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S ie gingen die Strelitzer Straße entlang zu der verlassenen Wohnung. Mackintosh ließ zu, dass ihm ein Kribbeln der Zuversicht über den Rücken lief. Sie würden es schaffen.

Eine Frau kam aus der Tür; sie trug eine Wollmütze, die sie von den Soldaten bekommen hatte. Es war Élodie. Mackintosh wollte ihr zurufen, sie solle ins Haus zurückgehen, aber er wagte es nicht. Er würde damit nur Schmidt erschrecken, und außerdem wusste er nicht, wer ihn sonst noch hören würde.

»Élodie?«, fragte Schmidt hoffnungsvoll.

»Sie will sicher sein, dass du rauskommst.«

Mackintosh legte dem jungen Mann eine Hand auf den Rücken und schob ihn voran. Lächelnd versprach er ihm, die britische Regierung kümmere sich um diejenigen, die bereit seien, ihr Leben für den Westen zu riskieren, und deshalb werde alles, wirklich alles , gut gehen.

»Der Tunnel«, sagte Schmidt, »ist er schmutzig?«

Er zeigte auf Mackintoshs Hose, und Mackintosh sah den Lehm, der da noch klebte.

»Ein bisschen.« Er lächelte wieder.

»Und mein Mantel? Ich werde ihn ruinieren.«

Mackintosh antwortete mit Nachsicht und Geduld. »Ich kaufe dir einen neuen.«

Élodie kam zu ihnen. »Alles okay?«

»Ja, alles bestens. Warum bist du herausgekommen?«

»Wir konnten euch nicht sehen.«

»Lass uns von der Straße verschwinden.«

Sie waren immer noch zehn Meter vom Haus Nummer 55 entfernt, als ein schwarzer Lieferwagen in hohem Tempo um die Ecke kam und auf der anderen Straßenseite anhielt. Es war ein Barkas B 1000, der Transporter, den die Stasi benutzte, wenn sie Leute von der Straße weg verhaftete. Auf der Fahrerseite stieg ein Mann aus und ließ die Tür offen. Ein zweiter Mann sprang auf der anderen Seite aus dem Wagen.

»Merde«, zischte Élodie.

Mackintosh nahm Schmidt mit der linken Hand beim Ellenbogen und ging schneller. Sein rechter Arm hing herunter, bereit, nach der Pistole zu greifen, die sich in sein Kreuz drückte.

Die Männer kamen über das eisglatte Kopfsteinpflaster auf sie zu.

»Stehen bleiben!«

Mackintosh hielt Schmidts Arm fest und ging weiter. Bis zur Tür von Nummer 55 waren es nur noch ein paar Schritte. Wenn sie hineingelangten, würden sie vielleicht …

Er hörte Motorengeräusch hinter sich, und Reifen knirschten auf dem harten Schnee. Mackintosh drehte sich um: Ein zweiter schwarzer Barkas war erschienen und blockierte die Straße hinter ihnen. Zwei weitere Männer waren ausgestiegen und kamen auf sie zu.

Mackintosh schluckte. Er hatte plötzlich eine sehr trockene Kehle.

Das Ministerium für Staatssicherheit .

Die Stasi.

Grenzwachen waren dumm und berechenbar; sie befolgten ihre Befehle, taten, was man ihnen sagte, und zogen die Routine der Originalität vor. Die Stasi war anders. Ihre Leute waren skrupellos. Sie töteten, wann immer sie Gelegenheit dazu hatten. Mackintoshs früherer Bürochef war auf der Straße aufgeschlitzt worden, als er sich eine Zigarette anzündete. Der Wagen seines Nachfolgers war mit einer versteckten Bombe in die Luft gejagt worden, während er am Flughafen Tempelhof eine Sekretärin abholen wollte. Die Stasi hatte ihre Augen überall, und nach und nach verstärkte sie ihren Griff um die feindlichen Nachrichtendienste, von denen sie sich umzingelt sah. Sie war unerbittlich, skrupellos und beseelt von einer kalten Ideologie, mit der niemand diskutieren oder verhandeln konnte.

Und sie wussten Bescheid. Jemand hatte ihnen einen Tipp gegeben. Angst packte ihn wie eine eiskalte Faust und presste ihm die Brust zusammen, bis er nicht mehr atmen konnte.

Die beiden Agenten vor ihnen waren mit Pistolen vom Typ Makarow PM bewaffnet. Mackintosh erkannte einen von ihnen: Es war Axel Geipel, ein Oberst in der Hauptverwaltung A, dem Auslandsnachrichtendienst der Stasi. Geipel galt als brutal; Mackintosh hatte Geschichten darüber gehört, was mit den Männern und Frauen passierte, die er ins Gefängnis nach Hohenschönhausen brachte. Aber einen noch schlimmeren Ruf als Geipel hatte sein Vorgesetzter. Geipel arbeitete für Karl-Heinz Sommer, und Sommer war ein Teufel.

»Hände hoch!«, rief Geipel auf Englisch. »Sofort!«

Mackintosh blieb stehen.

Nicht so. Nicht kampflos .

Élodie blieb neben ihm stehen. Ihre Hand zuckte zu ihrer Waffe.

»Nicht«, flüsterte er. »Noch nicht.«

Er ließ Schmidts Arm los und hob die linke Hand, die Handfläche nach vorn gerichtet.

Geipel wedelte mit seiner Pistole. »Beide Hände!«

Mackintosh hob auch die Rechte und streckte beide Hände hoch über den Kopf.