I
n Siennas Kopf rauschte es, während sie zurück in ihr Zimmer ging. Benommen setzte sie sich aufs Bett, starrte auf den Bildschirm ihres Handys.
Zuerst Marys Verschwinden, kurz danach Amelies Unfall und schließlich der Abgang ihres Vaters. Und alles geschah in nur einem Sommer. Da musste es doch eine Verbindung geben … Irgendeine …
Doch so sehr Sienna sich auch bemühte, diese zu erkennen, es gelang ihr einfach nicht. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Sie begriff nicht, worin der Zusammenhang zwischen dem Unfall einer Siebenjährigen und dem Verschwinden zweier Erwachsener bestehen konnte.
Hatte ihr Vater vielleicht ein Verhältnis mit Mary gehabt?
Doch wie passte Amelies Unfall in diese Variante?
Und wenn der Unfall für sich allein stand? Nichts mit Mary und ihrem Vater zu tun hatte?
Immerhin munkelten die Leute, Mary sei ihrem Mann davongelaufen. Und auch ihr Vater hatte zumindest damals nicht gerade als treue Seele gegolten. Hatte er sich zusammen mit seiner Geliebten aus dem Staub gemacht?
Sie starrte die Frau auf dem Bildschirm an, fand, dass diese Option durchaus im Bereich des Möglichen lag.
Mary war damals eine wahre Schönheit gewesen, ganz sicher hätte sie ins Beuteschema ihres Vaters fallen können.
Doch wenn Mary vor zwanzig Jahren tatsächlich untergetaucht war, bedeutete dies, dass sie ihren kleinen Jungen beim Vater zurückgelassen hatte, genau wie ihr Vater damals sie.
Sienna schüttelte den Kopf, während sie weiter auf das Foto starrte. Marys Augen wirkten so sanft und gütig, ihr Lächeln ehrlich, sie hatte rein gar nichts an sich, das darauf schließen ließ, dass sie eine Frau war, die einfach so ihr Kind im Stich ließ.
Sienna ließ sich rückwärts ins Kissen sinken, schloss die Augen. Andererseits hätte sie auch niemals für möglich gehalten, dass ihr Vater sie von heute auf morgen verlassen könnte.
Sie seufzte, spürte, dass die Leere in ihrem Magen und der Gin Tonic miteinander rangen. Sie stand auf, angelte sich das Telefon vom Nachtkästchen, bestellte sich bei der Rezeption einen Snack aufs Zimmer. Danach stieß sie unschlüssig die Luft aus, nahm ihr Handy wieder zur Hand.
Sowohl Gerry als auch Victoria, die Besitzerin des Cafés, hatten davon gesprochen, dass damals mehrere Mädchen verschwunden waren. Einige wurden später ermordet aufgefunden, von anderen, unter anderem Gerrys Jessi, nahm man an, sie seien dem Atlantik zum Opfer gefallen.
Sienna fing an zu tippen, erstarrte, als sie wenig später in das einnehmende Gesicht von Jessica B. starrte. Es existierten unzählige Berichte über ihr Verschwinden im Netz, der letzte stammte aus dem vergangenen Jahr. Auf einem der Bilder trug das bildhübsche Mädchen den Schmetterlingsanhänger und laut Bildunterschrift handelte es sich bei dem Foto um die letzte Aufnahme von Jessica vor ihrem Verschwinden.
Sienna spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach.
Gerrys Behauptungen waren eine Sache. Doch live und in Farbe zu sehen, dass seine Worte tatsächlich der Wahrheit entsprachen, eine andere. Sie minimierte die Einträge um Jessica, gab ermordet aufgefunden Boscastle
ein, drückte auf Enter.
Wieder erschienen einige Links mit Fotos von einem jungen Mädchen namens Clara W.
Sienna klickte sich durch die Ergebnisse, überflog das meiste, minimierte die Seiten erneut. Dann ersetzte sie Boscastle durch die Namen einiger Orte in der Umgebung, drückte erneut auf suchen. Und wurde wieder fündig. Diesmal erschien das Foto eines Mädchens mit dem Namen Rowan L. auf dem Bildschirm. Rowan war zwei Jahre vor Jessica verschwunden, doch im Gegensatz zu ihr fand man ihre Leiche wenig später im Wald. Die Polizei ging davon aus, dass es ihr durch einen anderen ersetzten Ex-Lover war, der sie aus Eifersucht ermordete. Sienna erinnerte sich, dass Victoria es heute Nachmittag kurz erwähnt hatte.
Sie gab ermordet Stratton
ein, zuckte zurück, als sich ein Bild von Susans Freundin Patricia langsam vor ihr aufbaute. Sie las sich durch einige der Artikel, spürte, wie sich ihr bei jeder Zeile ein wenig mehr der Magen umdrehte. Schließlich verfeinerte sie ihre Suche erneut, gab Urlauberin Boscastle Umgebung vermisst
ein, drückte auf Start. Und wie befürchtet erschienen auch diesmal etliche Links, die zu ihrer Suche passten. Sie las etwas über eine Sandra aus Deutschland, die vor fünfundzwanzig Jahren spurlos verschwand und deren letztes Lebenszeichen eine Karte vom Crackington Haven Beach an ihre Eltern war.
Sienna fand einen weiteren Eintrag von einer Urlauberin, die seit Jahrzehnten vermisst wurde. Doch auch bei ihr nahm die Polizei an, dass es sich um einen tragischen Badeunfall handelte, nachdem man ihre Kleidung an einem Strand in der Gegend gefunden hatte.
Ein Klopfen ließ Sienna zusammenfahren.
Dann fiel ihr ein, dass sie sich etwas zu essen beim Zimmerservice bestellt hatte.
»Moment«, rief sie und wollte gerade das Handy beiseitelegen, um an die Tür zu gehen, als sie erstarrte. Plötzlich war ihr, als reiße ihr eine eisige Klaue das Herz aus der Brust.
Wieder ein Klopfen.
Panik erfasste Sienna. Erschüttert und genervt zugleich warf sie das Handy aufs Bett, riss ihr Portemonnaie aus der Tasche, zog einen Schein hervor und stapfte zur Tür. Dort warf sie dem Mann vom Zimmerservice das Geld vor die Füße, riss ihm das Tablett aus den Händen, schmiss ihm die Tür vor der Nase zu. Anschließend stellte sie ihr Essen achtlos auf den kleinen Tisch neben dem Fenster ab, ging zum Bett zurück, setzte sich.
In ihrem Kopf drehte sich alles.
Das Atmen fiel ihr schwer.
Ruhig,
mahnte die Stimme in ihrem Kopf. Wenn du jetzt ausrastest, ist auch keinem mehr geholfen.
Sie griff mit hämmerndem Herzen nach ihrem Handy, starrte auf das Bild der jungen Frau auf dem Bildschirm.
Diese Ohrringe …
Sienna war absolut sicher, sie schon einmal gesehen zu haben.
Sie klickte sich zu den Bildern der anderen Mädchen zurück, inspizierte sie genauer, spürte, wie ihr brennende Gallenflüssigkeit aus dem Magen in den Hals schoss.
Sie keuchte, schaffte es gerade rechtzeitig ins Bad, erbrach sich heftig. Nachdem ihr Magen sich etwas beruhigt hatte, ging sie zum Schrank, kramte die Kiste ihrer Mutter mit dem Schmuck darin hervor.
Sie hatte das Gefühl, dass sich das Holz in ihre Haut einbrannte, während sie damit zum Bett zurück ging, ignorierte den Schmerz jedoch, weil sie erkannte, dass er nicht real war.
Sie setzte sich, öffnete entschlossen die Kiste, nahm das Paar Perlenohrringe heraus, verglich es mit den Ohrringen von Sandra aus den Berichten, die sie gelesen hatte. Sie schluckte, spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach.
Sie klickte sich zu den Fotos von Susans Freundin Pat durch, verglich das Freundschaftsband auf einem der Fotos mit dem aus der Kiste vor sich.
Sienna stöhnte.
Weiter,
flüsterte die Stimme unnachgiebig. Du willst es doch wissen, also stell dich der Wahrheit!
Nacheinander verglich sie die Fotos der toten und vermissten Mädchen mit den Schmuckstücken in der Holzkiste, fand zusätzlich zu den Perlenohrringen und dem Freundschaftsband zwei weitere Übereinstimmungen in Form eines Herzanhängers, der Clara gehört hatte, und einer Brosche.
Sie vergrößerte das Bild von Rowan, starrte fassungslos auf den kleinen silbernen Frosch am Kragen ihres Shirts, verglich ihn mit der Brosche in der Kiste vor sich.
Danach las sie die Artikel über ihr Verschwinden und das Auffinden ihrer Leiche noch einmal.
Als Sienna begriff, dass Rowans Ex-Freund damals zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war, weil man ihn für die grauenvolle Tat zur Verantwortung gezogen hatte, wischte sie angewidert und erschüttert zugleich die Kiste vom Bett, stieß einen verzweifelten Schrei aus.
Er hallte von den Wänden des Zimmers wider, machte ihr nur zu deutlich bewusst, dass sie schon seit Langem, heute aber definitiv, die Grenze ihrer Belastbarkeit überschritten hatte.
»Ich schaff das alles nicht mehr«, flüsterte sie mit erstickter Stimme, dann brach sie in Tränen aus.