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Augsburg
2019
» K omm doch wieder ins Bett«, murmelte Daniel und sah Sienna müde an. »Wieso stehst du überhaupt mitten in der Nacht am Fenster und qualmst eine nach der anderen?«
Sie drehte sich zu dem Kerl in ihrem Bett um, hob die Schultern. »Kann nicht schlafen«, sagte sie schließlich schulterzuckend und nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. Sie legte den Kopf schräg, sah Daniel an. »Aber wo du schon mal wach bist, könntest du dich auch gleich verkrümeln. Dann bekomme ich wenigstens ein paar Stunden Schlaf, bevor ich morgen nach Berlin fahren muss.«
Als sie seinen ungläubigen Gesichtsausdruck sah, drehte sie demonstrativ den Kopf weg.
»Nicht dein Ernst oder?«
Sie verdrehte die Augen, nahm einen Zug, inhalierte. Dann wandte sie sich zu Daniel, sah ihn fest an. »Doch. Du weiß ja, dass ich meine Ruhe brauche. Morgens neben jemandem aufzuwachen, setzt mich irgendwie unter Druck.«
Sie beobachtete, wie er die Decke zurückschlug, sich aus dem Bett schälte, mit mürrischem Gesichtsausdruck in seine zerknitterten Klamotten schlüpfte.
»Sieh es mal von der positiven Seite. So kannst du dir fürs Büro wenigstens was Frisches anziehen.«
»Das könnte ich auch, wenn du mir erlauben würdest, hier ein paar Sachen zu bunkern. Ich meine …« Er brach ab, sah sie an, wirkte beinahe wütend. »Wir schlafen jetzt seit knapp sechs Monaten miteinander und für manch einen mag das etwas bedeuten. Zum Beispiel, dass es langsam Zeit wird, die ganze Nacht zusammen zu verbringen. Oder hin und wieder gemeinsam essen zu gehen. Was zu unternehmen. Freunde und Familie des anderen kennenzulernen.« Er hielt inne, sah sie abwartend an.
Sienna starrte ungerührt zurück, nahm einen weiteren Zug. Dann schnippte sie die nur halb gerauchte Kippe durch den Fensterspalt nach draußen. »Keine Zeit für so einen rührseligen Quatsch«, gab sie lapidar zurück und spürte augenblicklich, wie sehr sie Daniel mit dieser Äußerung verletzt hatte.
Blöderweise fühlte es sich gut an.
Natürlich wusste sie, wie krank das war, aber sie kam nicht dagegen an. Sie war eben keine von diesen Frauen, die sich nur als vollwertiger Mensch fühlten, wenn sie einen Kerl an ihrer Seite hatten. Sie war sich selbst genug, schon immer gewesen, genoss das Alleinsein, liebte es, tun und lassen zu können, was sie wollte, war durch und durch davon überzeugt, dass feste Beziehungen überbewertet wurden.
Der einzige Grund, wegen dem sie sich immer wieder auf ein Treffen mit Daniel einließ, war, dass er ein ausgesprochen ausdauernder Liebhaber war.
Wenn ihr danach war, rief sie ihn an, säuselte ihm einige honigsüße Worte ins Ohr. Mehr brauchte er meist nicht, um innerhalb kürzester Zeit bei ihr aufzuschlagen und ihr das Hirn aus der Birne zu vögeln.
Sie sah ihm dabei zu, wie er in seine Schuhe schlüpfte, fragte sich, ob sie diesmal zu weit gegangen war und was sein würde, wenn dieses Treffen ihr letztes gewesen sein sollte. Doch wie erwartet, machte ihr die Vorstellung, dass Daniel fortan der Vergangenheit angehörte, nicht das Geringste aus. Wenn sie ihn jetzt so ansah, im Wissen, es könnte das letzte Mal sein, spürte sie absolut nichts, geschweige denn, empfand sie irgendwelche romantischen Gefühle für ihn.
Sie folgte ihm, als er in den Gang hinaus trat, wartete, bis er in sein Jackett geschlüpft war und zur Tür ging. Dort drehte er sich noch einmal nach ihr um, schien auf etwas zu warten.
»Okay, also ich würde sagen, wir telefonieren irgendwann …«, sagte sie gelangweilt und brachte es kaum über sich, ihn anzusehen.
Nicht, weil sie sich schämte, sondern vielmehr, weil es ihr schlicht und ergreifend egal war. Weil ER ihr egal war.
Sie grinste innerlich, als er sich kopfschüttelnd umdrehte, einen nicht ganz jugendfreien Fluch ausstieß und hinter sich krachend die Wohnungstür ins Schloss fallen ließ.
Als sie endlich allein in ihrer Wohnung war, zündete sie sich eine neue Zigarette an, setzte sich auf das breite Fensterbrett im Wohnzimmer, starrte nach unten zu den blinkenden Lichtern der vorbeifahrenden Autos.
Allein schon wegen ihres Jobs war in ihrem Leben kein Platz für ausschweifende Romantik.
Als freie Fotografin arbeitete sie für verschiedene Medien, die es erforderlich machten, dass sie absolut unabhängig war. Oft musste sie von heute auf morgen ihre Klamotten packen und irgendwohin fahren, wo sie mehrere Tage am Stück verbrachte, um einen Auftrag abzuarbeiten.
Und dann waren da ihre Herzensprojekte. Manchmal fuhr sie nur für ein paar Fotos Tausende von Kilometern oder flog für ein Shooting ans andere Ende der Welt. Sie träumte von einer eigenen Ausstellung, wollte mit ihren Fotografien etwas bewegen, vielleicht sogar etwas verändern. Was ihren Job anging, hatte sie also definitiv eine gefühlvolle Ader, auch wenn die Männer, die bislang ihren Weg gekreuzt hatten, dies vielleicht anders sehen mochten.
Dass sie sich so vehement gegen emotionale Stabilität im Leben wehrte, so ihre Mutter, lag mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit daran, was ihr Vater damals mit ihnen abgezogen hatte.
Sienna erinnerte sich mittlerweile nur noch vage an ihn, was daran lag, dass es inzwischen fast zwanzig Jahre her war, seit er die Familie verlassen hatte.
Es war im Sommer 2000 gewesen. Zu der Zeit hatten sie alle in London gelebt und regelmäßig an der Südküste Englands Urlaub gemacht. Und während einer dieser Familienurlaube hatte er sich still und heimlich vom Acker gemacht.
Später hatte ihre Mutter einmal erwähnt, dass sie bereits lange zuvor geahnt habe, dass es irgendwann so weit kommen würde. Eben weil es immer wieder Affären gegeben habe, ihr Vater kein Mann für nur eine Frau gewesen sei.
Jetzt, wo Sienna darüber nachdachte, erinnerte sie sich an einen Abend kurz nach seinem Verschwinden, an dem sie ihre Mutter volltrunken und heulend in ihrem alten Haus in London vorgefunden hatte, vor sich einen Haufen Fotos von ihrem Vater, die sie allesamt zu Schnipseln verarbeitet hatte. Sienna wollte wenigstens eines davon retten, damit ihr eine Erinnerung an ihren Vater blieb, doch ihre Mutter hatte es ihr wütend aus der Hand gerissen.
»Du brauchst das Schwein nicht«, hatte sie gelallt, »genauso wenig wie ich.« Dann hatte sie das Bild zerknüllt und mit einem Feuerzeug verkohlt.
Am nächsten Morgen tat es ihrer Mutter leid, dass sie so mit ihr gesprochen hatte, und Sienna fragte sich, wieso sie sich nach all den Jahren gerade an diese Szenerie erinnerte.
Sie war sieben Jahre alt gewesen, als ihr Vater sie verlassen hatte und gerade in der ersten Zeit danach war es ihr unbegreiflich vorgekommen, wie er hatte gehen und sie alleine lassen können. Sie war so traurig gewesen, hatte sich vollkommen alleine gefühlt und irgendwann unweigerlich gefragt, ob es an ihr gelegen hatte oder an ihrer Mutter, dass er gegangen war. Eine Zeit lang hatte sie sich deswegen ihrer Mutter gegenüber ziemlich biestig verhalten, doch dann war die Trauer über den Verlust des Vaters in Zorn umgeschlagen.
Die ersten Jahre hatte er ihr zu Weihnachten und zu ihren Geburtstag, manchmal auch einfach nur so Karten geschrieben, doch dann, als sie älter wurde, hörten sie eines Tages einfach auf.
Aber wenn sie ganz ehrlich war, musste sie zugeben, dass ihr zu dem Zeitpunkt dieses eine winzige Lebenszeichen von ihm sowieso nicht mehr besonders viel bedeutet hatte. Es hatte sich zu viel Wut in ihr angestaut, darüber, dass er ihre Mutter und sie einfach so gegen eine andere Familie ausgetauscht zu haben schien.
Das war auch die Zeit gewesen, als die Erinnerung an diesen Mann fast gänzlich verblasste. Die ersten zwei Jahre hatte sie sich noch an seine sanften Augen erinnert, daran, wie sie funkelten, wenn er Blödsinn mit ihr machte. Er hatte sie seine kleine Prinzessin genannt und Sienna musste zugeben, dass sie es genossen hatte, wie sehr ihr Vater sie umgarnte, sie auf Händen trug. Vielleicht war sein plötzliches Verschwinden auch deswegen so unerträglich grausam gewesen? Weil sie zuvor so eng miteinander waren und sie schließlich erkennen musste, dass für ihn alles nur ein Spiel gewesen war. Denn welcher Vater verließ einfach so seine Tochter, wenn sie ihm wirklich so wichtig war, wie er immer behauptet hatte.
Dasselbe hatte auch ihre Mutter wieder und immer wieder zu ihr gesagt, bis sie eines Tages selbst einsah, wie groß der Wahrheitsgehalt ihrer Worte war, wenngleich sie auch noch so sehr schmerzten.
Und dann war es auf einmal vorbei gewesen. Keine Stiche mehr in ihrer Brust, wann immer sie an ihn dachte, keine Träume mehr von ihrem Vater, aus denen sie am Morgen mit verweintem Gesicht erwachte.
Von einem Tag auf den anderen war er plötzlich fort gewesen, ausradiert und nur noch ein Schatten in ihrer Erinnerung, mit dem sie nichts Gutes verband.
Zu der Zeit war ihre Mutter schon längst wieder neu verliebt gewesen, sogar sehr glücklich und daher bereit, diesem neuen Mann in ihrem Leben die Chance zu geben, zu beweisen, dass eine Ehe auch was Gutes sein konnte. Doch das Eliminieren ihrer alten Ehe hatte sich als gar nicht so einfach herausgestellt, nachdem ihr Vater nicht gefunden werden wollte und eine offizielle Scheidung somit nicht infrage kam. Am Ende war es auf eine öffentliche Scheidung hinausgelaufen, ein weiterer Grund für sie, Sienna, ihren Vater … oder vielmehr Erzeuger … zu verachten. Nur deswegen hatte sie zugestimmt, dass Carl, der Neue ihrer Mutter, sie adoptierte, sie somit auch nicht mehr Ward, sondern Aschenbrenner hieß.
Die Kinder in der Schule hatten sie deswegen gemobbt, sie Aschenbecher genannt, doch ihr war es egal gewesen. Sie fühlte sich großartig als Sienna Aschenbrenner, bedeutete dieser Name doch, dass sie fortan nicht mehr das arme und vom Vater verlassene Mädchen sein musste.
Leider hielt auch diese Ehe nicht, was allerdings nicht am männlichen Part lag. Vielmehr war es diesmal Siennas Mutter, die von Eifersucht und Misstrauen gebeutelt jedes noch so tiefe Gefühl von Carl für sie im Keim erstickte.
Sienna zuckte zusammen, als der heruntergebrannte Zigarettenstummel ihren Finger verbrannte, schnippte ihn durch den Fensterspalt nach draußen.
Vielleicht war es das Leben ihrer Mutter, das sie davon abhielt, denselben Fehler zu begehen.
Und ihre Mutter hatte definitiv Fehler gemacht, indem sie sich in den Falschen verliebt hatte, der sie verletzte, woraufhin sie auch gegenüber allen anderen Männern kein Vertrauen mehr fassen konnte.
Wenn das Liebe war, Ehe, Zusammenleben – konnte Sienna getrost darauf verzichten.
Ab und zu ein netter Fick war alles, was sie brauchte. Dafür musste sie wenigstens nicht Teile ihrer Persönlichkeit aufgeben oder verändern, geschweige denn Gefahr laufen, zu einem Abbild ihrer Mutter zu werden – einer verbitterten Frau, die das Trauma von vor zwanzig Jahren noch immer nicht verarbeitet hatte – selbst wenn sie noch so sehr versuchte, es zu verbergen.
Sienna stand auf, streckte sich, warf einen Blick auf die Uhr. Wenn sie noch zwei Stunden Erholung bekommen wollte, musste sie sich jetzt hinlegen, ansonsten wäre dies der zweite Tag in Folge, den sie ohne ausreichend Schlaf irgendwie rumbringen musste.
Sie hatte es sich gerade unter ihrer kuschelweichen Decke gemütlich gemacht, als ihr Handy vibrierte. Sie hoffte, dass es nicht Daniel war, der sie vollheulen wollte, weil er nicht akzeptierte, dass er für sie nichts weiter war als ein netter Zeitvertreib.
Sie stand auf, nahm das Handy vom Ladekabel, warf einen Blick aufs Display.
Eine unbekannte Nummer wurde angezeigt. Allein die Vorwahl verursachte ihr augenblicklich ein ungutes Gefühl.
»Sienna Aschenbrenner«, meldete sie sich und hielt atemlos die Luft an.
Der Anrufer stellte sich ihr als Dr. Jackson vom Stratton Hospital vor. Sein Englisch klang irgendwie hochgestochen und sehr gebildet, war zudem völlig akzentfrei und verlieh der Stimme des Mannes etwas Abgehobenes.
Da Sienna bis zu ihrem siebten Lebensjahr in London aufgewachsen und Englisch sozusagen ihre Muttersprache war, fiel es ihr nicht schwer, den Worten des Mannes zu folgen.
»Ja, ich bin Sienna Aschenbrenner und Marlene ist meine Mutter«, erklärte sie dem Mann am anderen Ende der Leitung ungeduldig und fragte sich, warum sie mitten in der Nacht von einem Arzt aus ihrer alten Heimat gestört wurde. Überhaupt ergab dieser Anruf keinerlei Sinn, doch mitten in der Nacht – das musste sie zugeben – verstörte er sie irgendwie.
Der Arzt am anderen Ende räusperte sich und Sienna hörte, dass ihm die ganze Situation unbehaglich zu sein schien. »Es geht um Ihre Mutter«, erklärte er. »Marlene Aschenbrenner. Wir haben sowohl ihren Pass als auch ihr Handy in ihrer Handtasche gefunden und Sie so glücklicherweise schnell ausfindig machen können.«
Sienna runzelte die Stirn, schaffte es nicht, die Bedeutung dieser Worte auch nur im Ansatz zu begreifen. »Was haben Sie mit dem Zeug meiner Mutter zu schaffen?«, wollte sie wissen und konnte nichts dagegen tun, dass sie misstrauisch und gereizt klang.
Der Arzt schwieg sekundenlang, schien sich darüber klar werden zu müssen, wie er seine nächsten Worte am besten formulieren sollte. »Ihre Mutter … sie wurde vor ein paar Stunden mit schweren Kopfverletzungen bei uns eingeliefert und wenn ich offen sprechen darf …«, er hielt inne, seufzte leise. »Es sieht gar nicht gut aus, verstehen Sie, was ich meine? Am besten kommen Sie so schnell wie möglich her!«