E s war an seinem neunzehnten Geburtstag, als Sommer die ersten russischen Panzer durch die Straßen um die Reichskanzlei rollen sah. Er diente in der 12. SS-Panzer-Division »Hitlerjugend« und war ein Jahr zuvor am Massaker an einhundertfünfzig kanadischen Kriegsgefangenen in der Normandie beteiligt gewesen. Die Division war zur Verteidigung der Hauptstadt zurückgerufen worden, aber es war bald selbst dem jungen Obersturmführer Sommer klar gewesen, dass die Wehrmacht überrannt werden würde. Er sah, wie die Tektonik der Situation sich verschob, er sah voraus, wie die nächsten Wochen und Monate sich gestalten würden, und er fing an, sein Überleben zu planen. Aber die Panzer rollten schneller an, als irgendjemand vorausgesehen hatte, und er musste schnell denken.
Er brütete einen Plan aus und beeilte sich, ihn zu verwirklichen. Er tauschte die SS-Uniform gegen die Kleider eines Toten, den er im ersten Stock eines Trümmerhauses im Schutt gefunden hatte. Dann nahm er ein Messer, das er in der Küche fand, und schnitt dicht über dem Haaransatz in die Haut, bis Blut floss. Eine dunkelrote Maske glitt über sein Gesicht und tropfte auf seine Kleidung.
Auf dem Weg nach Süden wurde er von russischer Infanterie aufgegriffen. Er tat, als litte er an einem Gedächtnisverlust. Er sei Zivilist, behauptete er, und er erinnere sich nur noch, dass er in einem Gebäude Schutz gesucht habe und dass dieses Gebäude mit Granaten beschossen worden sei. Trümmer seien auf ihn herabgefallen, und danach wisse er nichts mehr. Seine Erinnerungen waren dünn gesät: Er wusste nicht mehr, wie er hieß, wer er war und woher er kam. Die Soldaten brachten ihn die Beelitz-Heilstätten, in denen Hitler während des ersten großen Kriegs behandelt worden war. Es war entsetzlich überfüllt; Soldaten und Zivilisten füllten die Betten auf den Stationen und in den Korridoren, und das überarbeitete Personal hastete zwischen ihnen hin und her. Die Krankenschwestern hatten keine Zeit, ausführlich mit Sommer zu sprechen; sie nahmen an, er hätte einen Schlag auf den Kopf bekommen, versorgten ihn, so gut sie konnten, und nahmen ihn auf.
Er hatte Zeit, und mehr brauchte er nicht. Er entwickelte einen Lebenslauf für sich und stattete ihn mit üppigen Details aus. Die Russen fahndeten nach SS-Offizieren, die verkleidet aus der Stadt flohen, und ein Offizier des militärischen Nachrichtendienstes kam, um ihn zu vernehmen. Sommer erzählte, er sei ein junger österreichischer Bauernsohn, und schilderte ihm das Leben auf dem Hof und wie er mit seinem Vater auf dem Feld gearbeitet habe. Sein Vater sei in den Krieg gezogen und an der Front bei Stalingrad gefallen, und seine Mutter habe sich ertränkt, als sie die Nachricht erhalten hatte.
Vom Schicksal seiner Eltern zu reden war einfach, denn es stimmte alles.
Der Rest stimmte nicht.
Sommer berichtete, wie deutsche Soldaten sein Dorf überfallen und nach einer jüdischen Familie gesucht hätten, die dort untergekommen sei. Er habe die Soldaten kommen sehen und die Gewehrschüsse gehört, als sie die Familie an die Scheunenwand gestellt und erschossen hätten.
Die Geschichte hatte das Mitgefühl des Offiziers geweckt, aber wirklich wahr war sie nicht. Er hatte ein paar entscheidende Details weggelassen.
Die Soldaten waren tatsächlich ins Dorf gekommen, und sie hatten die Familie tatsächlich gefunden, aber das war kein Zufall gewesen. Am Tag, nachdem er seine Mutter beerdigt hatte, wanderte Sommer fünfzehn Kilometer weit in die Stadt und meldete dort, dass sein Nachbar auf seinem Dachboden Juden versteckte. Die SS-Offiziere lobten Sommer. Ihre Uniformen gefielen ihm. Einer der Offiziere gab ihm eine Tafel Schokolade. So etwas hatte er noch nie gesehen, geschweige denn gegessen. Er erinnerte sich an den Geschmack der Schokolade: Als er sie aß, hatte er auf einem Zaun gesessen und zugesehen, wie die Soldaten seine Nachbarn und die junge Familie, die sie versteckt hatten, hinrichteten.
Sommer bekam Geld und eine Zugfahrkarte nach Berlin. Man wies ihn an, in die Hitlerjugend einzutreten. Das tat er, und nachdem er sich als besonders geeignet erwiesen hatte, stieg er als einer ihrer jüngsten Offiziere in die SS auf.
Der russische Offizier glaubte Sommer. Er wurde zusammen mit den Flüchtlingen, die kein Verlangen danach hatten, auf dem Scheiterhaufen zu brennen, den man für Hitler und das Reich aufstapelte, aus der Stadt geschickt. Er landete in Luckenwalde und blieb dort ein Jahr, dann kehrte er wieder nach Berlin zurück, angezogen von den Gelegenheiten in den Strudeln zwischen den aufeinanderprallenden Armeen, die sich um die Beute rauften. Überall herrschte das Chaos, und Sommer wusste, er würde davon profitieren können. Er trat in die Sozialistische Einheitspartei ein, bewarb sich bei der Polizei, und bei ihrer Gründung ließ er sich 1950 zur Stasi versetzen.
Er hatte überlebt. Mehr als das: Es ging ihm gut. In allen Kriegen, kalten wie heißen, gab es Überlebende. Leute, denen es vom Schicksal bestimmt war, lebend davonzukommen, allen Widrigkeiten und Leiden zum Trotz und auch, wenn sie dafür über Leichen gehen mussten.
Sommer war einer von ihnen.