O xana führte ihn zu einem Wagen mit Diplomatenkennzeichen, das ihn als Eigentum der Sowjetunion auswies. Sie stieg ein, und Jimmy folgte ihr. Es hatte angefangen zu schneien. Dicke Flocken wehten herab und leuchteten golden im Licht der Scheinwerfer.
Sie deutete mit dem Kopf zum Himmel. »Es wird einen Schneesturm geben. Bis morgen früh haben sie einen knappen halben Meter vorhergesagt.«
»Berlin gefällt mir immer besser«, sagte er.
Sie fuhren los.
»Was haben Sie heute unternommen?«, fragte sie.
»Mir die Stadt angesehen.«
»Und?«
»Und ich freue mich wirklich darauf, wieder abzureisen.«
»Es ist schlimmer denn je«, sagte sie. »Es gibt kein Geld. Keine Arbeit. Das System funktioniert nicht. Die Leute leiden.«
Jimmy sah sie an. »Ich dachte, Sie wären vom KGB.«
»Das heißt ja nicht, dass ich glaube, die alten Wege sind die einzigen Wege. Es gibt Leute in Russland, die gern eine Veränderung sehen würden. Hier und zu Hause.«
»Gorbatschow?«
»Ja, und auch andere. Es gibt viele, die unterstützen, was er versucht.« Sie starrte finster durch die Scheibe nach vorn. »Viele sind aber auch dagegen.«
Vor ihnen tauchte eine Kreuzung auf. Oxana bremste vorsichtig und ließ den Wagen vor der roten Ampel ausrollen.
»Kann ich Sie was fragen?«, fragte Jimmy.
»Natürlich.«
»Ich habe gehört, Sommer hat ein Tresorgewölbe. Ist das wahr?«
»Ja, das stimmt.«
»Was macht er mit einem Gewölbe?«
Sie warf einen Blick zu ihm herüber. »Haben Sie schon mal vom Nazi-Gold gehört? Während des Kriegs haben sie Schätze zusammengeraubt. Die Stasi auch.«
»Was für Schätze?«
»Überlegen Sie doch: Da gab es Ostdeutsche, die in den Westen geflüchtet sind, bevor die Mauer gebaut wurde, und vorher Tausende Juden, die in die Lager deportiert wurden oder geflohen und nie zurückgekommen sind. Sie alle hinterließen Bankschließfächer, Tresore und Safes, und die Stasi hat sie alle ausgeräumt. Das war ein staatlich sanktionierter Massendiebstahl. Ich habe von Zimmern voll Juwelen, Gold und Silber gehört, voll Antiquitäten, Skulpturen, Gemälden. Sparbücher. Lebensversicherungen. Bargeld. Sie haben alles auf Lastwagen verladen und weggebracht.«
»Und so etwas bunkert Sommer?«
»Ich weiß, dass er einen Tresorkeller hat, ich weiß nicht, was drin ist. Aber er ist habgierig. Es würde mich nicht wundern. Außerdem, Geld ist eine Sache, aber er hat sich immer auch für Informationen interessiert. Die Kisten, die sie da aufgemacht haben, dürften nicht nur Dinge von finanziellem Wert enthalten haben. Auch Korrespondenzen zwischen heimlichen Geliebten. Kompromittierende Fotos. Beweismaterial für Straftaten. Für so etwas lebt Sommer. Für Geheimnisse. Dinge, die er ausbeuten kann.«
Jimmy dachte an das, was Geipel erzählt hatte, und an den Gebäudeplan, den er gezeichnet hatte. Er überlegte, ob er es erwähnen sollte. Aber dann ließ er es bleiben. Oxana brauchte nichts davon zu wissen. Was sollte das einbringen?
»Also treffe ich ihn heute Abend nicht?«
»Nein. Nur einen seiner Stellvertreter. Er heißt Müller. Sie müssen ihn davon überzeugen, dass man Sie ernst nehmen sollte. Er entscheidet, ob Sie Sommer zu sehen bekommen oder nicht.«
»Und wie bringe ich ihn dazu?«
»Indem Sie überzeugend sind. Erinnern Sie sich an Ihre Legende: Sie sind Mitglied der Irish Republican Army. Sie hatten schon öfter mit Männern wie Müller zu tun. Er wird vielleicht versuchen, Sie einzuschüchtern, aber Sie dürfen sich nicht anmerken lassen, dass er Sie beunruhigt.«
»Leichter gesagt als getan«, wandte Jimmy ein. Die Unwägbarkeiten dessen, was man da von ihm verlangte, waren nie weit abseits seiner Gedanken.
»Sie werden die Tasche brauchen.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die Sporttasche im Fußraum.
»Was ist da drin?«
»Fünfzigtausend D-Mark. Sommer wird ein Zeichen Ihres guten Willens verlangen. Eine Anzahlung. Geben Sie es Müller, wenn er danach fragt.«
»Einfach so?«
»Es ist nicht Ihr Geld, Jimmy. Mackintosh hat es besorgt. Er kann die Konsequenzen tragen, wenn es verschwindet.«
Oxana blinkte und hielt vor einer Bar. Der Unterschied zwischen dieser und den Bars und Nachtclubs, die er in West-Berlin gesehen hatte, hätte größer nicht sein können. Jenseits der Mauer sah man dort nichts als Designerkleidung, Cocktails und neonbeleuchteten Marmor, während die neueste Avantgarde des Elektro-Pop so laut dröhnte, dass man gar nicht hörte, wie der Barkeeper für einen Wodka-Martini ein Wochengehalt verlangte. Diese Bar hier wäre zu Hause möglicherweise eine illegale Spelunke gewesen. Es war ein niedriger, eingeschossiger Bau im leeren Fußabdruck eines Gebäudes, das nach dem Krieg abgerissen worden sein musste, und sah aus, als bestünde es vollständig aus Beton-Hohlblocksteinen, die planlos mit einem Quast und weißer Farbe attackiert worden waren. Die vier Fenster waren so schmutzig, dass sie wahrscheinlich seit Jahren nicht mehr geputzt worden waren. Die Holztür im Eingang stand offen.
»Müller sollte schon warten. Drinnen, hinten. Er weiß, wie Sie aussehen.«
Jimmy öffnete seine Tür und stieg aus.
»Viel Glück«, sagte Oxana.
Jimmy nickte und stand fröstelnd in der Kälte.
Viel Glück .
Ja, das konnte man sagen.
Glück würde er brauchen, und zwar eine Menge.