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Als Ludovic um halb fünf an jenem Samstag von seiner Verabredung mit Madame Hamel im Waldpavillon zurückkehrte, hielt er auf dem Vorplatz inne. Henris Wagen stand nicht mehr da. Eine Stille und eine Einsamkeit lagen über diesem Nachmittag und über dem Haus, dass er selbst für einen Moment erstarrte. Ein paar musikalische Klänge ließen ihn weiterlaufen. Sie kamen aus dem ehemaligen Büro neben dem Salon und aus einem alten Bernstein, der einsam in diesem Kabinett stand, das offiziell den Rauchern, den Künstlern und geistvollen Gesprächen aller Art vorbehalten war, das heißt, es war seit zwanzig Jahren leer und verlassen. Eigentlich seit seiner Geburt, denn er hatte den Flügel nie geöffnet gesehen noch jemals einen einzigen Ton aus ihm vernommen. Das amüsierte ihn, bis plötzlich ein Motiv, eine ganze melodische Phrase erklang und ihm das Herz ergriff. Endlich einmal, dachte er. Er kam, seltsamerweise atemlos, am Haus an, vor dem Fenster, aus dem dieser Honig und dieses Gift flossen, und sah Fannys Profil, entrückt, ja unerreichbar, so schien es ihm für einen Augenblick. Und als sie das Thema wieder aufnahm, wieder und wieder, überkam ihn ein Gefühl tiefer Verzweiflung: Er hatte ja nichts gekannt, nichts gehabt, er war immer beraubt, betrogen worden um alles, um alles, was in dieser Musik steckte, was vermutlich in der Luft ringsum schwebte, was auch durch Paris schwang, wenn er dort nichts anderes als seine Nicht-Existenz mit sich herumschleppte, er, der nie verstanden hatte, zu sehen oder zu besitzen. Er lehnte sich kurz mit geschlossenen Augen an die Hauswand und musste die Tränen zurückhalten. Tränen, wie unpassend bei einem Erwachsenen, dachte er.

Während er sich mit dem Ärmel über das Gesicht wischte, fragte er sich zum ersten Mal seit Langem, was ihm, Ludovic, da geschah. Ludovic Cresson hatte diese endlosen Monate, in denen man alle möglichen Medikamente an ihm ausprobierte, heil überstanden, weil er sich nicht im Geringsten für sich interessierte, weil er weder Achtung noch im Übrigen Verachtung sich selbst gegenüber empfand. Ein Mensch ohne alle Pflichten, ausgenommen jene zweifelhaften sentimentalen Verpflichtungen, die er sich mitunter ausdachte, glaubte er auch keinerlei Recht zu haben, da er nie ein anderes gehabt hatte, als großmütig und mit lockerer Hand das Geld seines Vaters auszugeben. Er war ein sorgloser Mann von gleichbleibendem Naturell, ohne irgendeine Ahnung, was Glück bedeutete, der aus seinem gewohnten, leichten Leben herausgerissen worden war, ein verwirrter Mann, der sich nach Jahren der Verzweiflung, die über ihn hinweggegangen waren, mit seiner Einsamkeit abgefunden hatte. Da er seit der Kindheit auch niemals Zärtlichkeit erfahren hatte, hatte er sich schon behindert gefühlt, lange bevor er es offiziell wurde.


Die Musik schwieg, das Fenster ging auf.

»Ludovic? Was machen Sie da? Ich dachte, Sie wären … ich weiß nicht … beim Tennisspielen«, stammelte Fanny.

Sie hatte, über Philippe natürlich, von den nachmittäglichen Eskapaden des Jungen gehört, seiner speziellen Art, Druck abzulassen. Sie hatte nur zerstreut und sogar ein wenig widerstrebend zugehört. Aber den jungen Mann da völlig aufgelöst vor sich zu sehen, eher aus einer Hölle kommend als von einem lustvollen Vergnügen, machte sie dann doch stutzig.

»Sie sind ja ganz blass«, sagte sie. »Kommen Sie doch rein, gleich durchs Fenster.«

Was er auch tat, allerdings so langsam, dass sie ihn regelrecht auf die dreisitzige Klavierbank zog, bevor sie sich selbst wieder setzte. Neugierig betrachtete sie ihn – Ludovics Gleichmut schien ihr unveränderlich, nur seine leicht gebräunte Haut war plötzlich fast durchsichtig geworden und sein zerstreuter Blick heute irgendwie glühend –, während ihre rechte Hand über die Tasten glitt und hin und wieder das melodische Thema noch einmal anstimmte.

»Aber was haben Sie denn?«

»Ich habe dieses Klavier seit meiner Kindheit nie geöffnet gesehen …«, sagte er.

Und eine vage Handbewegung deutete an, wie verzaubert er war.

»Es wurde nie geöffnet? Unglaublich! Es ist ein guter Bernstein, lange nicht mehr gespielt, aber der Klang ist ausgezeichnet. Ich hatte Martin gebeten, einen Klavierstimmer kommen zu lassen. Der ist heute früh da gewesen, hat sich aber sehr schweigsam gezeigt. Dabei sind die Wände hier so dick. Mein Gott, wie hässlich das alles ist«, fügte sie unwillkürlich hinzu, obwohl sie es sich bisher verboten hatte, auch nur die geringste Bemerkung über die Ausstattung des Hauses fallen zu lassen.

»Was ist das? Diese Melodie geht einem sofort zu Herzen.« (Er wurde rot.) »Ich habe von Musik keine Ahnung, wissen Sie, wirklich nicht die leiseste Ahnung. In einer der Kliniken habe ich mir ein tolles Kofferradio kaufen können, mit kleinen Kopfhörern, damit ich meine Ruhe hatte. Wahnsinn, was ich da alles hören konnte«, erzählte er, ohne den geringsten Unmut darüber zu zeigen, dass die Musik aus dem Radio ihm zum Beispiel aufgezwungen worden war.

Er hätte ja auch sagen können: »Ich habe mich schrecklich gelangweilt, als mich diese Scheißärzte, weil ich sie nach ihrer Diagnose fragte, in die geschlossene Abteilung sperrten und dort beließen, mit der Begründung, ich sei unheilbar schwachsinnig und folglich eine permanente Gefahr. Und da war niemand, der mich verteidigt oder beschützt oder da rausgeholt hätte: weder mein eigener Vater noch meine Frau. Man hat mir alles genommen, nicht zuletzt mein Selbstbewusstsein. Seitdem werde ich ständig gedemütigt. Und ich muss zu Nutten gehen, um meiner Einsamkeit hin und wieder zu entkommen.«

Fanny wandte den Blick ab und nahm ihr Geklimper wieder auf.

»Es ist Schumann«, erklärte sie mit unsicherer Stimme. »Ein Quartett, glaube ich. Sehr, sehr schön, das ist wahr. Und es greift einem ans Herz, da haben Sie recht. Aber ich kann nicht spielen, ich kann es nicht wirklich gut, verstehen Sie … Es gibt Menschen, die ich sehr liebe …«

Sie saßen zwischen Fenster und Klavier. Eine launische, ironische Sonne strich über Ludovics glänzende Haare und die geweiteten Augen von Fanny, die sich an ihre rechte Hand klammerte und an diese köstliche und zugleich so schmerzliche Süße der Schumann’schen Komposition.

»Ich höre diese Musik hier und heute zum ersten Mal«, sagte Ludovic plötzlich. »Was nicht erstaunlich ist, denn ich entdecke gerade auch zum ersten Mal, dass ich jemanden lieben kann … Sie sind es, die ich liebe«, erklärte er fest entschlossen. »Ich will ab jetzt nicht mehr ohne Sie leben.«

»Aber, aber … das meinen Sie nicht im Ernst …«, stammelte Fanny und lachte krampfhaft. Bei dem Versuch, ein wenig von ihm abzurücken, warf sie den Kopf in den Nacken, woraufhin Ludovic ihr Gesicht mit seinem Mund suchte. Mit beiden Händen auf die Bank gestützt, berührte er sie nur mit seinen Lippen, die über ihre Wange, ihre Stirn, ihren Hals glitten, ehrfürchtig, aber auch unwiderstehlich, mit einer leidenschaftlichen Sanftheit, die sie aufstöhnen ließ. Und immer wieder dieses »Ich liebe Sie, ich liebe Sie«, mit einer Stimme, die von Mal zu Mal selbstsicherer wurde. Nichts erlaubte Fanny, ihn zurückzustoßen, er hielt sie nicht fest, berührte sie nicht einmal, nur ihr Gesicht, es war die natürlichste Sache der Welt, sie empfand eine verzauberte Ruhe und spürte das unruhige Pochen ihres Herzens.


Sie merkten nicht, wie es Abend wurde. Ludovic sagte irgendwelche leidenschaftlichen Dinge, und die Ergriffenheit, die Dankbarkeit, ja selbst das Besitzverlangen in seinen Worten mehrten in Fannys Augen seinen Reiz, es sprachen Männlichkeit und Willenskraft daraus; sie ließ sich mitreißen von der Faszination, die Liebe und Lust hervorbringen, wenn sie sich zufällig einmal begegnen.

Die Situation war so irrwitzig für Fanny und erschien ihr andererseits so natürlich, dass sie lachen musste und Ludovic ihr Lachen gleichzeitig zu erklären versuchte, woraufhin er zunächst erstaunt, dann aber schnell wieder gewonnen und erobert war, was vermutlich bei jeder Reaktion, die sie gezeigt hätte, der Fall gewesen wäre. Neben ihm auf der Seite liegend, sah sie nun, wie groß dieser Mann war, wie zart seine Haut, wie breit seine Schultern, sie spürte seine Kraft und auch sein Selbstbewusstsein. Sie dachte weder an sein Alter noch an ihres, sah darin keinesfalls einen Hinderungsgrund, es war eine Tatsache ohne Bedeutung, wie etwa ihre unterschiedlichen Haarfarben. Jedes Detail ihres Körpers, selbst ihre kleinen Schönheitsfehler entzückten ihn wie eine Entdeckung oder ein Geschenk. Und dieser Blick, der so offenkundig, so unverschämt auf ihr ruhte, bereitete ihr kein Unbehagen, sie hatte weder Missbilligung noch schüchterne Zurückhaltung zu befürchten.

Auch die Tür schien ihr nichts anhaben zu können, die in fünf Meter Entfernung zu den Salons und damit zum wahrscheinlichen Skandal führte.


Bei Tisch saßen sie mit friedvollen, ein wenig wässrigen Mienen und absolvierten das Abendessen so gelassen und freundlich, dass Philippe sofort alarmiert war. Wenn er auch von der Liebe nicht viel verstand, so erkannte er doch die Zeichen der Lust.

Henri Cresson trug einen Verband an der rechten Hand, die er sich ständig an sämtlichen Pfefferstreuern stieß, worauf er halblaut fluchte, denn der Anstand verbot ihm gewisse Ausdrücke in Gegenwart dreier Damen: der Eingeladenen, seiner Schwiegertochter und der gottesfürchtigen Sandra.

»Ein Arbeitsunfall wegen dieses Trottels von Importeur aus Tokio, der unbedingt unsere neue Aushülsmaschine sehen wollte, ein technologisches Wunder, das uns immerhin zweihunderttausend Dollar gekostet hat!«, sagte er und schwenkte bedrohlich ein Messer in Richtung Philippe und Ludovic, die die Augen aufrissen. »Während ich ihm diese … verdammte Maschine zeigte, bin ich ein bisschen zu nah an die Klinge geraten … na ja, egal … jedenfalls hat sie mein Handgelenk gestreift.«

Und er streckte seinen Verband über den Tisch.

»Wie grauenhaft!«, sagte Fanny. »Das hätte auch schlimmer ausgehen können, nicht wahr?«

»Oh, ja«, meinte Henri gerührt und entblößte seine Zähne zum Zeichen seines Schmerzes.

»Sie sollten auf sich aufpassen, Vater«, meinte Marie-Laure, ebenso gleichgültig wie Sandra. »Aber was hat dieser Japaner denn in der tiefsten Touraine verloren?«

»Stimmt«, sagte Fanny, »so weit von Tokio entfernt. Sie hätten ihn zum Abendessen einladen sollen.«

»Es waren sieben Vertreter der IAOPU! Das sind die größten Importeure von Saatgut in Japan und ganz Asien.«

»Sieben!«, rief Ludovic, auf einmal hellwach. »Alle Achtung. Es scheint, zwischen diesen sieben Herren und dem leidigen Fest, das uns bevorsteht, werden wir hier noch richtig mondän!«

Und er brach in ein so entspanntes Lachen aus, dass es den Tischgästen die Sprache verschlug. Henri fasste sich als Erster und fand zu seiner schlechten Laune zurück, umso mehr, als auch Fanny lachte.

»Ich weise dich darauf hin, mein Junge, dass wir dieses ›leidige‹ Fest für dich veranstalten. Um unserem Bekanntenkreis zu beweisen, dass du nicht total bekloppt aus deinen Krankenhäusern zurückgekehrt bist! Obwohl ich mir da auch nicht so ganz sicher bin.«

»Darüber lässt sich streiten«, erwiderte Ludovic mit gleichbleibender Heiterkeit.

»Und ich weise dich außerdem darauf hin, dass ich, während du mit den Krankenschwestern geflirtet hast, gearbeitet habe, jawohl!«

Es gab ein längeres Schweigen, man hielt die Augen gesenkt, worauf Henri, ein wenig verlegen, in wehleidigem Ton fortfuhr:

»Ich bin ja hier übrigens der Einzige, der arbeitet. Und Sie natürlich, teure Freundin«, wobei er Fannys Hand ergriff und sie küsste.

Ludovics Lachen wurde geradezu hemmungslos.

»Ach, wissen Sie, Vater, bei den Krankenschwestern hatte ich kein Glück. So gesunde, kräftige, energische Frauen«, fügte er hinzu und sah zu Fanny hinüber mit einem wahren Pennälerlachen, einem frechen, leichtsinnigen Lachen, das sein Publikum suchte.

»Aber du hast es doch inzwischen nachgeholt, oder?«, sagte daraufhin Marie-Laure. »Mit den jungen Mitarbeiterinnen von Madame Hamel? Zumindest nach dem zu schließen, was man mir zugetragen hat.«

Sie zischt wirklich wie eine kleine Schlange, dachte Fanny, der sich der Kopf drehte. Sie stand auf und warf wütend in die Runde:

»Ich finde dieses Gespräch unerträglich. Jedenfalls will ich es nicht mehr hören. Sie werden mich entschuldigen …«

Und damit verließ sie den Raum.

Philippe erhob sich höflich, Ludovic hörte auf zu lachen, und Henri Cresson war etwas verwirrt. Diese Momente seltsamen Einverständnisses zwischen Fanny und Ludovic, diese Art Komplizenschaft, dann Fannys plötzliche gereizte Reaktion – Philippes Verdacht verstärkte sich. Aber vielleicht ahnte auch Marie-Laure etwas, denn sie stand gleichfalls auf und folgte ihrer Mutter, das erste Mal, dass man sie ein Gefühl von Familiensolidarität bekunden sah.

Die drei Männer blieben allein. Henri murmelte ein paar unverständliche Sätze, vermutlich Entschuldigungen. Dann stand er auf, nuschelte ein »Gute Nacht«, das eher an ein grimmiges »Ab ins Bett!« erinnerte, und die beiden Männer saßen einander nun allein gegenüber, Ludovic starrte auf den Boden, und Philippe starrte ihn an.

»Was meinen Sie, wird es morgen schön werden?«, fragte er. »Und am Abend des großen Empfangs, wird da wohl schönes Wetter sein?«

»Ich habe keine Ahnung. Niemand im Übrigen.«

»Ihre bezaubernde Schwiegermutter jedenfalls scheint fest damit zu rechnen. Sie ist ja wirklich optimistisch. Und so liebenswürdig für ihr Alter …«

»Ich weiß nicht, wie alt sie ist«, erwiderte Ludovic und musste unwillkürlich wieder lächeln, was seinen Stiefonkel leicht verstimmte.

Philippe selbst hatte überhaupt keine Beziehung zu Fanny, und obwohl sie ausgesucht höflich zu ihm war, sah er sehr wohl, dass sie ihn wie ein Foto betrachtete, wie eine für immer in einer Pose erstarrte Person, und als solche fühlte er sich in manchen Augenblicken ja selbst.