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ieder in ihrem Wagen stellte Sienna die Holzkiste auf ihren Oberschenkeln ab. Dann schob sie den kleinen Metallriegel auf die Seite, hob den Deckel an. Im Grunde hätte Sienna so ziemlich alles darin erwartet, Fotos zum Beispiel, alte Briefe, Geld vielleicht sogar, aber keinesfalls eine Sammlung unterschiedlichster Schmuckstücke. Sie schob den Deckel ganz nach oben, runzelte die Stirn.
Auf den ersten Blick ergab der Inhalt des Kästchens keinerlei Sinn. Da war Modeschmuck mit Selbstgebasteltem vermischt und dazwischen lagen auch einige Anhänger, Ringe und Ohrstecker, die durchaus als antik durchgehen konnten.
Was war das für ein Zeug?
Sie griff nach einem großen silbernen Schmetterling, der sich bei näherer Betrachtung als Kettenanhänger herausstellte. Sie betrachtete ihn argwöhnisch. Soweit sie sich erinnerte, hatte sie dieses Teil nie zuvor gesehen. Was allerdings nichts bedeuten musste. Ihre Eltern waren schon so lange nicht mehr zusammen, dass es durchaus im Bereich des Möglichen lag, dass der Anhänger aus der Familie ihres Vaters stammte, der ihn damals ihrer Mutter geschenkt hatte, die ihn jetzt nicht mehr wollte und deswegen ihrer früheren Schwiegermutter zurückbrachte.
Aber was war mit dem anderen Zeug?
Ein knallbuntes Freundschaftsband, ein kleiner goldener Teddybär, ein Herz, zerbrochen in zwei Hälften. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihre Mutter selbst vor Jahren etwas von dem Zeug getragen hatte. Oder doch?
Sie nahm das Stoffband, sah es sich genauer an. Es war zerschnitten worden, doch die Verknotungen sprachen dafür, dass es von jemandem getragen worden war, der nicht ein Kilo zu viel auf den Rippen hatte.
Oder der Teddybär … Sienna hätte schwören können, dass ihre Mutter so was niemals getragen hätte, auch dann nicht, wenn es ein Geschenk gewesen wäre.
Und wenn es gar nicht für deine Mutter gewesen ist?
Was, wenn er es dir geschenkt hat?
Sienna schnappte nach Luft, schloss die Augen. Doch egal, wie sehr sie sich auch konzentrierte, sie erinnerte sich einfach nicht an einen Bärenanhänger oder ein in der Mitte durchgebrochenes Herz.
Sie wühlte ein wenig in der Kiste herum, entnahm ein paar Perlenohrringe, einen Ring mit kleinen grünen Steinchen, doch keines der Stücke weckte irgendwelche Erinnerungen bei ihr. Schließlich legte sie alles wieder zurück.
Sie würde warten müssen, um Antworten zu bekommen. Denn wenn jemand wusste, ob all das Zeug zumindest zum Teil aus Familienbesitz stammte, dann ihre Großmutter.
Als sie eine knappe halbe Stunde später die Zufahrt zum Hotel entlangfuhr, konnte sie vor Müdigkeit kaum ihre Augen offen halten. Nachdem sie sich am Parkhäuschen ausgewiesen hatte, fuhr sie auf einen der freien Plätze, schnappte sich ihre Tasche, klemmte sich die Kiste unter den Arm und machte sich auf den Weg zum Hotel.
Am Empfang hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet, daher verschob sie ihr Vorhaben, die Rezeptionistin auf die lauten Kinder letzte Nacht und heute Morgen anzusprechen, wollte nur ihren Schlüssel in Empfang nehmen und sich schlafen legen. Als die Frau hinterm Tresen sie erkannte, bedeutete sie ihr, näher zu kommen, entschuldigte sich bei der Gruppe Rentner, die wild durcheinanderplapperten, sah Sienna freundlich an. »Es ist etwas für Sie abgegeben worden«, erklärte sie mit verhaltener Stimme und lächelte. »Ein netter Polizist war hier und hat etwas für Sie dagelassen.« Sie reichte Sienna zuerst einen großen Umschlag, dann den Schlüssel. »Soll ich für Sie zum Dinner einen Tisch reservieren lassen?«, fragte sie.
Sienna lehnte dankend ab. »Ich gehe früh schlafen«, erklärte sie der Dame. »Ich werde wahrscheinlich nur eine Kleinigkeit beim Zimmerservice bestellen.«
Als sie endlich auf ihrem Zimmer war, kickte sie ihre Schuhe von den Füßen, warf den Umschlag aufs Bett und genehmigte sich zuerst eine der Fläschchen aus der Minibar. Sie gab den Gin in eines der leeren Gläser auf dem Schreibtisch, füllte mit Tonicwater auf und kippte beinahe die Hälfte des Glases auf einmal hinunter.
Danach zog sie sich in Windeseile aus und nahm eine lange, erfrischende Dusche. Als sie sich wieder wie ein Mensch fühlte, nahm sie die Karte des Zimmerservice, bestellte sich einen Caesar Salad und einen Burger aufs Zimmer, machte es sich mit dem Umschlag auf dem Bett bequem. Er enthielt eine kurze Mitteilung von Chief Inspector Jonathan Roth und das Handy ihrer Mutter. Sienna nahm es heraus, betrachtete es mit angehaltenem Atem. Dann suchte sie im Umschlag nach dem Ladekabel, stellte fest, dass es nicht vorhanden war.
Sie stöhnte entnervt. Dann fiel ihr auf, dass die Ladebuchse mit der ihren identisch war. »Gott sei Dank«, stieß sie erleichtert aus. Aber wieso hatte Roth an das Handy, nicht aber an das Ladekabel gedacht? Er musste sich doch denken können, dass sie unter Umständen so nichts damit anfangen konnte. Oder zumindest nicht auf Anhieb.
Okay, das Handy hatte ihre Mutter bei sich gehabt, als sie überfallen worden war. Deswegen hatten die Beamten es zuallererst überprüft. Das Ladekabel musste sich bei den Sachen in der Unterkunft ihrer Mutter befunden haben, war also nach wie vor in Polizeigewahrsam beim Laptop und den Klamotten ihrer Mutter.
Sie stand auf, steckte das Handy an ihr eigenes Kabel, seufzte ungeduldig, als ihr bewusst wurde, dass sie jetzt ein wenig warten musste, bis das Gerät genug Strom hatte, um hochzufahren.
Während des Wartens genehmigte sie sich ein weiteres Fläschchen aus der Minibar. Da kein Gin mehr vorhanden war, musste es ein Whiskey tun. Sie ging ins Bad, um das Gin-Glas auszuspülen, füllte es mit dem Single Malt, trank einen großen Schluck. Die Flüssigkeit brannte sich ihren Weg durch die Kehle in den Magen hinunter, machte Sienna schmerzhaft bewusst, dass sie den ganzen Tag nichts gegessen hatte.
Der Pin,
ging es ihr plötzlich durch den Kopf. Scheiße, Scheiße, Scheiße!
Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Ohne den nützte ihr das Handy ihrer Mutter einen Scheiß.
Sie runzelte die Stirn.
Andererseits konnte es doch nicht so schwer sein, an den Pin ihrer Mutter zu kommen. Als der Akku knappe zehn Prozent hatte, versuchte sie zuerst ihr Geburtsdatum – nichts.
Mist!
Sie zermarterte sich das Hirn, gab schließlich ihr eigenes Geburtsdatum ein. Auch nichts.
War ja klar,
dachte sie.
Sienna stieß die Luft aus.
Du kanntest sie! Wenn jemand darauf kommt, dann du!,
stichelte die Stimme in ihrem Innern.
Und dann fiel ihr auf einmal das Gespräch mit ihrer Mutter ein. Es musste vor einem knappen Jahr gewesen sein, damals hatte sie das Handy gerade neu angeschafft. Ihre Mutter hatte den Pin ständig vergessen, bis Sienna ihr den Tipp gegeben hatte, ihn doch einfach zu ändern.
»Und welche Zahlen nehme ich stattdessen?«
Sie konnte die Stimme ihrer Mutter ganz deutlich in ihrem Kopf hören.
»Nimm was ganz Leichtes«,
hatte sie geantwortet. »Irgendwelche Nullachtfünfzehnzahlen, die du dir ganz leicht merken kannst.«
Sienna spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, gab nacheinander die vier Zahlen ein. 0815.
»Bingo«, jauchzte sie, als das Gerät zu arbeiten begann, und dankte ihrer Mutter im Stillen. Sie griff nach ihrem Glas, prostete sich selbst zu, trank einen Schluck.
Zuerst überprüfte sie die letzten gespeicherten Anrufe, doch bis auf eine stammten alle Nummern in der Liste entweder von Sienna oder Freunden und Kollegen ihrer Mutter.
Sie wählte die einzige Nummer, die ihr gänzlich unbekannt war, kam bei einem Bed und Breakfast raus. Sie entschuldigte sich bei dem jungen Mann am anderen Ende, gab vor, sich verwählt zu haben, machte sich aber eine Notiz dazu. Dann überprüfte sie die WhatsApp-Nachrichten und SMS, die ihre Mutter versendet oder erhalten hatte – ebenfalls ohne neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Schließlich ging sie ins Internet, klickte sich durch den Suchverlauf ihrer Mutter.
Doch außer einigen Hotels und Restaurants sowie dem Cliff Ville war auch da nichts Aufschlussreiches dabei.
Doch halt!
Sienna zuckte zusammen, als sie schließlich auf eine Seite geleitet wurde, auf der es um die vor wenigen Wochen in Australien gefundene Leiche einer Neunzehnjährigen ging, die seit vielen Jahren vermisst wurde. Sie las den Artikel, schüttelte sich. Das Mädchen hieß Cassy Riley und war als Rucksacktouristin in Australien unterwegs gewesen, als sie verschwand.
Sienna klickte sich weiter, fand einen weiteren Bericht, den ihre Mutter einige Tage vor dem Überfall gelesen hatte. Dieser handelte von einer weiteren Leiche, die vor drei Jahren gefunden worden war, allerdings in den USA.
Schließlich ein dritter, der von einer zwanzigjährigen Engländerin handelte, die während ihres Urlaubs in Neuseeland beim Zelten überfallen und ermordet worden war.
Sienna fragte sich, wieso um Himmels willen ihre Mutter sich mit solch gruseligem Zeug beschäftigt hatte?
Vielleicht hat sie an etwas Ähnlichem gearbeitet,
erinnerte die Stimme in ihrem Kopf. Immerhin war sie Journalistin.
Sienna runzelte die Stirn. Allerdings hatte ihre Mutter in der letzten Zeit meist nur medizinische Reportagen geschrieben und somit passte eine mögliche Recherche bezüglich ermordeter junger Frauen nicht wirklich in ihr Repertoire.
Als es an der Tür klopfte, legte Sienna das Handy beiseite. Ihr Magen knurrte inzwischen zum Gotterbarmen und brannte wegen des Alkohols wie Feuer.
Dankbar nahm sie das Tablett vom Zimmerservice entgegen, gab dem jungen Mann ein üppiges Trinkgeld und machte es sich mit ihrem Essen vor dem Fernseher bequem.
Die Kinder!
Schon wieder …
Sienna schrak auf, blinzelte benommen, warf einen Blick auf die Uhr. Beinahe elf Uhr. Sie hatte sich nach dem Essen einen Film rausgesucht, musste währenddessen eingedöst sein.
Zorn flutete ihre Adern, als sie das Gelächter von draußen vernahm, kurz darauf ein Krachen, auf das ein lautes Schluchzen folgte. Es war genau wie heute Morgen und gestern Abend, doch diesmal würde sie diesen Krach, der einer nächtlichen Ruhestörung gleichkam, nicht so hinnehmen. Sie sprang vom Bett auf, riss ihren Morgenmantel vom Haken an der Badezimmertür, schlüpfte hinein. Dann stapfte sie zur Tür, riss sie mit Schwung auf. Doch genau wie heute Morgen war auf einmal niemand mehr da draußen zu sehen.
»Das gibt es ja nicht«, murmelte Sienna, schluckte gegen ihr Unbehagen an. Schließlich beschloss sie, dass sie es diesmal nicht auf sich beruhen lassen würde. Sie zog den Schlüssel innen ab, verschloss die Tür, machte sich auf den Weg zur Rezeption.
Doch statt der netten Dame vom frühen Abend stand diesmal ein junger Mann hinterm Tresen, der ihr erstaunt entgegenblickte. »Ich bin Sienna Aschenbrenner aus Zimmer elf«, erklärte sie ihm. »Und ich muss Sie leider bitten, dafür zu sorgen, dass diese Kinder nicht so einen Höllenlärm veranstalten.«
Der Mann runzelte die Stirn. »Welche Kinder?«
Sienna hob die Schultern. »Keine Ahnung, welche genau. Ich schätze, dass sie irgendwo auf meinem Stockwerk wohnen. Es müssen mindestens zwei sein. Auf jeden Fall haben die gestern Abend schon einen Mordskrach veranstaltet, genau wie heute Morgen und jetzt wieder. Ich hab natürlich nichts gegen kleine Rabauken. Aber trotzdem würde ich gerne schlafen, wenn Sie verstehen.«
Der Mann nickte, musterte sie auf seltsame Weise. Schließlich legte er einen professionellen Gesichtsausdruck auf. »Tut mir sehr leid, Miss Aschenbrenner. Die Sache ist nur die … Ich weiß wirklich nicht, welche Kinder Sie meinen könnten, weil wir momentan keine minderjährigen Gäste im Haus haben. Außer Ihnen befindet sich lediglich eine Gruppe Rentner im Hotel.«