Die Gespräche bei Tisch schleppten sich an diesem Abend dahin. Henri Cresson fragte sich, warum die Touristen absolut immer die gleichen Dinge aufsuchen wollten und es offenbar speziell auf Notre-Dame abgesehen hatten. Ihm erschien die Kathedrale wie ein Klotz, langweilig und überladen.
»Und dann«, fügte er hinzu, »diese scheußlichen Fratzen, die überall angebracht sind … Wie heißen die gleich, diese grauenvollen Dinger draußen an der Fassade …? Einfach scheußlich. Wie heißen die denn …?«
»Gargouilles, Wasserspeier«, sagte Ludovic.
»Woher weißt du so was?«, staunte Henri, als habe sein Sohn ein schreckliches Atomgeheimnis verraten.
»Stimmt«, wunderte sich auch Marie-Laure, »woher diese Gelehrsamkeit? Die Gargouilles, mit denen du dich früher beschäftigt hast, waren, soweit ich weiß, nicht aus Stein …«
»Außer einer, und die habe ich geheiratet.«
Auf Ludovics gelassene Erwiderung folgte ein endloses Schweigen. Henri wurde rot vor Befriedigung und wollte gerade seine sicher deplazierte, definitive Meinung dazu äußern, als das Geräusch schwerer, langsamer Schritte über ihren Köpfen zu hören war. Mit großen Augen, die Gabel in er Luft, sahen die am Tisch Versammelten starr geradeaus. Über ihnen lag das Zimmer von Sandra, die seit einiger Zeit ans Bett gefesselt war, mit striktem Verbot aufzustehen, und von einer Nachtschwester versorgt wurde, die so schmächtig wie die Tagesschwester korpulent war.
»Das ist Hamlet, der den Schritt seines Vaters hört, erster Akt«, kommentierte Ludovic, nun eindeutig in Fahrt.
»Um Himmels willen«, schrie Henri, er war aufgesprungen. »Sie muss sich auf der Stelle wieder hinlegen. Dr. Murat … Marat … keine Ahnung, hat es mir gestern erst wieder eingeschärft. Philippe, gehen Sie rauf und sorgen Sie dafür, dass sie sich wieder hinlegt, ich komme sofort. Los, los, junger Mann, bewegen Sie sich!«
Der Schwager eilte zur Treppe, allerdings eher aus Gehorsam denn in Sorge.
Allmählich schien Marie-Laure sich von Ludovics Bemerkung zu erholen.
»Was fällt ihr bloß ein?«, fragte Henri, in Gedanken noch bei seiner Frau. Er erhob sich und ging langsam auf die Treppe zu, gefolgt von der aufgeregten Fanny. Da rief Marie-Laure:
»Wissen Sie, Vater, dass Ihre Frau schon seit acht Tagen in ihrem Zimmer zugange ist. Sie bereitet für das Fest eine Überraschung für Sie vor.«
»Das kann nicht wahr sein!« (Henris Bestürzung war echt.) »Sie kann nicht … das darf sie nicht! Selbst dieser Dr. Dings vom Hôtel-Dieu hat mir gesagt …«
»Das ist ihr egal, Vater.«
»Aber sie sieht schon aus wie … Sie hat einen Teint wie eine überreife Tomate«, brüllte Henri, »wie eine rohe Lammkeule … Soll sie uns beim Nachtisch wegkippen, oder was? … O nein, o nein, o nein! Und was ist mit Fanny? Fanny empfängt doch die Gäste, nicht wahr? Ich habe allen meinen Freunden sagen lassen, dass endlich mal eine hübsche Frau die Soiree in La Cressonnade eröffnet!« Und brummelnd schickte er rasch hinterher: »Sandra hat gewiss andere Qualitäten …«
Entrüstet reagierte Fanny:
»Aber so spricht man nicht von seiner Frau! Erstens gebe ich mehr als gern mein Zepter an sie zurück, und außerdem, die Worte, die Sie gebrauchen …«
»Aber ich habe es überhaupt nicht böse gemeint«, entschuldigte sich Henri. »Und dann, Sie wissen ja, wir Männer …« (Und hier lächelte er ein kleines Haifischlächeln, das ihm gar nicht stand.) »Es ist nur so ein Ausdruck«, rief er mit seiner gewohnten Unaufrichtigkeit. »Sagen Sie mir nicht, Sie haben noch nie einen Mann in Zusammenhang mit seiner Frau von einer rohen oder gebratenen Lammkeule reden hören! Vielleicht zu Unrecht, mag sein, aber sicher ohne alle Bosheit …«
»Nein, habe ich nicht«, erwiderte sie bestimmt. »Gebraten oder roh, ich habe noch niemals einen Mann seine Frau mit einer Lammkeule vergleichen hören.«
Ein nervöses Lachen packte sie an der Kehle, als sie sich reden hörte, und mit stolzer Miene verließ sie, so schnell es ging, den Raum.
»Niemals«, sagte sie auf der Treppe noch einmal, »niemals!«
Oben angekommen, verfiel sie sogar in einen leichten Trab, um zu ihrem Zimmer zu gelangen.
Marie-Laure, Ludovic und Henri blieben zurück, das Ohr zur Decke gespannt, mit leerem Blick.
»Martin«, fragte Henri, als wären die beiden anderen Anwesenden taub, »Sie hören doch nichts mehr, oder?«
»Nein, Monsieur«, sagte der Diener und trug die Platte mit dem Käse auf, die Henri Cresson angewidert von sich schob.
»Aber Sie haben doch vorhin auch diese Schritte gehört?«
»Nein, Monsieur«, antwortete Martin ebenso gleichgültig.
Beide Männer sahen sich mit eisiger Antipathie in die Augen. Marie-Laure (die Käse im Übrigen hasste) hob aus Trotz die Hand, aber nach einem Blick zu ihrem Schwiegervater ließ sie sie schnell wieder auf das Tischtuch sinken.
»Jedenfalls«, meinte Henri, »hat Philippe einen guten Einfluss auf seine Schwester: Sie hat sich wieder hingelegt.«
»Vielleicht hat er auch ein bisschen nachgeholfen?«, schlug Ludovic vor.
Marie-Laure sandte ihm ein amüsiertes Lächeln, zum ersten Mal, seit er wieder zu Hause war, aber er erwiderte es nicht. Er beobachtete mit Interesse seinen Vater: Henri schwankte sichtlich zwischen seiner Verantwortung für Sandra und der rasenden Lust, ihr zu entrinnen. Einem plötzlichen Impuls folgend, stürzte er zur Garderobe. Ludovic und seine Frau blieben für einen Augenblick allein miteinander, aber standen dann auch rasch auf. Philippe kam nicht wieder – und so konnte er auch nicht die Komplimente der Familie für sein diplomatisches Eingreifen entgegennehmen.
Um elf Uhr abends saß Madame Hamel in ihrem kleinen, überall mit Zierdeckchen ausgestatteten Salon und hörte sich die Klagen von zweien ihrer Schäfchen an. Die eine war bei einem sexuell perversen Kunden gewesen, dem sie nur durch Flucht entkommen konnte. »Niemals mit Touristen oder Unbekannten«, hatte ihr Madame Hamel gleichwohl immer wieder eingeschärft, und jetzt reichte sie ihr eine Elastikbinde für ihren Knöchel, den sie sich beim Rennen auf dem Bürgersteig verstaucht hatte. Die andere, auch noch etwas aufgelöst von dem Schreck, der ihr in die Glieder gefahren war, sah vertrauensvoll auf Sylvia Hamel, die an ihrem kleinen Schreibtisch saß und in sehr bestimmten Worten auf einen Brief antwortete, den ihre Pensionärin heute Morgen von einem alten Freund erhalten hatte. Der hatte die Frechheit besessen, die Einkünfte von zwei Monaten von ihr zu verlangen. Das Gesicht von Madame Hamel, während sie die eindrucksvolle Liste ihrer Gönner und Beschützer zitierte, hätte so manchen verspäteten Zuhälter den Schwanz einziehen lassen.
In diese hoch gespannte Atmosphäre platzte Henri Cresson, aber sie war ihm durchaus recht. Nackte Beine, Champagner und schmachtende Blicke hätten seinen strapazierten Nerven in diesem Moment den Rest gegeben. Er bat Madame Hamel, ihm jetzt, auf der Stelle, ein wenig von ihrer Zeit zu schenken und ein paar Ratschläge zu erteilen, denn er hatte die Diskretion und den gesunden Menschenverstand seiner Gesprächspartnerin erst unlängst wieder zu schätzen gelernt. Außerdem, so fügte er hinzu, wünsche er schon seit geraumer Zeit, dass die Orgel von Saint-Eustache (die zu Madame Hamels wohltätigen Werken gehörte) erneuert würde, was allzu geizige Spenden bisher verhindert hatten. An diesem Punkt unterbrach Madame Hamel ihre streitbare Prosa, faltete den Brief zusammen, schickte die unglücklichen jungen Damen ins Schlafzimmer und schloss sorgfältig die Tür zum Flur.
Henri Cresson, von Zierdeckchen umzingelt, erschien wie ein heldenhafter Stier, der leichtsinnigerweise schon dekoriert und in die Freiheit entlassen war, bevor er überhaupt in die Arena musste. Er trank zwei Cognacs nacheinander, dann sagte er zu seiner unschätzbaren alten Freundin:
»Also. Sie wissen ja sicher, dass Sandra, die neulich wieder eine ihrer schweren Krisen hatte, auf Weisung der Ärzte seit Kurzem ans Bett gefesselt ist. Darum wird meine Schwägerin … also, eine Verwandte … genauer, die Mutter meiner Schwiegertochter so freundlich sein, mit meinem Sohn und mir unsere Gäste zu empfangen. Und Fanny Crawley ist eine zauberhafte Frau.«
»In der Tat«, sagte Madame Hamel. »Ich habe sie neulich bei den ›Trois Dauphins‹ gesehen. Sie kaufte Strohstühle für Ihr großes Fest, und sie machte wirklich einen sehr liebenswerten, eleganten Eindruck auf mich, eben eine Pariserin. Und sie sieht so jung aus … Wie alt ist sie überhaupt?«
»Keine Ahnung …«, überlegte Henri zum ersten Mal. »In meinen Augen ist sie eine junge Frau, schön, liebenswürdig, fröhlich und verführerisch. Sehr, sehr, sehr verführerisch …«
»Gewiss …«, bestätigte Madame Hamel, die sich allmählich ein wenig wunderte.
»Sie arbeitet in Paris bei einem angesehenen Couturier, dessen Namen ich vergessen habe. Eine anspruchsvolle Arbeit, versteht sich, die ihr gleichwohl nur ein bescheidenes Einkommen sichert.«
Er hielt inne, dann fuhr er fort:
»Kurzum, ich habe die Absicht, sie zu heiraten.«
Sylvia Hamel, die an diesem Abend bereits zwei verschreckte Mädchen erlebt hatte, die sich zu ihr geflüchtet hatten, sah nun den wichtigsten Industriellen der Stadt, den Arbeitgeber von Hunderten von Leuten und damit für sie von Hunderten Klienten, vor ihren Augen den Kopf verlieren. War er betrunken? Sie erhob sich aus ihrem Sessel.
»Monsieur Cresson«, rief sie mit ihrer tiefen Stimme, »sind Sie nicht schon verheiratet?«
»Schon viel zu lange!«, Henri Cresson wurde laut, er war ebenfalls aufgestanden. »Meine Frau ist ein Drachen, das wissen Sie nur zu gut. Die ganze Stadt weiß es. Schließlich gibt es so was wie Scheidung, verdammt!«
Er setzte sich wieder. Madame Hamel goss sich einen Cognac ein.
»Weiß sie davon?«
Sie meinte Sandra, aber Henri hatte keine Prioritäten:
»Nein … Fanny weiß es nicht, auch Sandra nicht, niemand. Ich wollte mich erst mit Ihnen beraten.«
Madame Hamel hatte den ersten Schock überwunden, sie schien sich zu fassen.
»Zunächst einmal, ich fühle mich sehr geschmeichelt … Dass ich die Erste bin, wirklich, welche Ehre. Also, wenn ich richtig verstehe, Sie haben konkret noch nichts unternommen?«
»Es soll in den kommenden Tagen geschehen«, sagte Henri.
»Aber hat Madame … also die Mutter Ihrer Schwiegertochter schon Ja gesagt?«
»Noch nicht, ich habe ihr noch nichts gesagt, aber solche Dinge, wissen Sie, die spürt man …«
Und er nahm die Miene eines Psychologen an, der Madame Hamel allerdings nur halb überzeugte.
»Ich hatte mir gedacht, ich verkünde es am Abend des Festes vor allen Gästen, außer Sandra natürlich – denn die wird auf ihrem Zimmer sein … Etwa so: Zwei schöne Nachrichten zum Dessert: Mein Sohn ist nicht verrückt, und ich heirate eine wunderbare Frau …«
Er schien wirklich begeistert von seiner Idee.
»Mein Gott«, sagte Madame Hamel nur.
Und sie dachte: Wenn hier einer verrückt ist, dann er!
»Und Ludovic, der keine Mutter gehabt hat, der arme Kleine, empfindet große Zuneigung für sie.«
Madame Hamel, im Gedanken an die einhellig positiven und recht detaillierten Urteile ihrer Pensionärinnen über Ludovics glühende Zuneigungsbekundungen, im Gedanken weiterhin an den Charme des Letzteren, versank noch ein bisschen tiefer in ihrem Sessel, kniff die Augen zusammen in einer Pose angestrengten Nachdenkens, sah aber in ihrem Geiste, der mit solchen Extravaganzen wenig Übung hatte, nur inzestuöse Duelle, blutige Morde, und so weiter.
»Wenn ich Sie wäre, Monsieur Cresson, würde ich allerdings bis ein paar Tage nach dem Fest warten, bevor ich eine Entscheidung treffe. Madame Cresson, also Sandra, sollte nicht die Letzte sein, die es erfährt.«
»Es heißt ja, die Gelackmeierten erfahren es immer zuletzt. Oh, Pardon … Der einzige kleine Fehler, den Fanny mit vorwirft: mein loses Mundwerk.«
Und er sah so zufrieden mit sich aus, dass sie nur hinzufügen konnte:
»Das ist natürlich wirklich nur ein Detail. Aber hat sie selbst nicht in Paris bereits eine Beziehung?«
»Darum kümmere ich mich schon«, sagte Henri, nun wieder mit seinem Geierblick.
Madame Hamel und er hatten praktisch die ganze Flasche Cognac geleert, sie toasteten einander zu und tauschten noch ein paar Glückwünsche aus, als Madame schließlich doch bemerkte:
»Glauben Sie allerdings nicht, dass es besser wäre, Sie heiraten Ihre Traumfrau nicht, sondern sichern ihr ein herrliches, sorgloses Leben in Paris und vermeiden ein Drama, das Geschrei Ihrer Gemahlin und das Gerede der Leute …?«
»Fanny ist kein Flittchen, das sich aushalten lässt, Madame Hamel! Sie ist eine Dame, die man zunächst heiratet.«
»Wenn Sie vorher vielleicht erst mal sechs Monate gemeinsam verbringen würden, um zu sehen, ob Sie zueinander passen … Außerdem, das wissen Sie ja, zwischen einer Scheidung und einer erneuten Heirat müssen dreihundert Tage liegen …«
Henri war unerbittlich.
»Wir werden in Tahiti heiraten, oder in Andorra oder in Luxemburg, der Bürgermeister ist ein Freund von mir …«
»Lebt sie denn gern auf dem Land?«, fragte Madame Hamel, die bereits leicht schwankte (der Cognac oder der Psychoschock).
Henri zögerte:
»Sie hat mir gestanden, sie fände es schön, eine harmonische Einheit zwischen dem Äußeren und Inneren des Hauses zu schaffen.«
Er stand auf, löste ein Deckchen, das an seiner Hose klebte, und küsste Madame Hamel die Hand.
»Mein Gott, schon zwei Uhr morgens … Entschuldigen Sie tausendmal … Und noch einmal danke für Ihren Rat.«
Für welchen eigentlich, in der Flut von Ratschlägen, die sie ihm wohl gegeben hatte? Sie war so müde und aufgewühlt, dass sie sogar vergaß, ihn an das Harmonium von Saint-Eustache zu erinnern.