10

Mit ihren Nerven am Ende, schlüpfte Fanny vollständig angekleidet ins Bett. Es hatte geregnet während des Abendessens, aber jetzt dehnte sich ein blauschwarzer Himmel, übersät mit Tausenden tropfnasser und zusammengeschrumpfter kleiner Sterne, vor ihrem Fenster. Es war nichts anderes zu hören als ein ruhiger Wind, der sanft die Blätter der Platane wiegte, sie manchmal raschelnd gegeneinanderschlug wie ein eifriger Pfarrer die Seiten eines Messbuchs, in dem er blätterte. Sie verließ das Bett, zog sich aus, nahm ein Bad und sagte dabei mehrmals laut vor sich hin: »Rohe Lammkeule, also nein, niemals!« Sie sah die Szene noch einmal vor sich, wie sie entrüstet vor dem armen Henri stand, der seinerseits versuchte, den Ausdruck amüsant erscheinen zu lassen, der in der Tat eher unzutreffend als verächtlich war. Und wieder musste sie lachen.


Um vier Uhr morgens knarrte die Tür zum Korridor, und Ludovic trat in ihr Zimmer. Er hatte noch die Sachen an, die er tagsüber getragen hatte, und das war gut so. Denn wenn er frisch rasiert und geschniegelt in einem schönen Morgenmantel, gleichsam als der selbstsichere Liebhaber bei ihr erschienen wäre, hätte sie ihn sofort rausgeschmissen. Stattdessen sah sie ihn, als sie ihre Nachttischlampe einschaltete, mit aufgewühltem Gesicht am andere Ende des Zimmers stehen, nahe beim Fenster und dem Anschein nach eher bereit, dort hinaus- als auf ihr Bett zu springen.

»Ludovic …«, sagte sie instinktiv flüsternd, obwohl das nächstgelegene Zimmer das von Philippe war, zwei Räume weiter, und dieser wie ein Walross schnarchte.

Ludovic stand da mit zersausten Haaren, seinem zerknitterten Hemd, seinem immer gleichen braunen Mohairpullover. Seinem Lieblingspullover, stellte sie fest und wunderte sich zugleich, wie gut sie die Garderobe des jungen Mannes kannte. In der Tat, dieser braune Pullover, sein verwaschenes rötliches Hemd, seine Cordhose und seine fast neuen Mokassins waren ein Bild aus ihrer eigenen Erinnerung. Sie bedeutete ihm, sich zu setzen.

»Es ist vier Uhr morgens, Ludovic. Sie haben sich weder ausgezogen noch umgezogen … sind Sie nicht schlafen gegangen?«

Ihre zunächst muntere Stimme wurde unwillkürlich langsamer, so als wären ihre eigenen Worte ihr nicht mehr so wichtig. Er unterbrach sie mit einer fast rüden Handbewegung, oder die doch, wäre es Henri gewesen, rüde erschienen wäre.

»Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass, wenn ich Ihnen zu nahegetreten oder Sie schockiert haben sollte, es keine Absicht war. Seit heute Morgen versuche ich herauszufinden, was passiert ist … aber ich begegne nur den Augen und der Stimme einer Fremden. Ich bin einfach sehr unglücklich, das ist alles.«

Nach diesem letzten Satz hob er den Kopf und sah sie an.

»Verstehen Sie«, fügte er hinzu, »ich habe nicht gedacht, dass Sie mich auch lieben würden, noch nicht, aber dass Sie mich gernhätten, dass ich Ihnen gefalle …«

»Aber das stimmt doch auch«, sagte sie.

Denn es stimmte, er gefiel ihr, wie er da halb zu ihren Füßen hingestreckt lag.

»Ich habe nie einen anderen geliebt als Quentin, meinen Mann«, hob Fanny wieder an. »Abgesehen von allem anderen, hat er mich beschützt, ich war vor der Welt, vor den Leuten sicher … Heute lebe ich allein. Ich verdiene nicht sehr viel Geld, aber ich muss beschützt werden, begreifst du das?«

Er nickte. Er ließ sie nicht aus den Augen, aber das war ihr in keiner Weise unangenehm.

»Hier aber bist du derjenige, den man beschützen muss, gegen diese Leute hier …«, und sie beschrieb mit der Hand einen Bogen, »die dir das alles angetan haben, die sich über dich lustig machen, dir misstrauen und dich demütigen, während sie dich doch jeden Tag um Verzeihung bitten müssten … Allen voran meine Tochter … Verstehst du«, sagte sie, »ich will keinen Sohn und auch keinen Liebhaber, der auf Knien lebt.«

Er stand auf und ging zum Fenster.

»Du hast ja recht«, sagte er mit erstickter Stimme, »aber sie haben mir Angst gemacht … Sie machen mir immer noch Angst. Und wenn sie mich wieder dahin zurückschicken? Marie-Laure sagt, ein Anruf genügt … Und außerdem, als ich dort war, waren sie die einzigen Menschen, die ich draußen kannte, die Einzigen, von denen ich dachte, dass sie mich da rauszuholen versuchen, die Einzigen, die mich besuchen kamen, verstehst du? Mein Vater, meine Frau, meine Stiefmutter … Ohne sie wäre ich vielleicht heute noch dort.«

Schweigen. Fanny richtete sich auf.

»Es waren die Ärzte, die dich rausgeholt haben …«, begann sie empört.

Dann zerriss etwas in ihr. Sie stammelte »Ludovic«, und sicher streckte sie wohl auch die Hand nach ihm aus, denn einen Augenblick später lag er in ihren Armen, küsste ihr die Tränen weg, die sie nicht spürte, tröstete sie für alles, was man ihm, Ludovic, angetan hatte und das ihr, Fanny, unerträglich war.

»Oh, mein Liebes …«, sagte sie jetzt mit einer Zärtlichkeit, die Ludovics Küsse, seine Hände zunächst ganz sanft, dann immer hastiger in fieberhafte Gesten verwandelte.

Eine Lampe, die gelöscht wird, ein Pullover, den eine Frau einem Mann über den glühend heißen Kopf zieht, ein Hemd, das er sich selbst vom Leib reißt, Hosen, Schuhe, die durchs Zimmer fliegen, Liebesschwüre, Tränen, die ineinanderfließen, ein Mund, der von einem anderen Mund nicht lassen kann. Und dann das Geräusch zweier Körper, die sich aufeinanderwerfen, zweier Blätter, zweier Seiten … Und der Wind, dieser Wind, der mit dem beginnenden Morgen aufkommt.