M ackintosh kehrte zurück in sein kleines Apartment in einer Straße hinter dem britischen Konsulat. Dort wohnte er seit zwei Jahren. Die Regierung stellte ihm dieses Apartment, und es war eher funktional als behaglich. Aber damit hatte er kein Problem. Er hatte immer ein spartanisches Leben bevorzugt, und abgesehen von ein paar Büchern und Fotos, die er sich hatte schicken lassen, als er ins Büro Berlin versetzt worden war, hatte er wenig unternommen, um die kahlen weißen Wände und die blanken Bodendielen freundlicher zu gestalten.
Es gab ein paar Zugeständnisse an sentimentale Empfindungen.
Sein einziges Foto von ihm selbst und Élodie hatte er rahmen lassen und auf den Tisch gestellt. Es war auf Burg Hochosterwitz in Österreich aufgenommen worden; man behauptete, der Ort habe als Inspiration für Schneewittchens Schloss gedient, und Élodie hatte ihm erzählt, wie sehr sie den Film als Kind geliebt hatte. Das Foto war in der Schrägbahn entstanden, mit der Besucher auf den Berg fahren konnten.
Für diese Reise hatten sie sich zehn Tage Urlaub genommen. Sie waren von Österreich aus südwärts nach Venedig gefahren, dann nach Mailand und schließlich hinauf in die Schweiz. Am letzten Tag hatten sie zwei Stunden bei der Zürcher Kantonalbank verbracht, die für ihre Geheimhaltung berühmt war. Mackintosh hatte dort ein privates Konto eröffnet und die zweihunderttausend Franc darauf eingezahlt, die er vom französischen Auslandsnachrichtendienst dafür bekommen hatte, dass er den Dienst mit dem versorgte, was sie euphemistisch als »Updates« der britischen Geheimdienstinformationen aus ganz Westeuropa bezeichneten.
Mackintosh nahm das Foto in die Hand und sah es an. Élodie war die Agentin gewesen, die ihn rekrutiert hatte. Anfangs war das Verhältnis zwischen ihnen professionell gewesen, aber sie hatte ihm gestanden, dass daraus mehr geworden war, und er hatte ihr geglaubt. Sie war auf dieser Reise so glücklich gewesen, und er ebenfalls. Sie war das einzig Gute in seinem Leben gewesen, die Hoffnung, dass er fähig sein könnte, zu vergessen – das, was er in Belfast hatte tun müssen, die Männer, die er gebrochen, die Leben, die er zerstört hatte … und jetzt hatte man sie ihm genommen.
Ihn schauderte. Er schluckte, aber seine Kehle war plötzlich geschnürt, und Tränen ließen ihn blinzeln. Er drehte den Rahmen um und legte ihn mit dem Bild nach unten auf den Tisch. Was hatte es für einen Sinn, sich zu quälen?
Er ging in die Küche, nahm einen schmutzigen Henkeltopf aus der Spüle und wusch ihn unter dem Wasserhahn. Er trocknete ihn ab, öffnete eine Dose Suppe und wärmte die Suppe auf dem Herd auf. Wie mochte es Walker gehen? Mackintosh hatte sich an einen Tisch im Café Adler gesetzt, einem Lokal beim Checkpoint Charlie, das einen Blick auf den Grenzübergang bot. Er hatte den Saab gesehen, den Oxana beschafft hatte, und er hatte mit kaum verhüllter Beklommenheit zugeschaut, wie der Wagen langsam über die Sektorengrenze gerollt war. Er war zu weit weg gewesen, um mitzubekommen, was ablief, als der Saab im Osten angehalten hatte, aber er hatte gehofft, dass es sich um eine routinemäßige Kontrolle handelte. Er hatte sich einen Seufzer der Erleichterung gestattet, als der Saab weitergefahren war. Aber was jetzt gerade passierte, wusste Mackintosh im Grunde nicht. Oxana hatte nichts mehr von sich hören lassen, und weitere Informationen würden spärlich durchsickern, wenn überhaupt. Walker war wirklich auf sich selbst gestellt.
Der Plan war ein Schuss ins Blaue. Würde er funktionieren? Die Chancen standen schlecht, aber er musste einen Versuch wagen.
Mackintosh goss die Suppe in eine Schale und trug sie zusammen mit einem Stück altbackenem Brot und einem Löffel ins Wohnzimmer. Er stellte die Schale auf den Kaminsims und nahm eins der gerahmten Fotos herunter. Es zeigte seine Mutter und seinen Vater. Beide waren seit Jahren tot, und Geschwister hatte er nicht. Es gab noch einen Onkel in Brunei, aber das war alles. Er hatte keine Verwandten mehr. Auch Freunde hatte er nicht; die Bekanntschaften, die er in den Jahren an der Universität und beim Militär geschlossen hatte, verloren sich im Nebel der absichtsvollen Verschleierung nach seinem Wechsel zum Geheimdienst. Ihn störte das nicht. Er war nie besonders gesellig gewesen und hatte das Alleinsein mehr genossen als alles andere. Hier in dieser erzwungenen Verborgenheit West-Berlins zu leben, entsprach seinem Temperament. Élodie hatte ihm etwas gegeben, was schwer zu finden war: das Verständnis, das ein Spion dem anderen entgegenbrachte, und damit war es jetzt vorbei.
Er hörte Geräusche vor der Tür. Schritte. Er überlegte, ob es seine Nachbarn sein könnten, aber dann hörte er einen kurzen Wortfetzen, und er wusste, was kommen würde, aber bevor er etwas unternehmen konnte, explodierte die Wohnungstür in einem ohrenbetäubenden Missklang: Metall kreischte, als die Türangeln einknickten, Holz splitterte, als das Schloss aus dem Rahmen barst, und Befehlsgebrüll hallte, als drei Männer hereinstürmten.
Alle drei waren bewaffnet. Mackintosh wich zurück und hob die Hände über den Kopf. Ihm war klar, dass sie ihn erschießen würden, wenn er ihnen nur den geringsten Anlass bot.
»Nicht schießen«, rief er. »Ich bin unbewaffnet.«
»Auf den Boden!«, brüllte der erste Mann. Er sprach Englisch, aber mit starkem deutschem Akzent.
»Okay«, antwortete Mackintosh. Er ließ sich auf die Knie und dann auf den Bauch fallen. Die drei Männer kamen vollends herein, stürzten sich auf ihn und bogen seine Arme auf den Rücken. Er spürte scharfkantige Handschellen, die sich um seine Hand- und Fußgelenke schlossen. Die rechte Manschette an seinem Hemd wurde aufgerissen, der Knopf kreiselte auf den Bodendielen davon, und der Ärmel rollte sich über den Ellenbogen hoch. Er wusste, was passieren würde, und er wusste auch, es hatte keinen Sinn, sich dagegen zu wehren. Einer der Männer hatte eine Spritze in der Hand und stach die Nadel in die Vene der Armbeuge. Mackintosh wusste nicht, welches Betäubungsmittel die Stasi bevorzugte — Fentanyl, Carfentanyl, Sufentanil —, aber er spürte, wie es durch seinen Arm hinauf zur Schulter strömte. In seinen Adern pochte es eisig, und in seinem Körper pulsierte ein dumpfer Schmerz, bis das Licht verblasste und seine Lider so schwer wurden, dass er sie nicht mehr offen halten konnte.