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Fanny hatte kaum Zeit, einen Blick auf die albtraumhaften, von einer der verwitweten Schwägerinnen hinterlassenen mittelalterlichen Türmchen und die Pechnasen an der gegenüberliegenden Seite des Hauses zu erhaschen, da erschien Martin schon auf der Vortreppe, öffnete der Besucherin die Beifahrertür und holte den Berg Gepäckstücke aus dem Kofferraum (wobei er Ludovic, zwischen Hüten eingekeilt, seinem Schicksal überließ). Henri Cresson ging um den Wagen herum und reichte Fanny den Arm, um sie ins Haus zu begleiten, während Philippe, der ihnen strahlend, piekfein, geschniegelt und gestriegelt die fünf Stufen entgegeneilte, wobei er sein ein wenig zu weit aus der Tasche ragendes Einstecktuch glatt strich, verblüfft erstmals zwei Männer in La Cressonnade bemerkte, drei mit Martin, welcher, da er nie an die frische Luft kam, unfassbar, aber unheilbar bleich war. Philippe Lebaille war regelrecht bestürzt von Martins Blässe, seinem kreideweißen Teint, der ihm bis dahin nie aufgefallen war und den er als den eines Häftlings identifiziert hätte, so er welche gekannt hätte.

»Fanny, Madame«, sagte Philippe auf der zehnten Stufe, die die Karawane, bestehend aus Henri Cresson, Ludovic und Martin – die beiden Letzteren brachen unter dem Gepäck schier zusammen –, gerade erreicht hatte. »Fanny, darf ich Sie Fanny nennen? Wir sind uns zwei Mal begegnet, ein Mal bei der Hochzeit Ihrer Tochter und das andere bei Ludovic im Krankenhaus.«

»Wie ich sehe, hast du ein selektives Gedächtnis«, knurrte Henri, »die beiden trostlosesten Momente des Jahrzehnts.«

Während er dies sagte, war der Hausherr abrupt stehen geblieben, was den Trupp im Gänsemarsch hinter ihm ins Wanken brachte. Fanny gelang gerade noch ein anmutiger, wenn auch verzweifelter Sprung auf den Treppenabsatz, doch Ludovic und Martin mussten sich ans Geländer klammern, sodass Fannys kostbares Gepäck durch die Luft flog.

»Meinen Kleidern wird schon nichts passieren«, sagte sie zu Henri. »Ist das Schloss Ludwigs II. von Bayern höher als Ihres? Haben Sie mehr als zweihundertsiebzig Stufen?«

Henri verzog keine Miene, sondern deutete nur galant den rechten Flur hinunter.

»Ihre Tochter wohnt dort«, sagte er. »Ludovic wird Sie hinbringen.«

»Ich fände es höflicher, erst Ihre Frau zu begrüßen.«

»Meine Schwester ist gerade sehr erschöpft, und Sie möchten sicher gern Ihre Tochter sehen, nehme ich an«, schaltete Philippe sich ein. »Es ist ein Stückchen weg … also, ich meine das Zimmer Ihrer Tochter und Ludovics.«

»Das macht nichts«, sagte Ludovic ausweichend. »Hauptsache, Fanny fühlt sich zu Hause.«

Lachend schloss er sich dem Grüppchen an, das zu Marie-Laure wollte. Henri Cresson nahm den linken, ebenfalls endlosen Flur. Ludovic ging voran wie ein Schlossgespenst und blieb vor der letzten Biegung des Korridors stehen.


Fanny hatte diese Reise, dieses Haus und den Besuch bei ihrer Tochter in Kauf genommen, um zu erfahren, wie sich deren Beziehung entwickelte, und um all das Gute zu verbreiten, was sie über ihren Schwiegersohn dachte, eine etwas absurde Mission, die ihr überhaupt nicht entsprach, aber immerhin Einsicht in Henris zwanghafte Art und Ludovics Fahrigkeit gewährte. Eine Mission, die sie nur als eine unerwartete Pflicht verstehen konnte. Letztendlich wollten diese beiden niemandem mehr gefallen, während Männer doch die meiste Zeit nach nichts anderem trachteten. Diese bourgeoisen und skurrilen Charaktere hatten etwas Überzogenes an sich, etwas so aus der Zeit, der Epoche und der Moral Gefallenes, dass es ihr ein wenig Angst machte. Es waren Großbürger, deren einer ihre Tochter geheiratet hatte und dessen Familie ihn nun wieder rehabilitieren wollte, nachdem sie ihn erst in seine aktuelle Lage, sprich, ins Unglück gebracht hatte. Schon lange war Fanny niemand mehr so eng mit dem Unglück verbunden erschienen wie dieser Junge; es gab offensichtlich zwischen ihm und diesem Haus nichts als Hader und Schweigen. Vielleicht war es schlimmer als in einem Roman von Mauriac oder anderen, in denen lauter Scheusale aufeinandertreffen, denn es gab hier niemand wirklich Abscheuliches, außer ihrer Tochter vielleicht, doch sie zog es vor, nicht darüber nachzudenken.


Nach einigen Biegungen und einer Entfernung wie beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans, so schien es Fanny, hielten sie vor einer großen, erst kürzlich in einer Weise gestrichenen Tür, die bei den Cressons vermutlich dem Kolorit der Frischvermählten entsprach. Man würde sie für die Kinder, die Enkel und so weiter neu streichen. Niemand wagte zu klopfen. Verärgert über die Untätigkeit seiner Begleiter, hob Henri den Arm und schlug mit der Faust gegen die Tür.

»Marie-Laure«, rief er in einem Ton, der fröhlich klingen sollte, ihm aber irgendwie bedrohlich geriet. »Marie-Laure, Ihre Mutter ist da!«

Er bekam nur ein ungnädiges Schweigen zur Antwort. Fanny, die neben ihm stand, sah, wie kleine Adern an seinem Kinn und seinen Schläfen anschwollen. Er klopfte wieder, und diesmal hatte sein Ton rein gar nichts Einschmeichelndes mehr:

»Marie-Laure! Herrgott noch mal! Sind Sie tot? Ich sage Ihnen doch, Ihre Mutter ist da!«

Er drehte am Knauf, vergebens: Die Tür war abgeschlossen. Da senkte sich wahre Stille über die Anwesenden, jene Sorte von Stille, die man meint, mit dem Messer schneiden zu können und die alle erstarren ließ. Henri wandte seinem Sohn ein wutverzerrtes Gesicht zu.

»Deine Frau schließt sich jetzt also ein, ja? Und wie stellst du es an, abends reinzukommen? Bettelst du vor der Tür?«

Ludovic, aschfahl, blieb seltsam standhaft in seinem Schweigen und seiner Abwesenheit jeglichen erkennbaren Zorns. Fanny trat zwischen sie und rief nun ihrer­seits:

»Liebling … Ich bin es, deine Mutter … Du hast geschlafen, nehme ich an. Ich erwarte dich in einer halben Stunde in meinem Zimmer. So bleibt mir noch Zeit, zu duschen. Bis gleich, mein Liebling.«

Und nach einer kleinen zärtlichen Geste in Richtung Tür, die ebenso vergeblich war wie die vorherige, wandte sie sich entschlossen um, hakte mit einem Arm den noch immer knallroten Henri Cresson unter, mit dem anderen ihren noch immer kreideweißen Schwiegersohn und ging den Weg, den sie gekommen waren, wieder zurück.


»Ich verstehe das nicht …«, murmelte Henri, wobei er Ludovic zornige und herrische Blicke zuwarf.

Philippe, der bei Stimmungsumschwüngen dieser Art sein Einstecktuch tiefer in die Tasche schob, wie um es in Sicherheit zu bringen, folgte ihnen mit leicht eingezogenem Kopf, wodurch er unbewusst die doch sehr eigene Haltung von Groucho Marx annahm.

»Hier ist Ihr Zimmer, liebe Fanny, das für die hochrangigen Gäste. Wenn es Ihnen nicht gefällt, stehen Ihnen drei weitere zur Verfügung. Von heute an haben Sie hier das Kommando, vergessen Sie das nicht.«

»Ich hatte noch nie den geringsten Sinn für Autorität«, erwiderte sie lächelnd, »und dieses Zimmer ist zauberhaft.«


Der Raum war mit einer etwas verblichenen Tapete ausgekleidet, einer Mischung aus Rosen und Flieder, deren Farben nicht mehr zu unterscheiden waren. Hohe Fenster sahen auf die Terrasse hinaus. Ein Platanenzweig streichelte die Scheiben; als Fanny das Fenster öffnete, berührte ein Blatt sanft ihre Wange, wie zur Begrüßung. Sie lächelte dieser Terrasse zu, diesem Blatt, dieser Stille dort draußen, die sie vielleicht zum ersten Mal genoss. Fanny lächelte und wandte sich nicht um, teilte ihre Freude nicht mit jenem Schatten, dem Schatten, der doch immer hinter ihr war.


Denn es gibt so viele Stufen der Trauer. Angefangen bei ihrer alltäglichen Grausamkeit und Banalität, der du erst wie betäubt gegenüberstehst und später wach und all der Gleichgültigkeit der engsten Verwandten wie der entferntesten Bekannten ausgesetzt, in diesem Fall »Diskretion« genannt. Bis hin zu all dem, was dich verstört, ja beinahe verstimmt, dich aber Stück für Stück wieder ins Leben zurückbringt und was nicht zur Trauer gehört: der Ablauf und Wechsel der Tage, die Augenblicke, die jetzt ohne ihn, ohne sie aufeinanderfolgen, ohne euch beide. Und es ist nicht die Gewissheit einer anderen Person, einer anderen Geschichte, eines anderen Glücks, die dich am Leben erhält, sondern vielleicht einfach nur der »standhafte Wille, fortzubestehen«, von dem Éluard spricht und der mit dir zur Welt kommt, zwischen den Beinen deiner Mutter und dich im Dasein hält. In diesem Moment ist es die Trauer um dich selbst, die du ertragen musst, eine Verachtung ohne Erinnerung, nicht mal mehr an die glücklichen Tage. Es ist diese fortwährende, tiefe Verachtung deiner selbst, diese Leidensmaschine, die nachts unter den Laken zum winselnden Tier wird und tags zum verschlossenen Gesicht, das die Tränen zurückhält. Du widerstehst, du kämpfst, und die Melancholie hilft dir, wie eine Fassade und eine Selbstverständlichkeit. Eine Art Ehrfurcht umgibt den Trauerkloß, der man geworden ist, sie lässt dich für andere respektabel, ja manchmal sogar verführerisch werden. Doch wenn dieser andere sich genug für dich interessiert, für deinen Kummer, deine Zurückweisung, wenn ebendiese Zurückweisung ihn nicht zu sehr demütigt, wenn dieser andere weiß, dass ein geschlagenes Herz immer noch ein schlagendes Herz ist, dann kann sich alles wieder in ein Fenster verwandeln, das sich an einem schönen Herbstnachmittag auf eine Terrasse öffnet. Dann ist das erste Blatt auf deiner Wange keine Ohrfeige aus der Vergangenheit, sondern ein unvorstellbares, mit einem Mal unanfechtbares, unbegreifliches Glück, ein Glück, ganz gleich, wie man es nennt.


Während sie ihre vier Blusen, zwei Schals und ausnahmslos perfekt geschnittenen Kleider in die Möbel des antiquierten und charmanten Zimmers räumte – zu dem ein Bad mit einer großen, altmodischen Wanne gehörte –, genoss Fanny jeden Moment dieser Ruhe, die allein vom Knarzen ihrer Schritte auf dem Parkett unterbrochen wurde.


Zehn Minuten später klopfte Marie-Laure an die Tür und trat ein, während Fanny gerade ihre Kleiderbügel auf die Stange hängte und ihr daher den Rücken zuwandte. So sah die Mutter ihre Tochter, die fünf Zentimeter kleiner war als sie, ein Umstand, den Letztere nie ertragen hatte, von Kopf bis Fuß im Spiegel.

Sie trug ein hinreißendes blasslila Leinenkleid und am Hals ein sehr hübsches Schmuckstück aus etwas dunklerem Malachit, der ihre Augenfarbe hervorhob. Ihre geflochtenen Strohsandalen ließen sie eher wie ein junges Mädchen als wie eine Frau wirken. Für einen kurzen Moment hatte Fanny den Eindruck, sie wären zu dritt dort im Spiegel, ein Gefühl, das sie schon seit jeher verfolgte und das einen Mangel an Aufrichtigkeit und Menschlichkeit in jeder eingefahrenen Beziehung offenbaren kann.

Unvermittelt drehte Fanny sich um und betrachtete ihre Tochter mit der Wehmut einer nie gekannten Kindheit. Nach diesen drei Sekunden, die all ihren Begegnungen und Auftritten vorausgingen, schloss Marie-Laure die Tür hinter sich und machte ein paar Schritte auf ihre Mutter zu. Fanny ließ eine Hand auf der Reihe der Kleiderbügel ruhen und küsste ihre Tochter flüchtig auf die Schläfe, ehe sie zurücktrat.

»Mutter, entschuldigen Sie bitte, ich war mit einem Mal so müde … Obwohl ich Sie so gern am Gleis empfangen wollte, bin ich auf mein Bett gesunken … Und dann wurde ich auch noch von der Gestapo geweckt!«

»Dein Schwiegervater ist ein bisschen stürmisch, aber dein Ehemann hat sich tadellos verhalten«, sagte Fanny mit Nachdruck. »Seit wann verriegelst du deine Türen? Noch dazu, wo du hinreißend aussiehst, Liebling.«

»Das ist ein Wunder«, erwiderte Marie-Laure gedehnt. »Wie lange bin ich jetzt hier? Wann wurde Ludovic für geheilt und lebenstauglich erklärt?«

Zur Überraschung ihrer Mutter begann sie zu lachen.

»Stell dir nur vor, nach drei Jahren Untersuchungen und Prognosen gibt es nicht mal ein endgültiges Ergebnis …«

Fanny setzte sich auf das große Bett.

»Was machst du dann hier? Liebst du ihn oder nicht? Sag mir nicht, du opferst dich … Lass dich scheiden, wenn du glaubst, er sei verrückt. Ihr bewohnt dasselbe Zimmer. Was willst du eigentlich?«

»Ich bin keine Frau mehr, Maman. Auch meine Langmut hat ihre Grenzen. Und es gibt Dinge, die ich nicht sagen kann, nicht mal meiner Mutter.«

Vor allem deiner Mutter nicht, dachte Fanny ohne Zögern oder Bedauern, so lange hatte sie Marie-Laure und ihre eigenen mütterlichen Gefühle schon aufgegeben. Sie erhob sich, trat ans Fenster, entfloh so dem Bett, den tapezierten Wänden, der Tür, all den Symbolen eines gemeinsamen Lebens. Dabei hegten Mutter und Tochter durchaus eine gewisse Faszination füreinander: Fanny für Marie-Laures fehlende Herzlichkeit, wie bei jemandem, der anders, der von Geburt an kastriert ist; Marie-Laure für Fannys Herzlichkeit, ihr Einfühlungsvermögen und ihre Güte, lauter Eigenschaften, dachte sie, die man erlernen konnte, wenn man sich Mühe gab, wie Politikwissenschaften, und die, wie bestimmte Studiengänge, sehr beliebt und für eine Karriere vollkommen nutzlos waren, doch sie hatte weder je Zeit dafür noch Lust dazu gehabt.


»Was für eine hübsche Terrasse«, sagte Fanny mechanisch, als sie sich aus dem Fenster lehnte.

Marie-Laure trat vorsichtig zu ihr, atmete die Abendluft ein und den Duft ihrer Mutter, der unvermittelt aus einer ungeliebten Kindheit auftauchte und doch, während er die Gleichgültigkeit gegenüber ihrem ganzen Leben unterstrich, in ihr eine Spur Melancholie hinterließ. Selbst Quentin Crawley war zu sehr Mann und vielleicht zu ängstlich gewesen, um sich in die parfümierten und grausamen Zurückweisungen bestimmter weiblicher Jugendjahre einzumischen. Was wird aus meiner Mutter?, dachte Marie-Laure, mit ihrer Arbeit als heilige Madonna der Mode? Keine Zukunft. Keine Liebschaft! Auch wenn dieses letzte Wort für Marie-Laure nicht mal etwas mit Liebe oder Verführung zu tun hatte.

Was wird aus ihr, in diesem so wenig verwundbaren Alter?, überlegte Fanny ihrerseits und fühlte sich einen Moment lang verantwortlich für diese Frau, die dafür gemacht war, Erfolg zu haben und sich zu bereichern, ohne einen Finger zu rühren.

Eine fröhliche Stimme rief nach ihnen und riss sie aus ihren Gedanken. Es war Ludovic, der auf der Terrasse ungeduldig von einem Fuß auf den andern trat.


Ludovic hatte an diesem Tag keine Verabredung. »Kümmer dich ein bisschen ums Haus«, hatte sein Vater ihm zugeraunt. Henri hatte die Ankunft einer traurigen, verwitweten alten Jungfer gefürchtet, alles andere als eine Personifizierung des »heiteren Paris«, denn er hatte noch die verfluchte Hochzeit im Kopf. Doch das war ohne Hilfe des Gedächtnisses noch des Begehrens gewesen, ein flaches Bild: Ludovic an der Seite einer Witwe, der er die verschiedenen Blickwinkel der Terrasse zeigte, während Marie-Laure hinter ihnen herschlurfte. Seit Fanny nun da war, war alles anders, und er stellte sie sich lachend im Schatten der großen Allee vor, während sein Sohn ihr einen Arm um die Schulter legte. Vielleicht würde er sie in einer Woche so antreffen, ohne jede Spur von Marie-Laure, ein Gedanke, der ihn rasend machte. Fanny Crawley mit seinem Sohn, in seinem Park oder in seinem Salon, das war ein suggestives Bild, wie sie das Verlangen heraufbeschwört und die Eifersucht verstärkt, auch ohne jegliche reale Grundlage.


Henri Cresson schrieb also die Partitur der Hintergrundmusik für den September. Manchmal sind es die Gegenspieler, die bei den Menschen ihrer Umgebung die heftigsten Leidenschaften auslösen und dann unfreiwillig in unbezwingbare Strudel geraten. Henri Cresson, der auf tausenderlei Weise hart, besitzergreifend und unbarmherzig war, hatte nie unter seinen eigenen Gefühlen leiden müssen, vom Kummer über den Tod seiner ersten Frau und die Lücke, die sie hinterlassen hatte, einmal abgesehen. Jetzt plötzlich war er eifersüchtig, ohne es sich einzugestehen und ohne etwas dagegen tun zu können.

Seit Fannys Ankunft fiel selbstverständlich Ludovic die Rolle zu, ihr zu helfen. Schließlich war es die Proklamation seiner geistigen Gesundheit, die dieses Fest rechtfertigte, und seine natürliche Gedankenlosigkeit, der die angekündigten irrsinnigen Ausgaben geschuldet waren: Häppchen und warme Gerichte, mehrere Gänge, Pyramiden aus cremegefüllten Windbeuteln, dazu die geharkten Alleen, der frisch aufpolierte Park und nicht zu vergessen das quasi verzehnfachte (laut Martin diebische und ungeschickte) Aushilfspersonal. All das würde Fannys Verdienst, ihr Preis und letztendlich auch ihre Aufgabe sein. Ludovic musste seiner Schwiegermutter daher die echte Kulisse zeigen, die verschiedenen Salons, wo sie einen Empfang ausrichten sollte, der dazu gedacht war, ein paar reiche Leute zu rehabilitieren, die ihr von vornherein unsympathisch waren. Die Herausforderung war gewaltig, für Ludovic, der dank seiner vollkommenen Unbefangenheit und seines vollkommenen gesellschaftlichen Desinteresses über oder jedenfalls neben diesen Dingen stand, jedoch weniger schwierig als für Fanny, die nicht nur solche »Zusammenkünfte« verabscheute, sondern sich obendrein außerstande sah, in diesen Räumlichkeiten einen auch nur ansatzweise stilvollen Rahmen zu schaffen. Ihre Aufgabe war daher ebenso verrückt wie ihr Beweggrund. Wie um alles in der Welt kam sie dazu, ohne den Mann, den sie liebte, mit einer Tochter, die sie nicht liebte, die wundersame Heilung eines jungen Unbekannten oder so gut wie Unbekannten beweisen zu wollen, den sie dieses Jahr zwar sympathischer, aber nach wie vor seltsam fand? Es hatte in ihrem Leben ein oder zwei leichte, stimmige Phasen gegeben, in denen alles passte, wenigstens in dem Sinne, wie jeder es sich wünschte, erhoffte, erwartete, und die auf dem Gefühl fußten oder den Gefühlen, jedenfalls dem Streben danach, die Paare, Menschen, Liebende, Eltern verbanden. Hier aber gab es nichts. Nur Kurzsichtige, die sich nicht eingestehen konnten, welche Monster sie vortäuschten, nicht mehr zu sein.

Wenn es Menschen gab, die anderen mit Klugheit begegneten, Menschen, die sich zu Mitgefühl verpflichtet und zu Blindheit berechtigt fühlten, so zeigten sie zumindest – ansatzweise – eine Seele in ihrem Dasein. Die Arroganz, Teilnahmslosigkeit und latente Aggressivität, die üblicherweise der Dummheit geschuldet sind, rührten in La Cressonnade vor allem vom absoluten Desinteresse für alles und jeden her. Die Fröhlichkeit, die sie am Bahnhof und auf der Fahrt hierher empfunden hatte, war verpufft. Da war nur noch dieses große, protzige Haus voller Treppen, Pechnasen und gleichgültiger Leute. Fanny hatte Reiche, Snobs, Kunden ihres Modeschöpfers getroffen und manche mehr, manche weniger geschätzt, aber noch nie war sie Menschen begegnet, die ihr so fremd waren. Was hier herrschte, war nicht das Geld, es war weder Ehrgeiz noch Machtgier, nichts von dem, was sie bisher kennengelernt hatte, sondern eine Art bewusste, von einer ganzen Familie ausgeübte Kommunikationsunfähigkeit, die ihr kalte Schauer über den Rücken jagte. Es gab nie, das spürte sie, ein echtes Gespräch zwischen Marie-Laure und ihrer Schwiegermutter, zwischen Frau und Ehemann, zwischen Vater und Sohn. Jeder hütete seinen Besitz, seine Hierarchie, und niemand war wirklich, nicht mal einen Hauch, am anderen interessiert. All das lag in der Luft, zwischen den ländlichen Brisen, die es nur manchmal zu zerstreuen vermochten.