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O xana fuhr sie durch die Stadt. Der rote Wimpel der UdSSR, der vorn auf dem Kotflügel befestigt war, flatterte im Fahrtwind. Mackintosh war nervös; er rechnete damit, jeden Augenblick blitzendes Blaulicht hinter ihnen zu sehen, weil die Volkspolizei sie verfolgte. Aber nichts passierte. Niemand verfolgte sie. Des Wetters wegen waren die Straßen still; Schneepflüge sorgten dafür, dass die Hauptstrecken befahrbar blieben. Sie tuckerten hin und her, und Lastwagen verstreuten Splitt und Salz. Oxana fuhr sicher, nicht zu schnell, und passte sich an die Wetterbedingungen an. Sie blickte starr geradeaus und kniff die Augen zusammen in dem Licht, das die Schneeschleier reflektierten. Mackintosh hielt die Makarow auf dem Schoß. Er strich mit den Fingern über den Lauf und fragte sich, ob er sie wohl noch brauchen würde. Aber er wusste, wenn es nötig sein sollte, würde es kaum darauf ankommen.

Sie überquerten die Spree und den Spreekanal, fuhren westwärts auf der Leipziger Straße und dann nach Süden auf der Friedrichstraße. Der Checkpoint Charlie tauchte vor ihnen auf. Mackintosh sah die Streben des Wachturms daneben und den Lichtstrahl eines Suchscheinwerfers, der sich zuckend wie ein Finger durch den Schneevorhang bohrte und auf ihnen verharrte. Er und Oxana hoben eine Hand schützend vor die Augen. Sie hielt an der ersten Schranke an und wartete darauf, dass ein Grenzer an ihr Seitenfenster kam. Der Mann hielt eine Taschenlampe in der Hand und leuchtete damit in den Wagen, nachdem er Oxana signalisiert hatte, sie solle das Fenster herunterdrehen. Sie gehorchte, und kalte Windböen wehten den Schnee herein.

»Papiere«, befahl der Soldat.

Oxana reichte ihren Diplomatenpass hinaus und wartete, während er ihn kontrollierte.

»Wer ist da bei Ihnen?«, fragte er.

»Zwei Kollegen.«

»Die Papiere, bitte.«

»Kümmern Sie sich nicht um sie«, antwortete sie.

»Die Papiere — sofort! «

»Haben Sie nicht gesehen, wer ich bin, Soldat?«, fuhr sie ihn an. »Ich bin in Amtsgeschäften unterwegs, und ich brauche mich Ihnen nicht zu erklären. Vergessen Sie nicht, wo Ihr Platz ist, und öffnen Sie die Schranke.«

Der Soldat starrte mit hartem, kaltem Blick auf sie herunter und wandte sich dann ab. Er nahm ein Walkie-Talkie von seinem Gürtel und sprach hinein. Mackintosh hielt die Makarow tief unten neben sich, wo man sie nicht sehen konnte. Sie würde ihnen nichts nutzen, sagte er sich. Er würde den Soldaten vielleicht damit ausschalten können, aber die anderen Grenzer würden sie nicht weit kommen lassen. Im Wachturm würden Scharfschützen positioniert sein, und in der Baracke befanden sich weitere Soldaten mit automatischen Waffen.

»Die lassen uns nicht durch«, sagte Schmidt.

»Seien Sie still!«, zischte Mackintosh.

Er hörte statisches Rauschen, als der Grenzer sein Gespräch beendete und sich das Walkie-Talkie wieder an den Gürtel hängte, bevor er zu ihnen zurückkam.

Er hielt Oxana ihren Pass entgegen. »Fahren Sie bitte durch.«

Oxana nahm den Pass, drehte das Fenster hoch und fuhr unter der offenen Schranke durch. Sie bog rechts ab, fuhr durch die schmale Lücke in der ersten Mauer und näherte sich der zweiten Schranke. Die Wachbaracke stand rechts, und eine Reihe von Autos parkte links von ihnen. Sie waren auf halbem Weg zur nächsten Schranke, als zwei Soldaten auf der anderen Seite aus der Baracke kamen und ihnen den Weg versperrten. Sie waren mit AK-47-Sturmgewehren bewaffnet, und sie drückten die Kolben an die Schultern und zielten auf den Wagen.

»Scheiße«, sagte Mackintosh.

Er sah sich um. Vier Soldaten, unter ihnen der, der sie an der Schranke aufgehalten hatte, näherten sich von hinten. Alle waren bewaffnet. Der Soldat hatte sie durchgelassen, um sie in diesem zweiten Grenzbereich einzukesseln. Bis zum amerikanischen Sektor waren es fünfzehn Meter, aber ebenso gut hätten es fünfzehn Kilometer sein können. Sie konnten nichts tun.

Mackintosh sah Oxana an. Sie biss sich auf die Unterlippe und blickte zwischen den Männern vor ihnen und denen im Rückspiegel hin und her. Mackintosh drehte sich um und sah, dass Schmidt starr vor Angst war; er hielt den Kopf gesenkt und presste die Hände an die Schläfen. Mackintosh dachte an die Pistolen, die sie aus Sommers Haus mitgenommen hatten. Seine Finger umspannten die Makarow. Einen oder zwei Soldaten würde er beseitigen können, aber die anderen würden den Wagen durchlöchern wie einen Schweizer Käse, bevor sie in den Westen gelangen könnten.

Noch ein Soldat kam aus der Wachbaracke. Er war offensichtlich ranghöher als die anderen; man sah es an seinen blitzenden Schulterklappen. Er trug ein Clipboard und seine Taschenlampe bei sich. Er kam zum Wagen und forderte Oxana auf, das Fenster noch einmal herunterzudrehen.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie wütend.

»Wer ist da bei Ihnen, Fräulein?«, fragte er.

»Das geht Sie nichts an. Ich bin in diplomatischen Angelegenheiten unterwegs.«

»Das ist mir egal«, sagte der Mann. »Wer sind die?«

»Ich sage doch, das geht Sie nichts an.«

»Dann werde ich Sie alle bitten müssen, auszusteigen.«

»Nein«, erwiderte Oxana, »Sie werden uns die Grenze passieren lassen.«

Der Soldat kam noch einen Schritt näher und brüllte durch das Wagenfenster. »Steigen Sie sofort aus, oder ich befehle meinen Leuten, zu schießen.«

Oxana drehte sich zu Mackintosh um. »Warte hier«, sagte sie. »Öffne für niemanden außer mir die Türen. Die suchen nur einen Grund, um auf uns zu schießen.«

»Was hast du vor?«

»Ich will telefonieren.«

Sie stieg aus und schloss die Tür hinter sich. Mackintosh langte quer durch den Wagen und drückte den Verriegelungsknopf herunter. Mit einem befriedigenden Geräusch rasteten die Schlösser ein.

Auch die Fenster waren geschlossen, aber Mackintosh hörte Oxanas Stimme, als sie den Soldaten mit dem Clipboard zurechtwies. Sie unterstrich ihre Tirade mit harten kleinen Stößen ihres Zeigefingers gegen die Brust des Mannes. Er wandte sich ab und führte Oxana in die Baracke. Durch ein breites Fenster neben der Tür konnten die Soldaten auf die Fahrzeuge hinausschauen, die den Checkpoint passierten. Es schneite immer noch heftig, aber Mackintosh konnte den Soldaten sehen, der Oxana hineingeführt hatte. Er reichte ihr einen Telefonhörer. Sie hielt ihn ans Ohr und fing an zu sprechen.

»Was ist da los?«, fragte Schmidt mit zitternder Stimme.

»Alles läuft bestens.« Mackintosh bemühte sich um einen beruhigenden Ton, obwohl er selbst alles andere als beruhigt war.

Oxana reichte dem Soldaten den Hörer und blieb mit verschränkten Armen stehen, während der Mann weitertelefonierte. Schließlich gab er ihr den Hörer zurück, sie sprach noch einmal hinein und legte dann auf. Wieder redete sie auf den Soldaten ein, verpasste ihm noch ein paar weitere wütende Stöße mit dem Finger, marschierte zur Tür und trat heraus.

»Da kommt sie«, sagte Mackintosh.

Oxana erreichte das Auto, Mackintosh langte hinüber, um die Tür zu entriegeln, und sie stieg ein.

»Was war da los?«

»Sie lassen uns durch.«

»Wen hast du angerufen?«

»Jemanden mit Befehlsgewalt, dem sehr daran gelegen ist, dass wir Herrn Schmidt über die Grenze bringen.«

Sie umfasste das Steuer und wartete darauf, dass die bewaffneten Grenzer den Weg freigaben. Sie legte den Gang ein und fuhr langsam zwischen ihnen hindurch. Mackintosh sah ihre Gesichter vor seinem Fenster, als sie vorbeifuhren. Ihre Mützen waren schneebedeckt, ihre Gesichter rot vor Kälte, und sie starrten mit unverhohlener Feindseligkeit in den Wagen.

Das letzte Stück der Fahrbahn durch den Checkpoint führte im Slalom zwischen zwei Reihen Panzersperren hindurch. Oxana umrundete die erste Barriere, lenkte nach rechts, um das Ende der zweiten zu umrunden, und dann beschleunigte sie langsam und fuhr auf die amerikanische Seite der Sektorengrenze zu.

Mackintosh schaute zurück nach Ost-Berlin. Es sah trüber und dunkler aus als die andere Hälfte der Stadt und schien sich seiner Armut zu schämen. Der Vergleich zwischen der Bedürftigkeit derer, die dort lebten, und dem entspannten Luxus auf der anderen Seite der Mauer war krass. Mackintosh hatte das Gefühl, dass ihm eine schwere Last von den Schultern genommen worden sei, und zum ersten Mal seit Tagen erlaubte er sich, auszuatmen und sich zu entspannen.

Er wandte sich wieder nach vorn und sah durch die Windschutzscheibe, wie zwei amerikanische Militärpolizisten, mit Sturmgewehren bewaffnet, sie heranwinkten.

Sie waren fast zu Hause.