Fanny hatte entschieden, dass am Abend des großen Empfangs schönes Wetter sein würde. Denn allein die Vorstellung, zweihundert wildfremde Leute würden zwischen den marokkanischen Poufs und den marmornen Ausrufezeichen der Salons herumstolpern, löste bei ihr sofort einen Fluchtreflex aus. Da sie aber zu den Menschen gehörte, die gern alles auf eine Karte setzen und dazu auch stehen, dachte sie, wenn es an jenem Abend wirklich in Strömen gießen sollte, würde sie eben mit den bedröppelten Gästen im Innern des Hauses bleiben und zusehen, wie die von ihr geplanten Stoffsegel, die Buffets, die gedeckten Tische auf der Terrasse langsam baden gingen. Dass die Venus von Milo hinter ihnen dann in die gleiche Richtung schauen würde, über die Köpfe der durchnässten Nachzügler hinweg, nun, das war zu verkraften. Wer könnte im Fall eines Unwetters und vor einer solchen Kulisse noch behaupten, Ludovic Cresson sei verrückter als andere? Wie auch immer also das Wetter sich zeigte, der Auftrag wäre erfüllt, für Fanny allerdings ein schwacher Trost, die Katastrophenfilme ebenso langweilten wie die Kapriolen wenn auch noch so berühmter Dekorateure.
»Sie haben selbstverständlich freie Hand«, hatte Henri noch am Abend ihrer Ankunft erklärt. An Martins erstaunter Reaktion wie auch am plötzlich einsetzenden Schweigen der Anwesenden hatte Fanny erkannt, dass so ein Satz im Hause Cresson ziemlich unüblich war, jedenfalls für den Hausherrn, der, um die Eleganz seiner Worte zu unterstreichen, ihr dabei sein weltmännisches Lächeln schenkte, ein Lächeln, das etwas Vulgäres hatte. Auch ohne dieses Lächeln hätte er vulgär sein können, allein durch seine bullige Erscheinung, seine Auffassung von menschlichen Beziehungen wie von seiner eigenen Wichtigkeit. Doch seltsamerweise zeigte sich seine Vulgarität erst, wenn er sie unbewusst zu verbergen suchte.
In der öffentlichen Meinung von Tours, in der sich Ereignisse von La Cressonnade meist echogleich niederschlugen, hatte die »freie Hand« für einiges Aufsehen gesorgt, auf jeden Fall bei den Geschäftsleuten. Das zweite Ereignis (das im Übrigen jeden Zweifel an seiner geistigen Gesundheit ausräumen musste) war die handgeschriebene, auf einer Schulheftseite verfasste Nachricht von Ludovic, in der er Madame Hamel für die kommende Woche zu einem Treffen in ein Chalet im Wald einlud. Zunächst hatte es ihr die Sprache verschlagen, dann war sie geschmeichelt, schließlich wütend. Was bildete der sich ein! Sie hatte ihr Haus, ihre Mädchen! Sie würde sich doch nicht mit dem schwachsinnigen Sohn eines früheren Kunden in einer Hütte im Wald amüsieren! Allein der Gedanke, dass sie über die schönsten Mädchen der Touraine verfügte und dieser kleine Lustmolch ihnen eine Frau vorzog (sie selbst), die die sechzig bereits überschritten hatte! … Aber solche Racine’schen Bedenken wichen am Ende der Neugier.
So saßen denn am Samstagnachmittag um drei Uhr Ludovic und Madame Hamel in jenem Liebespavillon einander gegenüber, er in Cordsamt, sie in einem schwarzen Kostüm mit Gipüre-Spitze und Kordelschnürungen, eine praktisch uneinnehmbare Festung. Am Ende eines Gesprächs, das in seiner Gänze kaum wiedergegeben werden kann, stellte sich heraus, dass Ludovic in reinster Absicht gekommen war, aber dass er auch wusste, welchen Dank er der Dame des Hauses schuldete: Durch ihre Vermittlung habe er die Freuden der Liebe wiederentdeckt, was ihn aus einer langen Melancholie erlöst habe. Mit Worten der Entschuldigung für die Botenrolle, die er ihr übertrug, übergab er Madame Hamel einen Umschlag mit einer mehr als angemessenen Summe, die, was sie nicht wissen konnte, aus dem Verkauf von vier seiner Uhren stammte, darunter seiner goldenen Kommunionsuhr. Dann brachte er sie zu ihrem Taxi zurück, sie drückte ihn an ihr Herz, mit feuchten Augen.
Seltsamerweise erzählte sie niemandem von dieser Begegnung, die sie im Vorfeld gleichwohl ausgiebig kommentiert hatte, und gab so Anlass zu den zärtlichsten Vermutungen. Sie pflegte danach nur hin und wieder zu erklären: »Ludovic mag verrückt sein, aber er ist ein Gentleman.« Ludovic seinerseits, der sich ein wenig wie ein Casanova fühlte, fuhr beschwingt nach La Cressonnade zurück. Dort erwartete ihn keine schweigende, kaltherzige Familie und keine feindselige Gemahlin, sondern Fanny, diese schöne und kluge Frau, die mit ihm wie mit einem Mann sprach.