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M ackintosh öffnete die Tür und trat hinaus auf die Straße. Die Strelitzer Straße war kopfsteingepflastert und von viergeschossigen Wohnhäusern gesäumt, die einander gegenüberstanden. Autos parkten am Bordstein und streckten die Kühler hervor; so blieb Platz für zwei Fahrspuren. Man hatte versucht, die brutalistische Architektur mit der Anpflanzung junger Ulmen zu mildern, aber die winterlichen Winde hatten die letzten Blätter schon lange von den Ästen gerissen. Mackintosh tat einen Schritt aus der Tür und blickte nach links und nach rechts, um zu sehen, ob noch jemand draußen unterwegs war. Die Straße war tief verschneit bis auf einen Streifen Matsch in der Mitte der Fahrspuren. In einiger Entfernung sah Mackintosh den hoch aufragenden Fernsehturm am Alexanderplatz, der fast in der ganzen Stadt sichtbar war. Er hatte diesen Turm immer gehasst. Die Kommunisten hatten ihn als Demonstration ihrer Macht erbaut, aber für Mackintosh hatte er immer den Überwachungsstaat verkörpert, das Gefühl, dass sie alles überragten und dass man nirgendwo vor ihren misstrauischen Blicken sicher war.

Er wandte sich nach links und ging langsam über den kompakten, vereisten Schnee. Der Kleinlaster einer Baufirma parkte auf seiner Straßenseite. Man arbeitete in einem nahen Gebäude und renovierte es nach jahrelanger Vernachlässigung. Der Lieferwagen war alt und schmutzig, und auf der Ladefläche lag eine bunt zusammengewürfelte Sammlung von Baugeräten: ein Zementmischer, Leitern, eine Schubkarre.

Als er am Heck des Wagens vorbei war, bemerkte er, dass sich an der Kreuzung Rheinsberger Straße etwas bewegte. Er war noch fünfzehn Meter weit weg, und die Person dort blickte in die andere Richtung. Mackintosh glaubte nicht, dass er entdeckt worden war. Er ging weiter und sah, dass es ein Mann war, dass er einen gut sitzenden schwarzen Mantel und eine Pelzmütze, eine russische Uschanka, trug. Mackintosh näherte sich weiter und erkannte, dass das Haar des Mannes, das unter den Ohrenklappen der Mütze gerade noch sichtbar war, in einem leuchtenden Platinblond gefärbt war.

Es war PICASSO.

Mackintosh ging schneller.

»Günter«, rief er so leise wie möglich, aber laut genug, um gehört zu werden.

Der Mann erstarrte und drehte sich dann um. Sein Tarnname war PICASSO, aber in Wirklichkeit hieß er Günter Schmidt. Er war neunzehn Jahre alt und hatte blasse Haut und blaue Augen, in denen die Angst flackerte. Mackintosh streckte die Hand aus, und Schmidt nahm und schüttelte sie.

»Ist alles okay?«, fragte Mackintosh auf Deutsch.

»Ich habe Angst«, sagte Schmidt.

»Gibt keinen Grund.« Mackintosh lächelte.

»Ich konnte mich nicht an die Hausnummer erinnern.«

»Du bist in der falschen Straße«, sagte Mackintosh sanft. Er nahm Schmidt beim Ärmel und drehte ihn zur Kreuzung um. »Hier drüben ist es.«

Mackintosh warf einen Seitenblick auf den jungen Mann, als sie losgingen. Sein Mantel hatte das übergroße Fischgrätmuster, das Mackintosh vor einem Monat für ihn ausgesucht hatte. Günter war besessen von David Bowie, den er einmal in einem ähnlichen Mantel in einer Fotostrecke gesehen hatte, die Helmut Newton in Sounds veröffentlicht hatte. Mackintosh hatte ihm die Zeitschrift regelmäßig gekauft, während er ihn behutsam rekrutiert hatte. Es war ein langsamer Tanz gewesen, der Monate gedauert hatte, bevor er Erfolg gehabt hatte. Er hatte den Mantel zur Feier ihrer Einigung über die Grenze geschmuggelt und ihm bei ihrem letzten Treffen im Treptower Park geschenkt.

»Ich habe Angst«, sagte Schmidt noch einmal.

»Das ist nicht nötig.«

»Und die Grenzposten?«

Mackintosh schüttelte den Kopf. »Keine da. Alles ist ruhig.«

»Aber was ist mit dem Tunnel?«

»Da ist alles in Ordnung.«

»Ich kriege Platzangst.«

»Ich bin gerade durchgekommen.« Mackintosh ermahnte sich insgeheim, freundlich zu bleiben. »Er ist ganz sicher. Ein Wunderwerk an Ingenieursleistung. Du wirst schon sehen.«