S ommer war beinahe enttäuscht. Beinahe. Günter Schmidt hatte so große Angst, dass es gar nicht nötig war, seinem Vergnügen nachzugehen. Sommer schätzte die störrischeren unter seinen Gefangenen; sie zum Reden zu bringen war eine der Freuden in seinem Leben und etwas, worauf er sich besonders gut verstand. Er tröstete sich mit dem Wissen, dass es dafür andere Gelegenheiten geben würde. Vorläufig musste er nur wissen, was Schmidt für die Briten so interessant gemacht hatte.
Schmidt saß seit Tagen in dieser Zelle — seit Sommer ihn auf dem Weg zum Tunnel unter der Mauer abgefangen hatte. Er hatte keinen Kontakt mit Menschen gehabt, abgesehen von dem Essen, das ihm durch einen Spalt in der Tür in die Zelle geschoben worden war. Das war absichtlich so gehandhabt worden. Sommer kannte die Macht der Fantasie, und er wollte, dass Schmidt möglichst viel Zeit hatte, sich die schreckliche Behandlung vorzustellen, die er möglicherweise zu erwarten hatte, wenn die Vernehmung begann. Diese Erwartungen durcheinanderzubringen konnte wirkungsvoll sein. Er ließ Schmidt in sein Quartier im obersten Stock bringen. Dort gab es keinen Edelstahltisch, keine chirurgischen Instrumente, keine Haken an der Decke, an denen er an den Fußknöcheln kopfüber aufgehängt werden konnte. Das alles würde später kommen, vielleicht. Jetzt gab es einen komfortablen Salon, eine Kanne Kaffee und ein paar höfliche Fragen.
Sommer wusste, es würde funktionieren.
»Es tut mir leid, dass ich Sie so lange hier unten habe warten lassen. Ich hoffe, das wird nicht noch einmal notwendig sein.«
Schmidt sah ihn an, und Sommer musste an ein in die Enge getriebenes Kaninchen denken.
Sommer griff zur Kanne und goss Kaffee in die zwei Tassen. »Nehmen Sie Zucker?«
Schmidt nickte, und Sommer gab einen gehäuften Teelöffel Zucker in die Tasse, rührte um und schob sie über den Tisch. Schmidt hob sie an die Lippen und nippte daran, ohne Sommer aus den Augen zu lassen, als rechne er mit einem Trick.
Sommer nahm selbst einen Schluck Kaffee und stellte seine Tasse auf die Untertasse. »Ich bin neugierig, Günter. Die Briten haben sich eine Menge Mühe gemacht, um Sie herauszuholen. Sie haben einen Tunnel gegraben und unter beträchtlichen Risiken hochrangiges Personal hergeschickt. Warum sollten sie das tun? Was haben Sie ihnen angeboten?«
Schmidt schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte in der Kehle auf und ab.
»Bitte. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Wenn Sie etwas haben, das für sie von Wert ist, dann ist es das wahrscheinlich auch für mich. Ich bin ein pragmatischer Mensch. Vielleicht können wir zusammenarbeiten.«
Sommer lächelte, streckte die Hand aus und schob den Teller mit Keksen zu Schmidt hinüber.
»Meine Arbeit«, fing Schmidt an, aber dann stockte er und wusste nicht, wie er fortfahren sollte.
»Nur weiter. Ihre Arbeit?«
»Ich arbeite als Escort.«
»Als Prostituierter?«
Schmidt verzog das Gesicht, als finde er diese Bezeichnung abscheulich.
»Als Escort «, korrigierte Sommer sich. »Natürlich. Bitte, sprechen Sie weiter.«
»Vor einem Jahr war ich auf einer Party in Friedrichshain. Da waren auch ein paar Leute von der Partei. Gegen Ende der Nacht kam einer von ihnen auf mich zu und sagte, er würde mich gern wiedersehen.«
Er schwieg und trank einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Sommer sah, dass seine Hand zitterte.
»Reden Sie weiter, Günter«, ermutigte er ihn. »Sie machen Ihre Sache gut.«
»Ich sagte ja und wollte mich am Tag darauf im Café Warschau mit ihm verabreden. Er sagte, es sei ihm unmöglich, sich in der Öffentlichkeit mit mir zu treffen; ich solle lieber zu ihm nach Hause kommen. Das tat ich, und …« Wieder brach er ab und starrte in seinen Kaffee. Sommer ließ ihm einen Augenblick Zeit, und als Schmidt die richtigen Worte gefunden hatte, fuhr er fort. »Wir fingen dann an, uns regelmäßig zu treffen. Es war keine berufliche Beziehung, nicht wie die anderen. Ich dachte, wir wären verliebt. Er sagte jedenfalls, er liebe mich. Er sorgte für mich, schenkte mir hübsche Dinge und versprach, auch für meine Familie zu sorgen. Und das tat er auch. Ich bekam genug Geld, dass meine Familie in ein Haus außerhalb der Stadt ziehen konnte. Er gab mir sogar Geld, damit ich sie in Urlaub schicken konnte. Meine Eltern waren seit Jahren nicht mehr außerhalb von Berlin gewesen. Sie konnten es sich nicht leisten. Und jetzt fuhren sie an die Ostsee.«
Sommer musterte ihn mit abschätzigem Blick. Schmidt sprach ganz offen, und er sah keines der verräterischen Anzeichen dafür, dass er vielleicht nicht aufrichtig war. Sommer war ein ausgezeichneter Menschenkenner mit einem Gespür für Wahrheit und Lüge, und er glaubte, dass Schmidt die Wahrheit sagte.
»Und wie ging es weiter?«
»Er hat mit mir Schluss gemacht. Vor einem Monat. Ohne zu sagen, warum. Ich bin zu seiner Wohnung gegangen, aber er war nicht da. Ich wollte hinein, aber die Schlösser waren ausgewechselt worden. Ich wollte zu ihm ins Büro gehen, aber die Wache hat mich weggebracht und verprügelt. Sie haben mir gedroht, wenn ich wiederkäme, würden sie mich umbringen. Ich habe nichts Falsches getan. Das ist nicht fair. Es ist nicht fair, dass man mich so behandelt. Ich wollte nur, dass er mir sagt, womit ich diese Behandlung verdient habe. Aber das hat er nicht getan. Er hat es mir nicht erklärt. Er soll wissen, dass es falsch war, was er getan hat.«
Sommer beugte sich vor. »Dieser Mann«, sagte er, »wer ist es?«
Schmidt sah zu ihm auf, und sein Gesicht war bleich und glänzte von Schweiß.
»Es ist in Ordnung, Günter. Sie machen es gut. Aber das muss ich wissen.«
»Stanislaus Pabst.«
Sommer fehlten nicht oft die Worte, aber jetzt war er sprachlos. Pabst leitete das Ministerium. Er war General der Nationalen Volksarmee und Mitglied des Politbüros. Er war verantwortlich für die Stasi und die innere Sicherheit der DDR. Er war außerdem das Haupthindernis für Sommers eigenen Aufstieg im Parteiapparat. Sommer hatte sich immer bemüht, Pabst höflich zu begegnen, aber der General hatte kein Hehl daraus gemacht, dass er Sommer nicht leiden konnte und dass Sommer niemals die Stufen erreichen würde, die seinem Talent angemessen waren, solange er etwas zu sagen hatte.
Sommer verstand jetzt, warum die Briten einen solchen Aufwand betrieben hatten, um Schmidt außer Landes zu bringen. Der Schaden, den der junge Mann anrichten könnte, war … unkalkulierbar.
»Sie haben den Briten davon erzählt?«, fragte Sommer.
»Ja. Ich bin ins Konsulat gegangen und habe ihnen erzählt, was ich wusste. Sie sagten, ich solle wiederkommen. Das habe ich getan, und da war ein Mann von der Regierung, der sagte, er werde mich in den Westen bringen. Und meine Familie auch.«
»Und dieser Mann hieß …?«
»Mackintosh.«
Sommer wusste bereits, dass Harry Mackintosh für die Operation verantwortlich war. Er hatte einen Tipp von LEXIKON bekommen, und deshalb hatte er die Exfiltration verhindern können. Was für Erkenntnisse Schmidt tatsächlich zu verkaufen hatte, war nie ans Licht gekommen. Mackintosh hatte sich nicht in die Karten blicken lassen, und LEXIKON hatte es nicht herausfinden können.
Aber jetzt wusste Sommer es.
»Können Sie irgendetwas davon beweisen?«
Günter blickte weg, aber zu spät — Sommer durchschaute ihn.
»Bitte, Günter, ich möchte gern Ihr Freund sein. Aber das kann ich nur, wenn es keine Geheimnisse zwischen uns gibt. Ihre Geschichte ist interessant, aber ohne jeden Beweis ist es … tja, eben eine Geschichte.«
Günter nagte an seiner Unterlippe.
»Jetzt kommen Sie. Ich spüre, dass Sie mir etwas vorenthalten. Freunde tun das nicht.«
»Ich habe Ihnen meine Geschichte erzählt. Das ist alles.«
»Und jetzt lügen Sie mich an.«
»Nein, das …«
»Ich habe einen Freund beim MI6, Günter. Glauben Sie, ich weiß es nicht?«
Günter sah wieder zur Seite. »Ich habe Fotos.«
Sommer spürte ein erwartungsvolles Kribbeln an seiner Wirbelsäule. »Ach ja?«
Günter nickte. »Von Stanislaus und mir.«
»Die würde ich wirklich gern sehen.«
»Das geht nicht. Sie sind meine Versicherung.«
Verschiedene Möglichkeiten kreiselten durch Sommers Kopf, und er konnte das Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, nicht unterdrücken. Die Russen nannten es kompromat . Druckmittel. Die Briten hätten es für ihre eigenen Zwecke eingesetzt, sich Pabst nach ihren Bedürfnissen zurechtgebogen und die Institution, die er führte, und die Partei, die davon abhängig war, beschädigt. Das alles interessierte Sommer aber nicht, denn sonst wäre er mit Schmidt zu Pabst gegangen und hätte ihn darauf aufmerksam gemacht, dass hier eine Gefahr abgewendet worden war. Das war immer noch möglich. Vielleicht wäre Pabst dankbar. Vielleicht würde er ihn für seine Gewissenhaftigkeit und seinen Takt belohnen. Aber genauso gut, das wusste Sommer, könnte er ihn erschießen lassen, um sicher zu sein, dass er den Mund hielt.
Er hatte eine bessere Idee. Das kompromat würde nicht nur für die Briten nützlich sein. Er konnte Schmidt festhalten, ihn beiseiteschaffen und in Sicherheit bringen, um ihn im Augenblick seiner Wahl einzusetzen. Homosexualität war in der DDR seit zwanzig Jahren entkriminalisiert, aber der Verdacht würde Pabst immer noch das Genick brechen. Der Geruch würde an ihm hängen. Die Partei hätte keine Freude daran.
Sommer würde sich überlegen, wie und wann er diese Informationen nutzen würde, aber eins stand fest: Pabst war erledigt, und Sommer konnte sich schon in Stellung bringen, um seinen Platz zu übernehmen.
Er wandte sich wieder Schmidt zu. »Was war denn Ihr Plan? Sie wollten warten, bis Mackintosh einlöste, was er Ihnen versprochen hatte, und ihm dann sagen, wo er die Fotos findet?«
Günter nickte.
»Das war sehr klug. Aber es ist jetzt nicht mehr nötig. Sagen Sie mir, wo sie sind, Günter. Ich schicke jemanden, der sie holt.«
Der junge Mann schüttelte den Kopf. Irgendwo hatte er neue Kraft gefunden. »Sie müssen mir helfen, über die Grenze zu kommen.«
Sommer war bereit, Geduld zu beweisen; das war es wert. »Möglicherweise«, log er. »Aber Sie müssen mit mir kooperieren.«
»Bringen Sie mich in den Westen, und ich sage Ihnen, wo die Fotos sind. Ich schwöre.«
»Nein«, sagte Sommer. »So wird das nichts. Muss ich Sie daran erinnern, wo Sie sind? Sie sind nicht in der Position, Forderungen zu stellen. Sie werden hier freundlich behandelt, weil ich Ihr Freund sein möchte. Aber es gibt auch andere Möglichkeiten, die Sache zu regeln. Möglichkeiten, die ich Ihnen nicht empfehlen würde.«
Er setzte sich Schmidt gegenüber, starrte ihn an und schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln. »Wo finde ich die Fotos?«