12
Boscastle
2019
D er Anblick ihrer Großmutter in dem von Maschinen umgebenen Bett hatte Sienna zugesetzt. Daher beschloss sie, nicht sofort ins Hotel zurückzufahren, sondern vorher eine Kleinigkeit essen zu gehen und einen heißen Tee zu trinken. Seit jeher hatte für Sienna das Teetrinken etwas Rituelles an sich, eine Art Zelebrierung der totalen Entspannung, sodass es ihr richtig schien, jetzt, in diesem Zustand der Sorge um ihre Großmutter, ein wenig runterzukommen.
Sie beschloss, den Wagen auf dem Klinikgelände stehen zu lassen und sich zu Fuß auf den Weg ins Zentrum zu machen, in der Hoffnung, dass die frische Luft es schaffte, ihr den Kopf frei zu pusten. Abgesehen von der Anspannung, die sie inzwischen wieder in Besitz genommen hatte, war da noch die Frage in ihrem Kopf, wie es nun weitergehen sollte. Sie wusste zumindest, dass sie bleiben wollte, bis sie eine Spur hatte, die sie zu ihrem Vater führte, doch je länger Sienna darüber nachdachte, desto bewusster wurde ihr, dass dies nicht einfach werden würde.
In Anbetracht der Tatsache, dass er sich nicht bei seiner früheren Kollegin gemeldet und sie auch nichts von ihm gehört hatte, schien es beinahe ausgeschlossen, dass ihr Vater sich in England aufhielt. Die Frage war daher, weshalb die letzte seiner Karten aus London gekommen war?
Hatte er sich zu dem Zeitpunkt nur auf Durchreise befunden? Urlaub in der alten Heimat gemacht?
Doch wenn, wieso hatte er nicht wenigstens ein paar Stunden für seine Mutter erübrigen können?
Von London nach Boscastle waren es fünf Fahrtstunden und Sienna fand, dass er es der alten Frau schuldig gewesen wäre, sie nach all den Jahren wenigstens einmal zu besuchen.
Sie schluckte. Andererseits hatte er damals auch, ohne zu zögern, ihre Mutter und sie verlassen, seither bis auf diese lächerlichen Urlaubsgrüße nahezu kein Lebenszeichen von sich gegeben. Wieso also sollte sein Gewissen in Hinsicht auf seiner Mutter einen Unterschied machen?
All diese Fragen und Überlegungen setzten Sienna derartig zu, dass sie, ohne es zu bemerken, schneller geworden war. Ihr Atem ging nur noch stoßweise, als sie die Straße entlang hastete, der Schweiß rann ihr inzwischen in Strömen den Rücken hinab.
Als sie auf der anderen Straßenseite ein Café entdeckte, steuerte sie darauf zu.
Etwas Süßes zum Tee, um ihre Nerven zu beruhigen, erschien ihr jetzt genau richtig. Das Café namens Victorias Dream war ein winzig kleiner Laden, eingequetscht zwischen zwei Geschäften für Haushaltswaren und Dekorationsartikel. Sienna stieß die schwere Tür auf, hoffte auf einen freien Sitzplatz im Innern, wo sie sich ein wenig ablenken konnte.
Als sie sah, dass von den gerade einmal sechs Tischen tatsächlich einer frei war, seufzte sie vor Erleichterung. Sie blieb vor der imposanten Kuchentheke stehen, inspizierte die verschiedenen Kuchen und Torten, bemerkte erst jetzt, wie ausgehungert sie war.
»Die sehen alle total lecker aus«, sagte sie zu der hübschen jungen Frau hinter dem Tresen und lächelte. »Was empfehlen Sie denn besonders?«
Die junge Frau, Sienna schätzte, dass es sich bei ihr um die Eigentümerin des Cafés handelte, schmunzelte. »Wie wäre es mit einem Stück vom Victoria Cake? Der Boden ist wahnsinnig fluffig, die Creme dazwischen schön fruchtig mit Erdbeeren.«
Sienna spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. »Okay, dann nehme ich davon ein Stück. Und eine große Portion Tee, bitte.«
Sie deutete auf den freien Tisch. »Darf ich mich dorthin setzen?«
»Gern«, sagte die junge Frau, zwinkerte. »Machen Sie Urlaub in der Gegend?«
Sienna wollte schon zu einer Notlüge greifen, überlegte es sich aber anders. »Meine Mutter ist vor einigen Wochen in dieser Gegend überfallen worden und kurz darauf verstorben«, erklärte sie. »Außerdem hab ich Verwandtschaft in Boscastle. Meine Großmutter. Sie liegt hier im Hospital.«
Die junge Frau sah Sienna betroffen an. »Sie Ärmste, das tut mir furchtbar leid.« Sie wollte schon ansetzen, noch etwas zu sagen, stoppte aber, sah Sienna mitleidig an. »Weiß man denn … ich meine«, wieder brach sie ab.
»Leider nicht«, sagte Sienna, die sich denken konnte, worauf die Frau hinauswollte. »Die Polizei geht davon aus, dass es eine Gruppe Jugendlicher gewesen sein könnte. Allerdings wurde auch diesbezüglich bislang niemand gefunden, geschweige denn, verhaftet.«
Die Frau sog die Luft ein, starrte Sienna unschlüssig an. »Wo genau ist es denn passiert?«
»In Boscastle«, erwiderte Sienna. »Sie wurde in der Nähe des Moores gefunden, bei dem Wäldchen, rechts von der Hauptstraße.«
Die Frau schluckte, blickte betreten zu Boden. »Ich meine mich zu erinnern, dass in dieser Gegend schon öfter schreckliche Dinge passiert sind«, sagte sie leise. »Das ist allerdings über zwanzig Jahre her.«
Sienna wollte schon ansetzen, die Frau zu fragen, was genau sie damit meinte, als sie bemerkte, dass sie blass geworden war.
Daher nahm sie nur den Teller mit dem Kuchen entgegen, bedankte sich.
Die Frau seufzte tief. »Am besten lassen Sie uns jetzt das Thema wechseln.« Sie lächelte gezwungen. »Lassen Sie es sich schmecken. Geht aufs Haus. Den Tee bringe ich gleich.«
Doch auch als Sienna an dem freien Tisch Platz genommen hatte, gingen ihr die unheilschwangeren Worte der Frau nicht aus dem Sinn. Was genau meinte sie damit, dass an diesem Ort schon öfter schreckliche Dinge passiert waren?
Konnte es sein, dass ihre Mutter nicht das einzige Opfer des Täters oder der Täter war?
Allerdings ergab demzufolge die Vermutung der Polizei, dass eine Gruppe Jugendlicher dahintersteckte, keinerlei Sinn.
Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte, ihr der Schweiß aus den Poren brach.
Schnell zwang sie sich, an etwas anderes zu denken, stach sich ein Stück vom Kuchen ab, steckte ihn sich in den Mund. Er schmeckte himmlisch, herrlich süß und dabei unglaublich fruchtig, doch ihn wirklich zu genießen, fiel Sienna schwer.
Sie sah aus dem Fenster hinaus, beobachtete ein paar Minuten lang die vorbeieilenden Passanten, doch auch das führte heute nicht zum gewünschten Effekt einer Ablenkung.
Als Sienna sich wieder ihrem Kuchen zuwandte, bemerkte sie, dass der Tee vor ihr stand. Sie winkte der Eigentümerin des Cafés dankbar zu und nahm einen Schluck.
Dann fielen ihr die Worte der Schwester aus dem Krankenhaus wieder ein. Ihre Großmutter hatte sich also nicht nur ihr gegenüber merkwürdig aggressiv verhalten, was das Schmuckstück anging. Was wiederum bedeutete, dass ihr Ausbruch neulich gar nichts mit Sienna zu tun hatte, sondern allein nur mit dem Anhänger selbst. Sie zog ihn gedankenverloren aus ihrer Tasche, legte ihn vor sich auf den Tisch, starrte darauf.
Was hatte das alles nur zu bedeuten?
Wieso reagierte Serafina derartig auf dieses Teil?
Wenn es tatsächlich aus Familienbesitz stammte, müsste sie sich doch eigentlich freuen, ihn wiederzuhaben.
Warum also diese Wut?
Lag es daran, dass ihre Mutter ihn so lange gehabt hatte?
Oder war am Ende alles vollkommen anders?
Ihr fiel das allererste Gespräch mit dieser Schwester aus dem Pflegeheim ein. Der Tag, an dem sie hier angekommen war.
Die Schwester arbeitete seit über dreißig Jahren in der Einrichtung, kannte Serafina von allen am längsten. Von ihr wusste Sienna, dass die alte Frau den Umständen entsprechend gut drauf gewesen war, was sich erst nach dem Besuch ihrer Mutter geändert hatte.
Es folgte ein Schlaganfall. Der zweite nach so langer Zeit …
Dann der Oberschenkelhalsbruch, weil sie aus dem Bett gestiegen war.
Jetzt das Koma wegen der Embolie.
Was hatte ihre Mutter zu ihrer ehemaligen Schwiegermutter gesagt, was alles verändert hatte?
»Wo haben Sie das her?«
Die Stimme klang hart und zornig, riss sie innerhalb von Sekunden ins Hier und Jetzt zurück. Sie sah zu dem Mann auf, der vor ihrem Tisch stand, sie mit finsterem Gesichtsausdruck musterte, dann auf den Anhänger starrte. Er hatte zuvor an einem der besetzten Tische gesessen und irgendeinen Kuchen in sich hineingeschaufelt.
»Was meinen Sie?«, fragte Sienna vorsichtig.
Er deutete auf das Schmuckstück. »Das Ding hier. Woher haben Sie es?«
Sie griff danach, stopfte es sich in die Hosentasche zurück, funkelte den Kerl vor sich an. »Was interessiert Sie das?«
Der Mann verschränkte die Arme vor dem Oberkörper, durchbohrte sie mit seinem Blick. Irgendwas an ihm machte Sienna nervös. Sie wusste nicht, ob es seine Größe war – bestimmt über eins neunzig – oder ob es an der Art lag, wie er sie musterte. Argwöhnisch, misstrauisch, beinahe boshaft.
Sie schob den Teller mit dem Kuchen von sich weg, nahm einen letzten Schluck Tee, dann stand sie auf und drängte sich an dem Mann vorbei in Richtung Theke. »Ich würde gerne bezahlen«, sagte sie zu der jungen Frau, ignorierte deren besorgten Blick.
»Hat Ihnen der Kuchen nicht geschmeckt?«
»Doch«, stieß Sienna hervor. »Es ist nur …« Sie brach ab, zuckte mit ihrem Blick zu dem Mann, der sich mittlerweile wieder an seinen Platz gesetzt hatte, sie aber nach wie vor nicht aus den Augen ließ.
»Ist es wegen Gerry?«, wollte die Frau wissen. »Machen Sie sich keine Sorgen, er sieht zwar furchterregend aus, ist aber harmlos.«
»Okay, schon gut. Es ist nur … ich muss sowieso los.«
Die Frau nickte, nannte ihr den Betrag für den Tee.
Nachdem Sienna bezahlt hatte, machte sie sich auf den Weg nach draußen.
Plötzlich wünschte sie, ihren Wagen in der Nähe geparkt zu haben, doch leider Gottes stand er nach wie vor auf dem Klinikgelände.
Seufzend machte sie sich auf den Rückweg, drehte sich dabei mehrmals um, als sie ein seltsames Kribbeln im Rücken bemerkte, doch da war niemand hinter ihr.
Der Typ aus dem Café war wirklich mehr als unheimlich gewesen und hatte ihr eine Heidenangst eingejagt, das musste Sienna zugeben. Sie lief schneller und immer schneller, konnte schon das Dach des Hospitals sehen, als jemand nach ihrem Arm griff und sie herumriss.
Ihr rutschte das Herz in die Hose, als sie sah, wer genau da hinter ihr stand.
»Ich muss es wissen«, knurrte er finster. »Wo haben Sie den Anhänger her?«
Kurz überlegte Sienna, zu schreien, doch dann entschied sie sich anders. Sie zwang sich, ganz ruhig gegen die Panik anzuatmen, sah dem Mann fest ins Gesicht. »Von meiner Großmutter«, erklärte sie schließlich. »Ich hab ihn in ihrem Schrank gefunden und schätze, dass es sich dabei um ein Familienerbstück handelt.«
Das Gesicht des Mannes versteinerte. »Du lügst«, stieß er aus. »Sag mir die Wahrheit. Woher hast du ihn?«
Sienna wich vor ihm zurück, wusste nicht, was sie tun sollte. »Das ist die Wahrheit«, stammelte sie hilflos. »Ich hab ihn in einer Kiste im Schrank meiner Oma gefunden. In dem Pflegeheim, in dem sie lebt.« Sie sah sich blitzschnell um, überlegte, ob es etwas bringen würde, wenn sie sich an ihm vorbeidrücken und in Richtung Parkplatz rennen würde, doch dann wurde ihr klar, dass es nichts nützen würde. Er hätte sie in Nullkommanix eingeholt. Ganz abgesehen davon, dass sie sich verdächtig machte, wenn sie einfach wegliefe.
Sie atmete tief durch, sah den Mann an. »Ich stamme aus Deutschland, bin zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wieder in dieser Gegend und schwöre Ihnen, dass dieses Schmuckstück meiner Familie gehört. Vielleicht verwechseln Sie es ja?«
Der Mann starrte sie feindselig an. Dann packte er sie bei den Schultern. »Den Anhänger! Los jetzt!«
Sienna spürte, wie ihr vor Angst alle Kraft aus den Gliedern wich. Sie musste sich beherrschen, nicht auf den Boden zu sacken. Panisch riss sie an seinen Armen, wollte sich losmachen, doch der Typ war unnachgiebig, starrte sie böse an, schüttelte sie hart. »Der Anhänger gehörte meiner Großmutter, hörst du? Meiner und nicht deiner! Ich hab ihn vor über zwanzig Jahren aus ihrer Schmuckschatulle geklaut und anschließend einem ganz besonderen Mädchen geschenkt. Und genau dieses Mädchen ist nur kurze Zeit später spurlos verschwunden – zusammen mit dem Anhänger.«
Sienna schnappte entsetzt nach Luft und wollte schon nachgeben, als sie aus dem Augenwinkel ein älteres Ehepaar auf der anderen Straßenseite laufen sah. Sie reagierte blitzschnell, stieß den Kerl mit aller ihr noch verbliebenen Kraft von sich, schrie um Hilfe.
Das Paar blieb stehen, sah unschlüssig zu ihnen herüber.
»Dieser Mann …«, schrie Sienna, so laut sie konnte, »ist verrückt, bitte, rufen Sie die Polizei!«
Auf einmal kam Bewegung in den Kerl. Entsetzt ließ er von Sienna ab, warf einen Blick zu dem Paar auf der anderen Seite, setzte sich in Bewegung. Er war schon fast an der Ecke, als er sich noch einmal nach ihr umdrehte, sie finster musterte und ihr lautlos zuflüsterte, dass sie einander wiedersehen würden. Als sie das Funkeln in seinen Augen erkannte, wurde ihr eiskalt.
Dann endlich war er verschwunden.