Prolog
L auf! Lauf! Lauf! , schrie die Stimme in ihrem Kopf. Du darfst nicht stehen bleiben! Während ihre Beine sich schneller und immer schneller durch das Dickicht vorwärts kämpften, zuckte ihr Kopf zu einem panischen Schulterblick herum.
Ein böser Fehler, denn schon in der nächsten Sekunde prallte sie mit der linken Schulter gegen einen Baumstamm, konnte sich nur mit Mühe beherrschen, nicht schmerzerfüllt aufzuschreien.
Weiter! Die Stimme in ihrem Kopf war unnachgiebig. Deine Wunden kannst du später lecken.
Falls es für sie überhaupt ein Später geben würde.
Sie rang angesichts dieses grauenvollen Gedankens nach Luft, versuchte, das Brennen in ihrer Lunge zu ignorieren.
Wenn es nur nicht so stockdunkel wäre …
Hier draußen gab es sowieso weit und breit kein Haus, keine Laternen, nur ab und an erhellte der Lichtschein eines auf der Landstraße in der Nähe vorbeifahrenden Autos für kurze Zeit den Himmel oberhalb der Baumkronen, dann wurde alles wieder von dieser schier undurchdringlichen Schwärze verschluckt.
Wie hatte sie nur so blöd sein können, in Richtung des Waldes zu laufen?
Sie hätte wissen müssen, dass es zwischen all den Bäumen und Sträuchern noch schwieriger sein würde, schnell vorwärts zu kommen, ohne sich zu verletzen.
Wie auf Befehl fing ihre linke Schulter an zu schmerzen.
Nicht heulen!, drängte die Stimme in ihrem Kopf. Laufen! Nur so hast du den Hauch einer Chance.
Sie zwang sich dazu, stur geradeaus zu starren, sich nicht von ihrer Angst dazu hinreißen zu lassen, sich wieder und wieder umzudrehen. Stattdessen versuchte sie, so gut es eben ging, die Umrisse der Bäume vor sich zu erkennen, den schmalen Trampelpfad zu ihren Füßen, doch es war beinahe aussichtslos. Immer wieder strauchelte sie oder streifte im Vorbeirennen einen Baum, riss sich den dünnen Stoff ihres Jäckchens immer mehr und mehr auf, bis ihre Haut an den Armen nur noch eine einzige blutig tuckernde Masse war.
Ihr Atem ging inzwischen nur noch stoßweise und vor ihren Augen tanzten helle Lichtpunkte – ein Zeichen dafür, dass sie schon beinahe am Ende ihrer Kräfte angelangt war –, doch stehen zu bleiben, um eine kurze Verschnaufpause einzulegen, war keine Option.
Oder doch?
Sie streckte die Arme vor ihrem Körper aus, lief langsamer, bis ihre Fingerspitzen die raue Rinde eines Baums ertasteten. Erschöpft lehnte sie sich für den Bruchteil einer Sekunde gegen das Holz, dann zwang sie sich, weiterzulaufen. Sie warf einen letzten schnellen Blick zurück, konzentrierte sich auf die Umgebungsgeräusche.
Da!
Ein leises Rascheln ganz in der Nähe.
Kurz darauf ein Knacksen, so als würde jemand penibel darauf achten, wo genau er hintrat.
Ihr Herz setzte vor Panik sekundenlang aus.
Tränen der Verzweiflung schossen ihr in die Augen.
Brich mir jetzt um Gottes willen nicht zusammen!
Für so was ist keine Zeit!
Sie schluckte, schickte einen stummen Befehl an ihre Gliedmaßen, sie jetzt keinesfalls im Stich zu lassen. Sie musste weg hier, raus aus diesem Waldstück, versuchen, irgendwie das nächste Dorf zu erreichen.
Inzwischen war ihr Körper nur noch eine funktionierende Masse aus Muskeln, Knochen und Fleisch, darauf gedrillt, einfach nur zu überleben.
Ein weiteres Knacksen ertönte.
Noch näher als gerade eben.
Schwere Schritte auf dürrem Geäst.
Ihr Herz fühlte sich an, als bliebe es stehen.
Hatte sie gerade den heißen Atem ihres Verfolgers im Rücken gespürt?
Ihr Bauch sagte ihr, dass es hilfreich wäre, in Zickzacklinien zu flüchten, doch ihr Verstand hatte längst erfasst, dass es sinnlos wäre.
Wer immer der Kerl war, der sie verfolgte, er tat dies nicht zum ersten Mal, davon war sie überzeugt.
Sie hatte es vorhin in seinen Augen sehen können.
Dunkel, beinahe schwarz und kalt wie Eis.
Dazu dieses fiese Grinsen.
Das war kein Mann. Zumindest keiner wie ihr Vater oder ihr älterer Bruder.
Der Typ, der sie verfolgte, war ein Monster.
Keines von der Sorte, wie sie in den Büchern vorkamen, die sie so gerne las. Nein, das Monster hinter ihr war schlimmer, weil man ihm das Böse in seinem Innern nach außen hin nicht ansah.
Als die Erinnerung sie wieder einholte, war sie für einen Sekundenbruchteil abgelenkt, stolperte über einen Wurzelstock, prallte mit dem Gesicht voraus auf den harten Waldboden.
Ein Schmerzensschrei entfuhr ihr, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können.
Kurz darauf vernahm sie ein Kichern.
Es klang gemein und böse, zeugte davon, dass das Monster ganz nah war.
Sie rappelte sich auf, schleppte sich mit zitternden Gliedern vorwärts.
Was würde sie jetzt dafür geben, in dem muffigen alten Bett im Cottage zu liegen, nebenan im Zimmer ihre schnarchenden Eltern, gegenüber Max, ihr um drei Jahre älterer Bruder.
Stattdessen hatte sie sich für das hier entschieden. Für einen Kampf um Leben und Tod, glücklicherweise ihren einzigen bis jetzt, tragischerweise vielleicht ihren letzten.
Und wofür das alles?
Für einen letzten Kuss von Gerry, einem Jungen, der etwa drei Kilometer von dem Ort lebte, den ihre Eltern als das perfekte Familien-Urlaubsziel auserkoren hatten.
Einen Urlaub, auf den sie von Anfang an keinen Bock gehabt hatte.
Sie war eher der Karibik-Typ, brauchte es warm im Urlaub, dreißig Grad mindestens, weißen Sand, badewannenwarmes Wasser, einen von meterhohen Palmen gesäumten Strand.
Die Küste Cornwalls war nur etwas für Langweiler wie ihre Eltern und für Rentner.
Auf diesem Fleckchen Erde war es beinahe täglich windig und frisch, vom eiskalten Atlantik, in den sie während der vergangenen vierzehn Tage nicht einmal ihren großen Zeh ins Wasser gehalten hatte. Sie verstand nicht, wie ihre Eltern das hier einem Fünfsternehotel auf den Malediven vorziehen konnten.
Sie hatten ihr erklärt, dass es wichtig sei, auch das eigene Land mit all seinen Facetten kennenzulernen, doch ganz ehrlich – sie hätte gut und gerne darauf verzichten können.
Das Einzige, das diesen rundum beschissenen Urlaub davor bewahrt hatte, nicht zur vollkommenen Katastrophe zu mutieren, war Gerry gewesen.
Er jobbte während der Saison als Kellner in einem der kleinen Fischlokale in Port Isaac, wo sie vor einer knappen Woche mit ihrer Familie beim Essen gewesen war.
Er hatte sie so frech angegrinst, sie abgepasst, als sie kurz in Richtung Toilette verschwunden war, sie ausgequetscht.
Nachdem sich herausstellte, dass er in Beeny wohnte, eine knappe dreiviertel Stunde Fußmarsch von Boscastle entfernt, hatte er sie für den folgenden Abend zu einer Strandparty eingeladen.
Es hatte ein wenig Überredungskunst ihrerseits gebraucht, um ihre Eltern davon zu überzeugen, sie wegzulassen, doch letztendlich war es ihr gelungen, sich für ein paar Stunden abzuseilen.
Sie hatte sich mit Gerry vor dem kleinen Pub in Boscastle getroffen und anschließend waren sie zusammen zum Crackington Beach gefahren, wo Gerrys Freunde bereits auf sie warteten. Es war ein lustiger Abend geworden, was nicht zuletzt auch daran gelegen hatte, dass Gerrys Freunde so nett waren, sie vorbehaltlos in ihrer Mitte aufzunehmen.
Irgendwann, es war schon dunkel gewesen, hatte Gerry sie beiseitegenommen und gefragt, ob sie Lust auf einen Spaziergang habe.
Sie hatte Ja gesagt und war gemeinsam mit ihm bis nach Crackington gelaufen, wo er sie auf einen Eisbecher eingeladen hatte.
Gerry war ein toller Kerl. Er konnte gut zuhören, gab ihr das Gefühl, sich nicht verstellen zu müssen. In seiner Gegenwart konnte sie ganz sie selbst sein, fühlte sich geborgen und verstanden.
Als er sie an jenem Abend zum ersten Mal geküsst hatte, war es ganz anders gewesen als mit all diesen Typen aus Manchester, mit denen sie in der Vergangenheit angebandelt hatte. Und nachdem sie ihm gestern gesagt hatte, dass ihr Urlaub bald schon vorbei sei, nahm er sie in seine Arme, drückte sie ganz fest an sich, versprach, dass sie in Kontakt bleiben würden. Er würde sie in Manchester besuchen kommen, hatte er versprochen, wollte ihr so beweisen, dass er für sie genauso empfand wie sie für ihn.
Zur Bekräftigung seines Versprechens hatte er in seine Hosentasche gegriffen und einen glitzernden Kettenanhänger hervorgeholt, ihn ihr geschenkt.
Er stamme von seiner Großmutter, hatte er gesagt, ihr dabei fest in die Augen gesehen, sie so sanft wie nie zuvor geküsst.
Sie war dahingeschmolzen, hatte gegen den Kloß in ihrem Hals ankämpfen müssen, um nicht loszuheulen.
Danach hatte er sie gefragt, ob sie Lust habe, mit zu ihm zu kommen. Natürlich hatte sie geahnt, worauf das hinausliefe, aber es war okay gewesen. Sie hatten den Nachmittag zusammen verbracht, Dinge getan, die ihren spießigen Eltern die Schamröte in die Gesichter treiben würde, und es hatte sich gut angefühlt. Und gleichzeitig total traurig, wusste sie doch, dass ihr Leben in Manchester schnell wieder von der Ödnis eingeholt würde, die alles und jeden dort stets im Würgegriff hatte.
Nur deswegen hatte sie am Abend vor ihrer Abreise beschlossen, abzuwarten, bis ihre Eltern schliefen, nur um klammheimlich aus dem Fenster zu steigen und nach Beeny zu laufen, um Gerry einen letzten Überraschungsbesuch abzustatten.
Sie hatte sich ausgemalt, wie sehr er sich freuen würde, sie noch einmal zu Gesicht zu bekommen. Doch wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, hatte sie es nicht für ihn, sondern in erster Linie für sich selbst getan.
Und jetzt … jetzt stellte sich heraus, dass diese Entscheidung die falsche gewesen war.
Anstatt behütet und sicher in ihrem muffigen Urlaubsdomizil zu schlafen, hatte sie sich durch unüberlegtes Handeln und ihre eigene Blödheit in diese furchtbare Lage gebracht.
Das leise Fauchen eines zurückschnipsenden Astes katapultierte sie aus ihren Erinnerungen in die Gegenwart zurück. Dann vernahm sie ein leises Geräusch, das an ein Schnauben erinnerte.
Das Schnauben eines Raubtiers auf der Jagd , dachte sie. Nur, dass in diesem Fall sie die Beute sein würde.
Sie spürte, dass Angst und Entsetzen ihr mit einem Mal alle Kraft aus dem Körper saugten, sie es plötzlich nicht mehr schaffte, auch nur einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Es dauerte eine Weile, ehe ihr klar wurde, dass ihr Verstand endlich erfasst hatte, was ihre müden Glieder schon längst wussten – dass sie verloren hatte.
Ihr Verfolger würde nie aufgeben, sie immer weiter jagen, darauf setzen, dass ihr irgendwann auch das letzte bisschen Kraft ausging.
Doch bis es so weit war, genoss er das Spiel, sie erst in Angst und Schrecken zu versetzen, dann zurückzufallen, damit sie neue Hoffnung schüren konnte, nur um kurz darauf noch näher zu kommen. Er wollte sie mürbe machen, sie an den Rand des Wahnsinns treiben, sie dazu bringen, dass sie aufgab.
Und im Grunde war ihm das bereits gelungen.
Ihre Glieder schmerzten, ihre wund gescheuerten Arme tuckerten, ihre Lunge brannte.
Außerdem hatte sie so großen Durst wie nie zuvor in ihrem jungen Leben.
Ihre Mundhöhle fühlte sich trocken und pappig an, die Zunge klebte ihr wie ein totes Tier am Gaumen.
»Was willst du von mir?«, schrie sie aus letzter Kraft und sank nach vorne, alle viere auf dem feuchtkalten Waldboden, den Kopf gesenkt.
Ein bösartiges Lachen ertönte, das schließlich in ein Grunzen überging.
Es war ganz nah an ihrem Ohr.
Und dann spürte sie ihn.
Zuerst seine Finger, die ihr sanft übers Haar strichen. Danach seine ganze Hand, die forsch nach vorne wanderte, sich um ihren Hals schloss, fest zupackte und sie ohne große Anstrengung zur Seite umwarf.
Sie schloss die Augen, als sie die Umrisse seines Körpers über sich sah, schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass es schnell gehen möge.
Sie hielt die Luft an, als der Mann ihr zuerst Jacke und Shirt vom Körper zerrte, danach Hose, Schuhe und Unterwäsche, rechnete damit, dass sie als Nächstes seine Hand an ihrer Brust oder Schlimmerem spüren würde, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen spürte sie etwas sehr Kaltes an ihrem Hals, das langsam, aber stetig in Richtung ihres Brustkorbes wanderte.
Dann explodierte der Schmerz.