J immy fuhr zurück zur Valentine Road. Er wohnte dort in einem Reihenmittelhaus mit Keller und zwei Geschossen. Das Haus war in einem grässlichen Zustand gewesen, als sie es gekauft hatten, aber nur deshalb hatten sie es sich leisten können. Jimmy hatte sechs Monate gebraucht, um es in Form zu bringen. Er hatte zwei neue Bäder und eine neue Küche installiert, er hatte die Bodendielen abgezogen und poliert und den Dschungel gerodet, der den Garten überwuchert hatte. Jetzt war es ein hübsches Haus, das beste in der Straße, auch wenn das nicht viel hieß: Das Haus links daneben war besetzt, das auf der rechten Seite diente gelegentlich als Bordell, und in einem Haus auf der anderen Straßenseite wurde mit Heroin gedealt.
Es war eine wüste Straße, und als Jimmy hier eingezogen war, hatte es Reibereien gegeben. Das Bordell war ein bisschen zu laut gewesen, und die Kundschaft hatte Sean nicht schlafen lassen. Jimmy hatte an die Tür geklopft und erklärt, es sei im Sinne aller Beteiligten, ein bisschen nachbarschaftliche Rücksichtnahme zu zeigen. Der Muskelprotz, der den Laden beaufsichtigte, war nicht beeindruckt gewesen; also hatte Jimmy ihm die Nase gebrochen. Auch der Boss des Mannes war nicht beeindruckt gewesen, aber Jimmy hatte dafür gesorgt, dass ihm einleuchtete, wie vernünftig es war, eine gute Nachbarschaft zu pflegen. Danach hatte es keine Probleme mehr gegeben.
Jimmy schloss die Haustür auf und ging hinein.
Isabel kam ihm in der Diele entgegen. »Es ist fünf vor zwölf. Ich dachte schon, du versäumst es.«
»Ich hab dem kleinen Mann versprochen, dass ich hier bin«, sagte Jimmy. »Und hier bin ich.«
»Wie warʼs?«
»Gut. Wir hatten Glück.«
»Wie viel Glück?«
Er zog das dicke Bündel Geldscheine hervor, das er aus dem Safe genommen hatte, und gab es ihr.
»O Gott«, hauchte sie. »Wie viel ist das?«
»Drei Riesen. Willst du immer noch nach Benidorm?«
»Im Ernst?«
»Lass uns morgen gleich buchen, wenn sie aufmachen. Zwei Wochen — nicht eine, okay?«
Isabel legte die Hände an sein Gesicht und zog es zu sich herunter, um ihn zu küssen. »Ich finde es immer noch nicht richtig.«
»Ich weiß, Darling.« Er wechselte das Thema; für eine Diskussion über seine Berufswahl war er jetzt zu müde. »Wo ist der kleine Mann?«
Isabel deutete mit einer Kopfbewegung zum Wohnzimmer. »Er schläft.«
Jimmy und Isabel hatten ihrem Sohn erlaubt, bis Mitternacht aufzubleiben. Er hatte die ganze Woche gebettelt und ihnen erzählt, alle seine Freunde dürften bis zum Feuerwerk wach bleiben. Es sei der Anfang von 1989, fast das Ende eines Jahrzehnts. Jimmy und Isabel hatten ihn aufgezogen: Nein, das dürfe er nicht, hatten sie gesagt. Und dann hatten sie mit ihm verhandelt: Er dürfe zum Jahreswechsel wach bleiben, aber er müsse versprechen, sein Zimmer aufzuräumen. Damit war er schnell einverstanden gewesen.
Jimmy warf einen Blick zu ihm hinein. »Wie lange hat er durchgehalten?«
»Bis kurz vor elf.«
»Er ist ein Schatz.«
Little Sean war sieben Jahre alt, und sein Vater liebte ihn heiß und innig. Er und Isabel hatten lange versucht, ein Kind zu zeugen, und sie waren kurz davor gewesen, die Hoffnung aufzugeben. Sean war das Wunder, auf das sie nicht mehr gehofft hatten. Isabel war nicht noch einmal schwanger geworden, und sie hatten sich mit dem zufriedengegeben, was sie hatten. Sean war alles, was sie sich gewünscht hatten — und mehr.
Jimmy ging ins Wohnzimmer und näherte sich dem Sofa auf Zehenspitzen.
In der Diele klingelte das Telefon. »Ich gehe schon«, sagte Isabel.
Jimmy sank auf die Knie und strich seinem Sohn die blonden Strähnen aus dem Gesicht. Der Junge war übermütig, wenn er wach war, aber wenn er schlief, sah er zerbrechlich und hilflos aus. Jimmy schaute ihn an und spürte, wie sein Herz stolperte.
»Es ist für dich«, rief Isabel.
Er stand auf. »Wer ist es?«
»Smiler.«
Sean regte sich, und Jimmy ging hinaus in die Diele. Isabel reichte ihm den Hörer.
»Was gibtʼs?«
»Wo bist du?«
»Zu Hause. Ich wollte gerade meinen Kleinen für das Feuerwerk im Fernsehen wecken.« Jimmy wusste, die Frage war eine Ablenkung. Smiler rief aus einem anderen Grund an. »Was gibtʼs denn?«
»Wir haben ein Problem.« Smiler klang aufgeregt.
»Was für ein Problem?«
»Ein Fabian-Problem.«
»Kann das nicht warten?«
»Was glaubst du?«
»Was hat er denn wieder?«
»Nicht am Telefon, Jimmy.«
»Verdammte Scheiße«, knurrte Jimmy. »Wann?«
»Es muss sofort sein, sagt er.«
Isabel war in die Küche gegangen. Jetzt kam sie mit einer Flasche Champagner und ihren beiden besten Gläsern zurück. Sie sah Jimmys Gesicht. »Was ist los?«, flüsterte sie.
Jimmy schüttelte den Kopf. Isabel kannte ihn nur zu gut. Sie sah seine Besorgnis, schaute ihn an und zog eine Braue hoch. Er legte eine Hand auf die Sprechmuschel. »Nichts weiter«, sagte er und hoffte, sein Lächeln werde sie davon überzeugen, dass es keinen Grund zur Sorge gab.
Isabel reichte ihm das eine Glas, setzte sich auf das Sofa und sprach leise mit Sean. Der Junge drehte sich zu seiner Mutter um und lächelte.
»Du bist im Schlafanzug, Mummy«, stellte er fest.
»Es ist fast Mitternacht. Wir sehen uns das Feuerwerk an, und dann gehen wir schlafen. Es war ein langer Tag.« Sie stupste Sean mit dem Zeigefinger an die Nasenspitze, und er lächelte.
Jimmy liebte dieses Lächeln. Er lebte dafür.
»Jimmy?«, drängte Smiler.
Er seufzte. »Wo bist du?«
»Bei Charlie Chan.«
Isabel spürte seine wachsende Anspannung. Sie wandte sich zu ihm um, senkte den Kopf und sah ihn über den Rand ihres Glases hinweg an.
»Ich brauche dich hier«, sagte Smiler.
Jimmy seufzte wieder. »Zuerst sehe ich mir mit meinem Jungen das Feuerwerk an. Lass mir zwanzig Minuten Zeit.«
Er legte auf, bevor Smiler protestieren konnte.
»Heute Nacht?« Isabel seufzte müde. »Wir haben Silvester.«
»Es ist nur eine geschäftliche Kleinigkeit, Schatz. Ich bin vorsichtig.«
»Es ist Silvester«, wiederholte sie. »Du hast gesagt …«
»Ich weiß, aber es geht nicht anders. Ich will ja auch nicht.«
»Dann bleib hier.«
»Du weißt, dass es so nicht läuft. Es tut mir leid.«
Sean hatte sich aufgesetzt. Seine Beine baumelten über die Sofakante. Sie reichten noch nicht bis zum Boden.
»Okay, kleiner Mann.« Jimmy setzte sich neben ihn. »Bist du bereit für das Feuerwerk?«
Der Kleine kletterte auf die Knie seines Vaters. Isabel schaltete den Fernseher ein und drückte auf die Taste für BBC One. Sie saßen zusammen auf dem Sofa und verfolgten das Feuerwerk über der Themse. Die Regie schaltete zurück ins Studio zu Michael Aspel. Er wünschte allen ein gutes neues Jahr, und dann war die Sendung zu Ende. Sean war schon wieder eingeschlafen. Sehr behutsam stand Jimmy auf und trug seinen Sohn die Treppe hinauf. Seinen kleinen Sohn. Die blonde Bombe, wie Isabel ihn nannte. Ein süßes Kind. Sean liebte seinen Hund und seine Familie und Fußballspielen im Park in der Nachbarschaft. Jimmy würde am nächsten Morgen auf ein Spiel mit ihm hinübergehen. Das hatte er versprochen.
Er brachte seinen Sohn ins Bett, deckte ihn zu, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und ging hinunter. Er nahm seine Lederjacke von der Stuhllehne. Die Nationalhymne war eben zu Ende, und im Fernsehen erschien das Testbild.
Jimmys Autoschlüssel lag normalerweise auf einem Teller auf dem Dielentisch, aber Isabel hatte ihn schon in der Hand.
»Sei vorsichtig«, sagte sie und schlang die Arme um seinen Nacken.
Sie küssten sich, und sie gab ihm den Schlüssel. Jimmy steckte ihn ein.
»Nicht schon wieder dieses alte Ding!«
Jimmy schaute an seiner Jacke hinunter. Sie war verschlissen, verschrammt und hier und da geflickt. Er fand, sie verlieh ihm Charakter.
»Ich hab doch gesagt, du sollst dir eine neue kaufen.«
»Und ich hab dir gesagt, dass sie mir gefällt«, sagte er lächelnd und öffnete die Haustür. »Ich komme so schnell wie möglich zurück.«
Er ging hinaus, schloss die Tür hinter sich und zog den Reißverschluss der Lederjacke hoch. Die Jacke hatte seinem Onkel Barney gehört. Der Alte hatte sie vor Jahren in der Crumlin Road gekauft, und er hatte sie nie ausgemustert. Nach seinem Tod hatte Jimmy sie aus Barneys Wohnung mitgenommen. Die Jacke war älter als er selbst, aber er wollte nichts daran ändern. Sie erinnerte ihn an seinen Onkel und an alles, was er von ihm gelernt hatte.
Und gelernt hatte er eine Menge. Barney war eine Legende in Ardoyne, Ballysillan und Ligoniel. Als Tresorknacker hatte er ein paar Erfolge erzielt, die ihn zu einer Unterweltgröße und zu einem Stachel im Fleisch der Polizei gemacht hatten. Der kleine Jimmy, der er damals gewesen war, hatte zu seinem Onkel aufgeschaut. Er hatte sein wollen wie er, zur ewigen Bestürzung seiner Mutter, und es war unausweichlich gewesen, dass er eines Tages in seine Fußstapfen trat. Niemand konnte etwas für seine Natur.
Jimmy ging den kurzen Weg durch seinen Vorgarten zum Gartentor, öffnete es und schloss es hinter sich. Die frostige Nachtluft wirkte belebend. Er genoss das kalte Gefühl auf der Haut und warf noch einmal einen Blick zurück zum Haus. Es war nichts Besonderes, aber es war seins. Er war der erste Hausbesitzer in seiner Familie; selbst Onkel Barney hatte immer nur zur Miete gewohnt. Er sah, wie das Licht im Schlafzimmer anging, und wusste, Isabel würde auf ihn warten. Er nahm sich vor, so schnell wie möglich zurückzukommen. Er würde mit Fabian sprechen, herausfinden, was los war, und sehen, wie er am besten damit umging. Und dann würde er nach Hause kommen und den Rest des Wochenendes nicht mehr an die Arbeit denken.