes Schweigen, diese Hast und diese Angst, die sie beide in gleichem Maße empfunden hatten?

Sie zog sich sehr sorgfältig an, wählte ein Kleid, für sie angefertigt von einem Schneider, der die Frauen nicht liebte, von dem man es in diesem Fall aber hätte meinen können. Dabei widerstrebte es ihr, überhaupt aufzustehen und am Rand einer Badewanne den Geruch des Geliebten, mit dem eigenen vermischt, zurückzulassen. Als sie die Treppe hinunterging, um die Gesellschaft der Cressonnade beim Frühstück anzutreffen, war sie weder erstaunt noch beunruhigt über die Komplimente, mit denen man sie empfing. Sie nahm sie fröhlich, eher wie etwas Selbstverständliches entgegen. Ludovic sandte sie kein einziges freundliches Lächeln: Wie in goldenes, braunes, rostrotes Licht getaucht kam er ihr vor, als er da hinter seinem Stuhl stand, mit müden Augen, leicht geöffnetem Mund, schräg geneigtem Körper, und seine Lider zuckten unter ihrem Blick.


»Was für eine Frau!«, rief der Mann in ihrem Alter, der »kreisende Geier«, der Einzige, den sie hätte verführen können, ohne einen Skandal auszulösen.

»Das ist wohl wahr«, sagte Philippe vorbehaltlos, denn trotz allem liebte er ja die Frauen und hatte durchaus einige gehabt und zum Frühstück wunschlos glücklich gemacht. Wehmütige Erinnerung schnürte ihm für Augenblicke die Kehle zu.

»Ja, sie ist groß in Form«, gab sogar Marie-Laure zu, und trotz ihrer plötzlich aufkeimenden Eifersucht sagte sie es ohne jeden Hintergedanken.

»In der Tat!«, platzte Ludovic mit einer natürlichen Begeisterung heraus, die ihn hätte kompromittieren können, wenn er es nicht so ehrlich gemeint hätte. Sie gehört mir, dachte er. Vor zwei Stunden noch lag sie nackt in meinen Armen und sagte … Vor Dankbarkeit, Glück und Stolz wurden ihm die Augen feucht.

»Nachher lade ich euch zu einem Ausflug zu den Höhlen von Saultes ein«, sagte Henri und fügte auf den fragenden Blick seiner Gäste hinzu: »Es ist Sonntag, ich habe die werkseigene Beechcraft kommen lassen. Ich muss Fanny ja etwas von der Gegend zeigen. Sie hat bisher doch nur Geschäfte gesehen.«

»Ich glaube, Fanny hat das Allerbeste von La Cressonnade gesehen«, erklärte Philippe mit so hintergründigem Lächeln, dass keinem die Seltsamkeit seines Satzes auffiel, nicht einmal der Betroffenen.

Nach einem köstlichen Tee drang keine Androhung mehr zu ihr durch. Von welcher Marke war er? Martin, danach gefragt, wurde fast rot, als er Lipton nannte. In Wirklichkeit und ohne es selbst zu bemerken, hatte Fanny an diesem Morgen die gesamte Tafelrunde zum Erröten gebracht, sie hatte eine spontane, heftige Sehnsucht ausgelöst, wie glückliche oder erfüllte Menschen es manchmal vermögen.


Fanny und Ludovic mieden einander geflissentlich während dieses seltsamen Fluges über die Touraine, den Henri Cresson sich ausgedacht hatte. Eine Spritztour, die er bis dahin nur den reichsten japanischen Industriellen oder den Verschlafensten seiner Geschäftspartner angeboten hatte. Sie brauchten zwei Stunden mit zahlreichen Turbulenzen für eine Exkursion, die mit dem Auto eine halbe Stunde gedauert hätte. Aber das Flugzeug war Henri Cressons Geheimwaffe, selbst wenn der »kreisende Geier« nie gelernt hatte, es selber zu steuern – »dem heiligen Christophorus sei Dank«, wie seine Bekannten und Untergebenen sagten.

Fanny verbrachte auf diese Weise einen herrlichen, ausgelassenen Tag. Die Partie war nach ihrem Geschmack; die Müdigkeit von der Nacht und Ludovics Gegenwart, der hinter ihr saß, hatten einen beruhigenden Einfluss auf sie. Wie viele Frauen ihres Alters sah sie in ihrem Liebhaber einen Beschützer, eine Vorstellung, die mit der folgenden Generation untergegangen ist.

»Oh, wie schön … wie schön das alles ist«, rief ihrerseits Marie-Laure zur allgemeinen Überraschung, außer für Philippe, der schon immer beobachtet hatte, dass betrogene Frauen, selbst wenn ihnen das nicht bewusst ist, gern die kleinen Mädchen spielten. Aber sie hatte auch durchaus recht: Schlösser, Wasserläufe, bewaldete Hügel, ein blassblauer Himmel im Spätsommer, die Touraine entfaltete unter ihnen all ihren Charme, davon konnten selbst Henris technische Kommentare nicht ablenken. Wie schön Frankreich doch ist, dachte Fanny, und wie schön meine Liebe … Das Flugzeug roch nach Heidekraut, wenn es mitunter so tief flog, dass man dessen Duft wahrnehmen konnte.

Einmal, als sie sich an eine ganz bestimmte Situation mit ihm erinnerte, überkam Fanny ein so heftiges Verlangen nach Ludovic, dass sie sich umwandte, jedoch gleich wieder eines anderen besann, ohne ihn auch nur mit den Fingerspitzen berührt zu haben. Diese Verhinderung, diese Unmöglichkeit sollte eine der sinnlichsten Erinnerungen ihres Liebeslebens bleiben. Und kaum war der Augenblick vorüber, sagte sie sich plötzlich: Er ist verrückt, und ich bin pervers – ein Gedanke, der sie bisher nie, nie auch nur gestreift hatte, der aber auf einmal vor ihr stand mit der Klarheit jener falschen Vorstellungen, die man sich in Momenten äußerster Müdigkeit und höchsten Zweifels von sich selber machen kann. Sie sah seine strahlenden Augen auf sie gerichtet. Sie hätte ihn in dieser Sekunde wirklich hassen müssen, damit er es spürte, damit sein Blick sich trübte und erlosch und sie ein realeres Bild von sich selbst und ihm zurückgewänne. Das Bild einer fern von Paris auf Abwege geratenen Frau, die sich in einen großen, durch ein einsames Leben komplexbeladenen Kindskopf verliebt hatte.