J immy wachte in einem Raum auf, den er nicht kannte. Wände und Boden waren aus nacktem Beton. Die stählerne Tür hatte kein Fenster. In der Ecke stand ein Eimer — Jimmy vermutete, das war die Toilette —, und oben in der Ecke, unter der Decke, war eine Kamera angebracht. Ein rotes Licht leuchtete am Gehäuse und ließ darauf schließen, dass sie eingeschaltet war und ihn beobachtete. Er lag ausgestreckt auf einer dünnen Matratze. Seine Muskeln taten ihm weh, und sein Kopf fühlte sich an, als hätte man ihn gespalten. Er hob die Finger zum Scheitel und fühlte getrocknetes Blut.
Ihm fiel wieder ein, was passiert war, und er stöhnte.
Fabian hatte sie reingelegt. Der Gedanke war unfassbar. Der Alte war ein Pfeiler der kriminellen Gesellschaft; eine Verschwörung mit der Polizei, um zwei Männer zu verhaften, wäre das Ende seiner Reputation. Niemand würde ihm je wieder vertrauen.
Er setzte sich auf, und sofort bereute er es. Er hatte stechende Kopfschmerzen, und er erinnerte sich an den Mann mit dem Gummiknüppel. Der Himmel wusste, wie oft er damit auf ihn eingeschlagen hatte, während er am Boden lag. Er zog das Hemd hoch, blickte an sich hinunter und sah schwarz angelaufene Blutergüsse an Oberkörper und Armen. Nach den Schmerzen in seinen Beinen zu urteilen, war er auch dort verprügelt worden.
Er hörte Schritte draußen. Sie hielten vor der Tür inne. Er sah hinauf zu der Kamera: Das rote Licht war erloschen. Die Tür wurde aufgeschlossen und geöffnet. Ein Mann stand draußen und schaute zu ihm herein. Er sah nicht aus wie ein Polizist: Anfang vierzig, in einem Tweedanzug, der offensichtlich teurer war als alles, was ein Polizist sich leisten konnte. Das Gleiche galt für seine handgenähten Schuhe, das weiße Oberhemd und die Old-School-Krawatte. Er hatte eine lederne Aktentasche bei sich und sah durch eine große, schwarz geränderte Brille auf Jimmy herab.
»Mr. Walker?«
»Ja. Wer sind Sie?«
»Ich möchte mit Ihnen sprechen.«
»Machen Sie es sich bequem. Ich gehe nirgendwo hin.«
»Nein. Das ist wahr.«
»Wer sind Sie?«
Der Mann zeigte hinauf zu der Kamera. »Ich bin nicht hier.«
»Sind Sie Polizist?«
»Nein.«
»Wo bin ich dann?«
»Im New Scotland Yard.«
»Wenn Sie also kein Bulle sind …«
Der Mann fiel ihm ins Wort. »Ich bin hier, um Ihnen ein Angebot zu machen. Angesichts ihrer derzeitigen Umstände sollten Sie es sorgfältig in Betracht ziehen.«
»Sollte ich?«
Der Mann lächelte. »Wenn Sie es annehmen, können Sie mit mir hinausspazieren, sobald wir fertig sind.«
»Einfach so?«
»Einfach so.«
Der Mann betrat die Zelle, und ein Officer schloss die Tür hinter ihm. Er stellte seine Aktentasche ab und streckte die Hand aus. Jimmy packte sein Handgelenk, drehte die Hand um und vergewisserte sich, dass sie leer war. Er hatte schon gehört, dass Polizisten mit Beweisstücken in der Hand in eine Zelle kamen. Sie sammelten Fingerabdrücke ein, die sie nachher benutzen konnten, um jemanden hereinzulegen. Die Hand dieses Mannes war leer. Jimmy ließ sein Handgelenk los.
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wer Sie sind.«
Der Mann antwortete nicht. Er bückte sich, öffnete seine Aktentasche und nahm einen braunen Umschlag heraus.
»James Sean Walker«, las er vor. »Geboren im Royal Victoria Hospital in Belfast. Aufgezogen von Barney Walker, nachdem beide Eltern 1972 bei einem Bombenanschlag in einem Pub ums Leben gekommen waren. Schulbesuch — oder kein Schulbesuch, je nachdem — an der St. Francis of Assisi School. Ohne Abschluss abgegangen; also nehme ich an, Letzteres trifft eher zu.« Er blätterte durch die Seiten. »Langweilig, langweilig, langweilig. Springen wir ein Stück weiter. Ein bisschen aus dem Tritt geraten, erste Einbrüche. Gehörte zu dem IRA-Team, das vor fünf Jahren die Allied Irish Bank ausgeräumt hat.«
Jimmy hätte ihm beinahe erklärt, er habe nicht gewusst, dass die IRA an diesem Unternehmen beteiligt gewesen war, aber er hielt noch rechtzeitig den Mund. Er war in einer Polizeizelle, und niemand hatte ihn für diesen Raubzug je verurteilt. Jetzt wäre es eine Riesendummheit, ihnen zu bestätigen, dass er daran beteiligt gewesen war.
Der Mann blätterte weiter. »Kurz danach haben Sie Belfast verlassen, und zwar mit der IRA und der britischen Polizei im Genick. Das braucht nicht in Ihrem Londoner Lebenslauf zu stehen. Eine Beziehung — Isabel, stimmt’s? Ein Kind — Sean. Ganz ordentlicher Boxer. Keine gewinnbringende Beschäftigung, und trotzdem ein Haus in Hackney. Die Polizei weiß von Ihren nächtlichen Aktivitäten, aber Sie waren clever genug, ihnen keine handfesten Anhaltspunkte zu geben. Bis jetzt, natürlich. Verhaftet wegen Verdachts der Beteiligung an einem Diamantenraub in Heathrow letzte Nacht.«
»Darüber würde ich gern mit meinem Anwalt sprechen«, sagte Jimmy.
»Das glaube ich gern, James.«
»Jimmy«, sagte er und lehnte sich auf seinem Bett zurück.
»James«, sagte der Mann. »Sie sitzen in der Klemme, nicht wahr?«
»Hab schon Schlimmeres erlebt.«
»Wirklich? Die Polizei hat eine volle Werkzeugtasche im Kofferraum Ihres Wagens gefunden. Ich bin natürlich kein Fachmann, aber man sagt mir, es handelt sich um einen selbst gemachten Schweißbrenner zum Aufschneiden von Tresoren. Und ein Kleiderbeutel. Skimaske. Handschuhe. Alles sehr verdächtig.«
Jimmy zuckte die Achseln.
»Ich bin in diesem Augenblick Ihr bester Freund, James.«
»Und Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wer Sie sind.«
»Ich arbeite für die Regierung …«
»Dann können Sie sich gleich verpissen.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »James — wirklich. Bitte . Hören Sie einfach zu. Wir haben eine offene Stelle, die zu einem Mann mit Ihren Fähigkeiten passen würde.«
Jimmy legte langsam den Kopf zurück und rieb sich die Augen. »Nein, danke, Kollege. Mir gefällt es hier.«
»Wirklich? Sie wollen die nächsten zehn Jahre im Gefängnis verbringen?«
Jimmy richtete sich auf. »Zehn Jahre?«
»Die Polizei sagt, sie kann Ihnen eine ganze Reihe von Straftaten in London und im Südosten anhängen. Bewaffnete Raubüberfälle, James. Was erwarten Sie da?«
»Stopp«, sagte Jimmy. »Wer hat denn was von bewaffnet gesagt?«
»Die Polizei hat hinten in Ihrem Capri ein nicht registriertes Schrotgewehr gefunden. Sie sagt, es sieht aus wie das Schrotgewehr, das letzten Monat benutzt wurde, um den Fahrer eines Geldtransporters zu bedrohen.«
Jimmy stöhnte. »Ich hab noch nie was mit einem Geldtransporter gemacht.«
»Was sollen Sie auch sonst sagen, James?«
»Die wollen mich reinlegen.«
»Bewaffneter Raubüberfall ist ein schweres Verbrechen. Die Mindeststrafe, die Sie da zu erwarten haben, ist zehn Jahre. Die Mindeststrafe . Es könnte auch mehr werden.«
»Und das alles nur, damit ich für Sie arbeite?«
»Ich war zufällig auf der Suche nach Hilfe, und man hat mir Gelegenheit gegeben, einen Blick in Ihre Akte zu werfen. Das habe ich getan, und ich glaube, Sie könnten mir helfen. Eine Hand wäscht die andere, James.«
Jimmy hatte einen weiteren Protest auf der Zunge, aber er schluckte ihn herunter. Er stand mit dem Rücken zur Wand, sie hatten ihm alle Optionen genommen, und das ärgerte ihn. Es ärgerte ihn, dass er getäuscht worden war, es ärgerte ihn, dass er zu lange gebraucht hatte, um es zu durchschauen, und es ärgerte ihn vor allem, dass man ihm sämtliche Optionen genommen hatte.
»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wer Sie sind.«
»Ich bin Ihre zweite Chance. Ich bin Ihre ›Du kommst aus dem Gefängnis frei‹-Karte. Und Ihr neuer Chef. Wenn Sie tun, was man Ihnen sagt, müssen Sie nicht ins Gefängnis. Ich gebe Ihnen mein Wort.«
»Ist das ein Trick?«
»Es ist ein Angebot. Und in zehn Sekunden geht es zur Tür hinaus. Liegt bei Ihnen, James. Entscheiden Sie sich.«
Jimmy starrte auf den Boden. Seine Gedanken schwirrten im Kreis herum. Er dachte an Isabel und seinen Sohn.
»Wann könnte ich meine Freundin und meinen Jungen wiedersehen?«
Der Mann lächelte. »Sofort.« Er sah auf die Uhr. »Es ist zehn Uhr. Der Verkehr dürfte akzeptabel sein. Wir könnten wahrscheinlich in einer halben Stunde da sein.«
»Wirklich?«
»Heute Nachmittag geht unser Flug — wenn Sie ja sagen, natürlich. Sie können sie besuchen, bis wir gehen müssen. Wenn Sie nicht ja sagen, bleiben Sie hier. Ich nehme an, dann sehen Sie sie zu den Besuchszeiten. Wird allerdings nicht einfach sein, Ihren Sohn durch die Scheibe auf den Arm zu nehmen. Ich finde meinen Vorschlag besser.«
Jimmy stand auf und verzog das Gesicht bei den stechenden Schmerzen, die durch seinen Rücken in die Beine schossen.
»Wer sind Sie?«
»Mein Name ist Mackintosh. Sie sagen ja?«
»Was bleibt mir sonst übrig?«
Der Mann streckte noch einmal die Hand aus, und diesmal nahm Jimmy sie.
Mackintosh lächelte. »Willkommen beim Geheimdienst.«