»
K
ann ich Ihnen helfen, Miss?«
Siennas Blick zuckte hoch. Sie sah einen älteren Mann neben sich, der sie sorgenvoll anblickte. Er kam ihr irgendwie bekannt vor.
»Ich bin Ted, vom Parkservice«, kam er ihr zu Hilfe.
Sienna nickte schwach.
Richtig. Deswegen kam er ihr so bekannt vor.
Ächzend rappelte sie sich auf, strich sich, so gut es ging, den Schmutz von ihrer Schlafanzughose.
»Was machen Sie denn um diese Zeit hier draußen?«, wollte der Mann wissen. »Ich meine, es geht mich zwar nichts an, aber ich hab mir Sorgen gemacht, als Sie vorhin …« Er brach ab, sah sie ernst an.
Sienna seufzte. Dann durchfuhr sie ein Gedankenblitz. »Sie haben mich gesehen?«
Er nickte. »Vor ein paar Minuten. Sie sind wie vom Teufel gehetzt an meinem Häuschen vorbeigerannt. Ich habe Ihnen nachgerufen, ob alles in Ordnung ist, aber Sie haben mich wohl nicht gehört. Ist ganz schön windig heute Nacht.«
»Und dieses kleine Mädchen? Haben Sie das auch gesehen? Es hatte ein weißes Kleid an und ist vor mir in diese Richtung gerannt.«
Ted runzelte die Stirn. »Ein Mädchen sagen Sie?« Er schüttelte den Kopf. »Da war niemand außer Ihnen. Deswegen hab ich mir gedacht, dass es besser ist, wenn ich mal sehe, ob mit Ihnen alles okay ist.« Er hielt inne, sah Sienna forschend an.
Unter seinem Blick fing sie an, sich zunehmend unwohl zu fühlen. Sie schluckte. »Sie haben also außer mir niemanden laufen sehen?«
»Nein«, gab Ted zurück und Sienna hörte aus seiner Stimme heraus, dass er nicht ganz sicher zu sein schien, wie er mit ihr umgehen sollte.
Sie trat ein Stück auf ihn zu. »Da war ein Mädchen, ich schwöre es. Ungefähr sieben Jahre alt, lange braune Haare. Und dieses Kleid. Ich bin absolut sicher, dass Blutflecken darauf waren. Sie müssen es gesehen haben, Ted. Es ist genau wie ich direkt an Ihrem Häuschen vorbeigerannt.«
Er hob die Schultern, sah sich zweifelnd um. »Aber außer uns beiden ist niemand hier.«
Sienna nickte, holte Luft. »Das Mädchen, ich glaube, es ist die Klippen runtergefallen. Ich hab versucht, es aufzuhalten, aber es ist immer weitergerannt.«
Teds Gesichtszüge entglitten für einen Moment. Dann zog er einen länglichen Gegenstand aus seiner Jacketttasche, ging an ihr vorbei auf den Abgrund zu. Sienna wurde klar, dass es eine Taschenlampe war und er tatsächlich damit den Strandabschnitt unterhalb der Klippe ableuchtete.
Sie seufzte erleichtert auf.
Endlich glaubte ihr jemand.
Sie trat vorsichtig zu ihm, sah dem Lichtstrahl nach.
»Wie gesagt, kein Mensch«, murmelte Ted. »Und schon gar kein kleines Mädchen.« Er drehte sich zu ihr um, sah sie mit einer Mischung aus Bedauern und Misstrauen an. »Kann es sein, dass Sie etwas zu viel getrunken haben?«
Sienna schüttelte verdutzt den Kopf. »Ich habe geschlafen«, herrschte sie Ted schließlich an. »Und dann war da dieses Klopfen. Es kam aus dem Badezimmer, doch als ich nachgesehen habe, war da nichts. Und kurz darauf habe ich ein Poltern vor meiner Zimmertür gehört. Ich bin aufgestanden, habe die Tür geöffnet und dieses Mädchen weglaufen sehen. Es war da, das schwöre ich.«
Ted sah betreten zu Boden, leuchtete ein letztes Mal zum Strand hinunter, seufzte. Dann sah er sie an. »Was halten Sie davon, wenn ich Sie jetzt ins Hotel zurückbringe? Ich sorge dafür, dass Sie einen schönen heißen Tee bekommen. Und versprochen, morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.«
Als Sienna begriff, dass es erneut passiert war und sie sich lächerlich gemacht hatte, zog sie die Schultern hoch, nickte betreten.
Langsam trottete sie Ted hinterher in Richtung Hotel, ließ sich von ihm zu einer der Sitzgruppen in der Lobby geleiten, setzte sich. Zitternd vor Kälte und Frust wartete sie, bis er kurze Zeit später ein Tablett mit Tee und einigen Keksen vor ihr abstellte. Sie sah zu ihm auf, spürte, dass ihr die Tränen kamen. »Ich war absolut sicher, dass da ein Mädchen gewesen ist. Sonst wäre ich doch niemals …«
»Trinken Sie«, unterbrach Ted sie mit sanfter Stimme und deutete mit seinem Kopf auf die dampfende Tasse Tee vor ihr. Sie griff danach, nippte daran, schloss dankbar die Augen.
»Tut mir leid, dass ich so viel Aufregung verursacht habe«, murmelte sie schließlich und sah Ted an.
»Ist wirklich alles okay mit Ihnen?«, fragte er. »Oder soll ich lieber einen Arzt rufen?«
Sienna schüttelte heftig den Kopf. Das fehlte noch, dass sie von offizieller Stelle bescheinigt bekam, langsam, aber sicher durchzudrehen. »Es geht mir gut«, gab sie fest zurück. »Wirklich.«
Ted nickte unschlüssig, warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich muss jetzt wieder … hab zu tun, wissen Sie?«
Sienna nickte. »Wirklich, mir fehlt nichts, machen Sie sich keine Sorgen.«
Sie sah ihm nach, bemerkte den Blick des Rezeptionisten auf sich. Er sah sie auf genau dieselbe Weise an wie Ted und Sienna wurde klar, dass der junge Mann von seinem älteren Kollegen geimpft worden war. Sie bemühte sich um ein lockeres Grinsen. »Mir geht es gut. Ganz ehrlich«, rief sie dem jungen Mann zu. »Ich trinke nur meinen Tee aus und dann gehe ich wieder ins Bett.« Wie zum Beweis nahm sie die Tasse auf, trank einen Schluck. Als sie aus dem Augenwinkel einen Schatten wahrnahm, der auf sie zukam, zuckte sie zusammen. Sie stieß einen schmerzerfüllten Zischlaut aus, als heißer Tee auf ihre Hose schwappte, sie am Oberschenkel verbrannte.
»Sie können wohl auch nicht schlafen?«, fragte eine weibliche Stimme und als Sienna ihren Kopf wandte, sah sie eine ältere Frau, schätzungsweise um die siebzig, neben sich stehen, die sie neugierig musterte.
Sienna versuchte sich an einem Lächeln, bemerkte aber selbst, dass es äußerst schief geraten war. Sie seufzte leise.
»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«, fragte die Frau.
»Wenn Sie real sind, schon«, rutschte es Sienna heraus, ehe sie sich bremsen konnte.
Als sie den verwirrten Blick der Frau auf sich spürte, hob sie die Schultern. »Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen dürfen. Bitte, setzen Sie sich doch.«
Sie wartete, bis die Frau ihr gegenüber Platz genommen hatte.
»Möchten Sie auch einen Tee?«, fragte sie die Frau. »Ich lade Sie ein.«
Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. »Sehr lieb von Ihnen, aber so spät in der Nacht trinke ich lieber nichts mehr. Ich muss sonst ständig aus dem Bett und auf Toilette.« Sie lachte, als sie Siennas verdutzten Blick bemerkte. »Falls ich doch mal schlafe, meinte ich.«
Sienna nickte.
»Sie sehen traurig aus«, sagte die Frau. »Wollen Sie mir erzählen, was los ist? Manchmal tut es ganz gut, sich mit Worten von der Last zu befreien, die einem das Leben und Atmen schwer macht.«
Sienna überlegte kurz, schüttelte schließlich den Kopf. Was soll’s
, dachte sie. Macht eh keinen Unterschied, ob dich
jetzt ein Mensch mehr für irre hält.
Sie holte tief Luft, begann zu erzählen. Vom Anruf des Arztes wegen des Überfalls auf ihre Mutter. Von deren Tod. Von den Lügen ihrer Mutter bezüglich ihrer Grandma, von deren Sturz aus dem Bett und der anschließend so seltsamen Reaktion auf den Anhänger bei ihr.
Sie ließ auch ihren Vater und den merkwürdigen Kerl vom Nachmittag nicht aus, erzählte ihr zu guter Letzt von den seltsamen Geräuschen, die sie hörte, seit sie im Hotel angekommen war, von den immer häufiger auftretenden Panikattacken, unter denen sie litt, von den merkwürdigen Dingen, die sie sehen konnte und die höchstwahrscheinlich doch nicht real waren.
Bei jedem von Siennas Worten bekam die alte Frau immer größere Augen, schlug sich wieder und wieder die Hand vor den Mund.
Als Sienna schließlich zum Ende kam, schüttelte die Frau langsam den Kopf. »Das ist eine der furchtbarsten Geschichten, die ich je gehört habe«, gab sie zu. »Und ich habe schon viele gehört.«
Sienna seufzte. »Wie es aussieht, werde ich wohl langsam, aber sicher total irre.«
Die alte Frau schüttelte den Kopf. »Ich würde es traumatisiert nennen«, erklärte sie und legte den Kopf schräg. »Ich bin Psychiaterin, glauben Sie mir also bitte, denn ich weiß, wie jemand aussieht, der WIRKLICH irre ist.« Sie lachte und Sienna musste insgeheim zugeben, dass sie anfing, die alte Dame zu mögen. Und es beruhigte sie tatsächlich, sich einmal alles, wirklich alles von der Seele geredet zu haben.
»Traumatisiert also?«, hakte sie dennoch nach, sah die Frau zweifelnd an. »Aber warum sehe und höre ich diese Geräusche, sehe Leute … Kinder … wo keine sind. Spricht das nicht eher für eine Geisteskrankheit?«
Die Frau lächelte warmherzig. »Sie haben Ihren Vater verloren, als Sie ein kleines Kind waren, wurden von Ihrer Mutter großgezogen, die Sie ebenfalls erst kürzlich verloren haben. Dann diese Sache mit Ihrer Großmutter, die jetzt im Koma liegt. Dass alles ist wahnsinnig viel Verlust für ein junges Mädchen wie Sie. Ich meine, Sie sind noch keine dreißig oder?«
»Sechsundzwanzig«, stimmte Sienna ihr zu. »Nächsten Monat werde ich siebenundzwanzig.«
»Sehen Sie«, die Frau nickte. »Sie haben so viel Schmerz in den letzten zwanzig Jahren erfahren müssen, da kann es passieren, dass die Seele streikt.«
»Was meinen Sie?«, fragte Sienna.
»Ich meine damit, dass diese Panikattacken daher rühren, dass Sie nervlich am Limit angekommen sind. Ihre Seele schreit um Hilfe, deswegen rate ich Ihnen, zur Ruhe zu kommen.«
»Und mein Vater?«
»Suchen Sie ihn, wenn Sie das Bedürfnis haben, es unbedingt tun zu müssen. Trotzdem sollten Sie dabei immer auf sich und Ihre Gefühle hören. Sie müssen erkennen, wenn es zu viel wird. Und zwar bevor Sie zusammenbrechen.«
»Wie erklären Sie diese Dinge, die ich sehe und höre? Sind das Auswüchse der Panikattacken? Für mich fühlen sie sich vollkommen real an.«
»Also da ich in Zimmer neun wohne und in den vergangenen Nächten weder Kinderlachen noch Weinen und auch keine Schritte oder Sonstiges gehört habe, vermute ich fast, dass die Panikattacken der Auslöser für diese Halluzinationen sind. Allerdings …« Die Frau brach ab, sah Sienna zweifelnd an. »Sie sagten, Sie seien sicher, schon einmal hier gewesen zu sein, damals, mit Ihrer Familie, als sie ein Kind waren?«
Sienna hob die Schultern. »Ich vermute es zumindest.«
»Erinnern Sie sich an den Unfall eines kleinen Mädchens?«
Sienna hob die Schultern. »Wie gesagt, ich erinnere mich an kaum etwas. Ich stelle nur Vermutungen an.«
»Die Kleine hieß Amelie und war zuckersüß. Ich erinnere mich so gut daran, weil ich seit über dreißig Jahren Urlaub in diesem Haus mache. Früher mit meinem Mann, doch seit er tot ist, reise ich allein. Und die kleine Amelie, die war früher mit ihren Eltern ebenfalls jedes Jahr hier. Immer im Juli. Ein echter Wirbelwind kann ich Ihnen sagen, jeder im Haus hat sie gern gehabt, doch dann …« Die Frau brach ab, sah plötzlich traurig aus.
»Was?«, fragte Sienna aufgeregt. »Was ist mit Amelie?«
»Eines Abends ist sie die Klippen hinuntergestürzt. Niemand weiß, wie es dazu hatte kommen können, aber dennoch ist es geschehen. Ihre Familie ist untröstlich gewesen, hat versucht, herauszufinden, wie genau es passiert ist, doch keiner wollte etwas gesehen haben.«
Sienna sah die Frau verwirrt an. »Das ist eine furchtbare Geschichte, wirklich, doch was hat sie mit meinem Problem zu tun?«
Die Frau legte den Kopf schräg, sah Sienna nachdenklich an.
Ein Gedankenblitz schoss durch Siennas Kopf, brachte sie unwillkürlich zum Schmunzeln.
»Glauben Sie etwa an Geister? Wollen Sie mir das damit sagen? Dass die arme, kleine Amelie im Hotel herumspukt, um arglose Touristinnen zu erschrecken?«
Die alte Frau brach in schallendes Gelächter aus, stoppte aber abrupt. »Tut mir leid, mein Lachen war angesichts dieser schlimmen Tragödie wirklich mehr als unangebracht.« Sie seufzte leise, sah Sienna schließlich ernst an. »Und um auf Ihre Frage zu antworten – nein, ich glaube nicht an Geister – genauso wenig wie Sie, nehme ich an. Ich habe Ihnen deswegen von Amelies Schicksal erzählt, weil ich mir vorstellen könnte, dass Sie beide einander gekannt haben. Amelie wäre jetzt genau in Ihrem Alter, die Vermutung liegt also ziemlich nahe, dass Sie ihr früher einmal hier, in diesem Haus, begegnet sind. Und wer weiß, vielleicht sind diese Dinge, die Sie sehen und hören, nur verdrängte Erinnerungen, die sich jetzt mit aller Macht an die Oberfläche kämpfen.«
Sienna ließ die Worte der Frau auf sich wirken, nickte dann. »Klingt irgendwie nachvollziehbar«, gab sie zu.
Die alte Frau lächelte, stand auf. »Ich hoffe, ich hab ein wenig helfen können, doch jetzt ruft mein Bett nach mir.« Sie zwinkerte, sah Sienna warmherzig an. »Und falls Sie Hilfe brauchen, egal welcher Art, wissen Sie, wo ich wohne. Bis Freitag bin ich noch hier.« Sie runzelte die Stirn, klappte den Mund auf, als wollte sie noch etwas sagen, ließ es aber.
Sienna sah sie an. »Was? Bitte, sagen Sie es einfach.«
Die alte Frau schluckte. »Ich habe einigen meiner Patienten früher mit einer Hypnosetherapie sehr gut helfen können und wenn Sie mögen, würde ich das gerne bei Ihnen ausprobieren. Überlegen Sie es sich, Sie wissen, wo Sie mich finden.«
Als Sienna wenige Minuten später ebenfalls wieder auf ihrem Zimmer war, ließ sie sich die Worte der alten Frau noch einmal ganz in aller Ruhe durch den Kopf gehen. Egal, wie sie es auch drehte und wendete, jedes einzelne davon ergab durchaus Sinn.
Sienna seufzte, griff nach ihrem Handy auf dem Nachtkästchen, ging ins Internet, googelte den Namen Amelie sowie den Namen des Hotels. Nachdem sie sich ergebnislos durch einige Links geklickt hatte, verfeinerte sie ihre Suche.
Sie gab Amelie, den Hotelnamen, Boscastle und tödlicher Unfall ein. Ihr Herz machte einen Satz, als die Suchmaschine keine Minute später tatsächlich mehrere Ergebnisse ausspuckte. Siena fing an, zu lesen. Doch all diese Artikel waren auch nicht viel aufschlussreicher als das, was sie bereits von der Frau aus Zimmer neun wusste. Sie wollte schon aufgeben, als sie bei einem der Berichte ein winziges Foto sah. Sie klickte darauf, vergrößerte es, starrte wenig später in das pixelige Gesicht eines niedlichen kleinen Mädchens, das tief in ihrem Innern ein Gefühl der … Angst auslöste.
Und da war noch etwas …
Je länger Sienna die Kleine auf dem Foto anstarrte, desto sicherer war sie, dass es sich dabei um das Mädchen von vorhin handelte. Zwar hatte sie es im Gang nur ganz kurz von der Seite und ansonsten von hinten gesehen, dennoch war sie plötzlich absolut sicher, dass es sich um ein und dasselbe Kind handelte.